Wolfgang Richter, Oberst a.D. und Wissenschaftler in der SWP-Forschungsgruppe Sicherheitspolitik, analysiert in SWP Aktuell Nr. 63 Hintergründe und Folgen des von Präsident Trump angekündigten Ausstiegs aus dem 1987 zwischen KPdSU-Generalsekretär Gorbatschow und US-Präsident Reagan vereinbarten INF-Vertrags.
Seine Bewertung:
…Washingtons unilaterales Handeln widerspricht jüngsten Positionen der Nato. Sollten die Vereinigten Staaten den INF-Vertrag verlassen, würde ein weiterer Eckpfeiler der europäischen Sicherheitsordnung und der globalen nuklearen Ordnung kollabieren. Unberechenbarkeit und Destabilisierung würden zunehmen. Europa muss der Gefahr eines neuen nuklearen Wettrüstens entschieden entgegentreten. Es sollte darauf bestehen, gegenseitige Anschuldigungen transparent und kooperativ zu verifizieren und, wenn nötig, zusätzliche Stabilisierungsmaßnahmen zu vereinbaren, um den Vertrag zu erhalten oder die Folgen der Aufkündigung zu begrenzen.
Richter bewertet den 1988 in Kraft getretenen INF-Vertrag “als wichtigen Wendepunkt auf dem Weg zur Beendigung des Kalten Krieges und als Schlