Alexej Arbatov von der russischen Akademie der Wissenschaften ist ein erfahrener russischer Rüstungskontrollexperte. Er leitet unter anderem das Programm für Nichtverbreitung von Atomwaffen im Moskauer Zentrum der Carnegie-Stiftung; 1993–2003 war er Abgeordneter der Staatsduma und nahm 1990 an START-1-Verhandlungen teil. Arbatov veröffentlichte im Dezember 2018 beim Moskauer Carnegie-Zentrum eine Einschätzung der Auseinandersetzung um den INF-Vertrag, beschreibt waffentechnische Details über beiderseitige Vorwürfe und macht Lösungsvorschläge. Aus russischer Sicht beschreibt er die wahrscheinlich dramatischen Folgen des Endes des INF-Vertrages: nicht nur das Ende des gesamten Rüstungskontrollsystems, sondern auch das wahrscheinliche Zerbrechen des Atomwaffensperrvertrages bei der NPT-Überprüfungskonferenz im Jahre 2020. Denn wenn die Kernvoraussetzung des NPT — die vertragliche Verpflichtung der Atomwaffenstaaten zur nuklearen Abrüstung — erneut und massiv verletzt wird, ist das Risiko des Ausstiegs von atomwaffenfreien Staaten aus dem NPT sehr hoch — “insbesondere nachdem die UN-Generalversammlung im Juli 2017 den Vertrag über das Atomwaffenverbot mit großer Mehrheit angenommen hatte”. Im folgenden dokumentieren wir Auszüge aus seinem Artikel, die wir ins Deutsche übersetzt haben (wb, fs):
Die anhaltende Krise im Zusammenhang mit dem INF-Vertrag ist ein deutliches Warnsignal über den katastrophalen Zustand der amerikanisch–russischen Rüstungskontrollarchitektur. Seit einigen Jahren agieren Moskau und Washington mit Vorwürfen gegeneinander über INF-Vertragsverletzungen, obwohl sie sehr unterschiedliche Haltungen zum Vertrag haben.
Die USA bezweifeln zwar nicht den Nutzen des INF-Vertrages (mit Ausnahme einiger Amtsträger und Politiker, die ideologisch gegen jedes Rüstungskontrollabkommen sind), aber niemand betrachtet den Vertrag als Priorität; denn er ist für die Sicherheit der europäischen und asiatischen Verbündeten der USA viel wichtiger als für ihre eigene Sicherheit.
Im Unterschied dazu hat die russische Führung gemeinsam mit den meisten Vertretern der politischen Elite und Strategie-Experten des Landes in den letzten zehn Jahren immer wieder Zweifel am Nutzen des INF-Vertrags geäußert. Russlands jüngstes, 2016 veröffentlichtes außenpolitische Konzept erwähnte nicht einmal den INF-Vertrag in seiner Liste der Rüstungskontrollabkommen, zu deren Einhaltung sich Russland verpflichtet hat.
Wahrscheinlich entgegen den Moskauer Erwartungen, hat die Trump-Administration sich nicht nur auf die die Seite des US-Kongresses gestellt, der Russland der INF-Vertragsverletzungen vorwirft, sondern hat auch für seinen ersten Verteidigungshaushalt Mittel für die Erforschung der Entwicklung neuer nuklearer Mittelstreckenraketen bereitgestellt, während er gleichzeitig seine´ Absicht erklärte, sich aus dem Vertrag zurückzuziehen und neue wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland zu verhängen – eine Abfolge von Ereignissen, die in der Abrüstungsgeschichte einmalig sind.
Abgesehen von den direkt entstehenden Gefahren für Russlands Sicherheit, kann der Ausstieg der USA aus dem INF-Vertrag eine Kettenreaktion auslösen, die den Zusammenbruch der gesamten Rüstungskontrollarchitektur zwischen USA und Russland zur Folge hätte. Wenn der INF-Vertrag ausläuft, könnten sowohl der Neue START-Vertrag also auch der Nichtverbreitungsvertrag NVV bzw. Atomwaffensperrvertrag ebenso wie der Vertrag über das umfassende Atomtestverbot (CTBT) auf dem Müllhaufen der Geschichte landen.
Die Welt steht vor einem neuen Wettrüsten mit nuklearen Angriffswaffen, das ausgeweitet wird auf ein Wettrüsten mit offensiv wie defensiv einsetzbaren konventionellen strategischen, extrem treffgenauen Waffensystemen sowie auf die Entwicklung von Weltraum- und Cyberwaffen.
Dieses mehrdimensionale bilaterale Wettrüsten würde höchstwahrscheinlich multilateral werden und China, die NATO-Mitgliedstaaten, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea einschließen. Außerdem wird das unvermeidbar die Weiterverbreitung von Atomwaffen zur Folge haben, die sich an den Grenzen Russlands konzentrieren, und den Iran, die Türkei, Ägypten, Saudi-Arabien, Südkorea und Japan dazu zwingen, jeweils für ihre eigene Sicherheit zu sorgen.
Da die USA und Russland in den letzten Jahren die Zusammenarbeit bei der Sicherung von Nuklearmaterial und -techniken eingestellt haben, könnte eine Atomwaffe früher oder später in die Hände von Terroristen geraten. Russland wird wahrscheinlich eines der wichtigsten Angriffsziele des Terrorismus werden wegen seiner neuen Führungsrolle im Kampf gegen den internationalen Terrorismus in Syrien, die Verletzlichkeit seiner geopolitischen Lage und die Durchlässigkeit seiner südlichen Grenzen.
Obwohl der INF-Vertrag in Russland häufig kritisiert wurde, ist er für die heutige Sicherheit des Landes noch wichtiger als vor dreißig Jahren. Als Reaktion auf die Stationierung russischer Waffensysteme, die nach dem INF-Vertrag verboten seien, werden die USA die Stationierung von Nuklearwaffen mittlerer Reichweite wieder aufnehmen – nicht wie bisher in Westeuropa, sondern in Polen, im Baltikum und in Rumänien, von wo aus sie bis zum Ural zuschlagen können. Die USA könnten auch ihre Pershing-II- und Cruise Missile-Mittelstreckenraketenprogramme wiederauflegen und als weiterentwickelte Systeme in Europa stationieren. Dies würde Moskau dazu zwingen, erhebliche Mittel bereitzustellen, um die Überlebensfähigkeit seiner Nuklearwaffen und seiner Befehls-, Kontroll- und Informationssysteme zu sichern, und das in einer Zeit, in der die ökonomische Situation Russlands den Abbau der Verteidigungslasten erforderlich macht.
Die USA werden alles tun, um Russland für den Untergang des INF-Vertrags verantwortlich zu machen, das mehrere Jahre lang die Grundlagen dafür geschaffen hätte. Sie werden auf jedem Forum zum Sündenbock erklärt werden, auf der UN-Generalversammlung über die Gipfeltreffen der G7 und G20 bis hin zu Treffen des NATO-Russland-Rats und der EU-Russland-Treffen. Diese Entwicklung wird die Mitglieder der NATO dazu veranlassen, die Verteidigungsausgaben zu erhöhen und die Entwicklung von offensiven wie defensiven Waffen, unter Einschluss von Raketenabwehrsystemen enger zu koordinieren.
Die internationale Gemeinschaft wird sich weiterhin an den INF-Vertrag als Symbol für die Beendigung des Kalten Krieges und den ersten Schritt zu tatsächlicher atomarer Abrüstung erinnern; das macht den Untergang des INF-Vertrags zu einem Symbol der Rückkehr zu Konfrontation und Wettrüsten des Kalten Krieges.
Man kann sich unschwer vorstellen, wie die Länder, die an der Überprüfungskonferenz zum Nichtverbreitungsvertrag/NVV im Jahr 2020 teilnehmen werden, darauf reagieren werden, insbesondere nachdem die UN-Generalversammlung im Juli 2017 den Vertrag über das Atomwaffenverbot mit großer Mehrheit angenommen hatte.
INF-Verifikationsprobleme sind zu lösen
Anstatt Vorwürfe auszutauschen, sollten die USA und Russland gemeinsam weitere Verifikationsmaßnahmen entwickeln, um die gegenseitigen Verdächtigungen abzubauen. Moskau wirft Washington vor, mit “Hera” eine ballistische Rakete zu benutzen, die von Russland als Mittelstreckenrakete bezeichnet wird, um ihre Raketenabwehrsysteme zu testen; das ist aus russischer Sicht ein Verstoß gegen den INF-Vertrag. Und Russland behauptet, bewaffnete US-Drohnen mit einer Reichweite von mehr als 500 Kilometern würden den INF-Vertrag verletzen.
Russlands größte Sorge sind aber die US-Raketenabwehrbasen, die 2016 in Rumänien stationiert wurden und die USA in Polen stationieren wollen. Diese werden vermutlich dem Mk 41 Vertical Launching System entsprechen,das auf US-amerikanischen Marineschiffen nicht nur für ballistische Raketen des Typs RIM-161 SM-3, sondern auch zum Abschuss vonTomahawk-Marschflugkörpern mit einer Reichweite von bis zu 2.500 Kilometern eingesetzt wird.
Aus dem offiziellen Vorwurf des russischen Außenministerium im Jahr 2017 an die USA, den INF-Vertrag „grob verletzt“ zu haben, kann man schlussfolgern, dass Russland unsicher ist, ob solche Startsysteme in der Lage sind, Tomahawk-Marschflugkörper zu starten, und ob nicht heimlich anstelle der Abwehrraketen des Typs RIM-161 SM-3 heimlich Tomahawk-Marschflugkörper stationiert werden, so dass seegestützte Marschflugkörper zu landgestützten Marschflugkörpern werden, die nach dem INF-Vertrag verboten sind. Der INF-Vertrag verbietet außerdem Startvorrichtungen für Langstrecken-Marschflugkörper.
Die USA ihrerseits haben Russland vorgeworfen, es habe Landgestützte Marschflugkörper vom Typ 9M729, angeblich mit einer Reichweite von mehr als 500 Kilometern getestet und wahrscheinlich auf mobilen Trägersystemen für Iskander-Kurzstreckenraketen stationiert, was gegen den INF-Vertrag verstoße.
Mit etwas gutem Willen wäre es möglich, diese Probleme ziemlich schnell zu lösen, indem man eine Expertengruppe einsetzt, die zusätzliche Überprüfungsmaßnahmen entwickeln soll. Gerade zum Zweck, sich auf unvorhergesehene rasche Entwicklung der militärischen Hardware vorzubereiten,– war 1987 die Special Verification Commissionvereinbart worden.
Zu Russlands Vorwürfen: nach dem INF-Vertrag können beide Vertragsparteien Raketen mit mittlerer Reichweite benutzen, um ihre Raketenabwehrsysteme zu testen. Es würde völlig ausreichen, diese Regel in Bezug auf bestimmte Raketen zum Testen von Raketenabwehrsystemen zu präzisieren, , um evtl. Grenzen zusetzen, wie viele solcher Raketen gelagert und wie häufig sie abgefeuert werden können.
Langstrecken-Drohnen entsprechen in der Tat der Definition von landgestützten Marschflugkörper. Drohnen kehren aber letztendlich zur Basis zurück und sind unter diesem Aspekt eine Analogie zu Militärflugzeugen, nicht zu Marschflugkörpern. Das Verbot von Drohnen, die von den USA, Russland und anderen Ländern entwickelt werden, ist unmöglich. Daher ist es sinnvoller, die einschlägigen Artikel des Vertrags zu präzisieren und die Rechtsnormen an neue Waffensysteme anzupassen.
Die Raketenabwehrbasen in Rumänien und Polen sind ein komplizierteres Problem, das durchaus lösbar ist. Zum Beispiel könnten beide Seiten der Stationierung von Startsystemen der USA zustimmen, die sich sichtbar von denjenigen unterscheiden, die technisch den Tomahawk-Marschflugkörpern ähneln. Oder die USA könnten es Russland erlauben, kurzfristig eine vereinbarte Anzahl von Inspektionen vor Ort durchzuführen, um dort zu festzustellen, dass an den Stationierungsorten ballistische Abwehrraketen und keine landgestützten Marschflugkörper vorhanden sind. Zugegeben, dies würde die Zustimmung auch der Stationierungsländer zu russischen Inspektionen erforderlich machen – eine Zustimmung, die sie wahrscheinlich nur geben würden, wenn sie von den USA energisch darum gebeten werden.
Die Beschwerden aus den USA sind durchaus komplex, aber auch überwindbar. Zum Beweis seiner Behauptung, dass die Reichweite des 9M729-Raketensystems weniger als 500 km beträgt, könnte Russland die USA einladen, die gleiche Art von kurzfristigen Verdachts-Inspektionen bei den neuen landgestützten Marschflugkörper-Einheiten in Russland durchzuführen, um anhand z.B. der Länge der Startrampen (oder Raketenantriebe) festzustellen, ob deren Reichweite unterhalb der Vertragsschwelle liegt.
Die Haupthindernisse für solche Lösungen sind politischer Natur, angesichts des generellen Konfrontationscharakters der bilateralen Beziehungen und der kriegerischen Stimmungslage in beiden Ländern. In den USA erkennt praktisch niemand an, wie problematisch die Stationierung von US-Raketenabwehrbasen in Osteuropa ist, und jede Diskussion über US-Vertragsverletzungen wird als Versuch Russlands zurückgewiesen, von den ihm vorgeworfenen Vertragsverletzungen abzulenken. In der Tat wollen einige Kreise keine einvernehmliche Lösung für die Probleme zwischen USA und Russland finden und nutzen die Vorwürfe lieber ihre politischen Kampagnen, um die Führung von Wladimir Putin zu diskreditieren.
In Russland werden die vorgeschlagenen Lösungen – insbesondere US-Inspektionen auf Iskander-Stationierungsorten – auf heftigen Widerstand vor allem von Kritikern des INF-Vertrags und allgemein von russischen Skeptikern der Rüstungskontrolle zwischen USA und Russland stoßen.
Sollten aber die nuklearen Abrüstungs- und Nichtverbreitungsverträge in den kommenden 10-15 Jahren zusammenbrechen, könnten wirtschaftliche, militärische und andere Entwicklungen zur erheblichen Schwächung der russischen nuklearen Abschreckung und Verteidigungsfähigkeiten führen, die durch militärische Modernisierungsprogramme der letzten zehn Jahre geschaffen wurde … Aber es gelingt, das US-amerikanisch-russischen Rüstungskontroll-Regime zu erhalten und zu verbessern, könnten die militärischen Investitionen der letzten Jahre Russlands Sicherheit, internationales Ansehen als Großmacht erhalten bleiben. .
Deshalb sollte Moskau nicht auf einen Führungswechsel in Washington warten, sondern selbst die Initiative zur konstruktiven Lösung dieser Krise beitragen. Aufgrund seiner unverzichtbaren Bedeutung für die Gesamtarchitektur der Nuklearen Rüstungskontrollverträge zwischen USA und Russland, muss der INF-Vertrag in den bilateralen Beziehungen höchste Priorität bekommen, noch vor der Ukraine, Syrien und allen anderen Angelegenheiten, wie wichtig sie auch sein mögen.
Es ist viel einfacher, Rüstungskontrollabkommen zum Zusammenbruch zu bringen, als sie auszuhandeln und abzuschließen. Die Lehre aus der Geschichte ist jedoch, dass die Ablehnung von Rüstungskontrollabkommen niemals die Sicherheit erhöht, sondern ihr immer nur geschadet hat. Das ist eine historische Lektion, die Moskau und Washington beachten sollten.
— Informelle Übersetzung der Redaktion (wb). Der Text wurde in englischer Sprache am 26.10.2918 vom Carnegie Moscow Center publiziert: The Danger of Withdrawing From the INF Treaty
Zur Person: Alexei Arbatov ist Leiter des Zentrums für Internationale Sicherheit am Institut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen, Russische Akademie der Wissenschaften; Leiter des Programms zur Nichtverbreitung im Moskauer Zentrum der Carnegie Endowment for International Peace; 1993–2003 war er Abgeordneter der Staatsduma; 1990 Teilnehmer an START-1-Verhandlungen. Er ist Autor zahlreicher Bücher, Artikel und Papiere zu Fragen der globalen Sicherheit, der strategischen Stabilität, der Abrüstung und der russischen Militärreform.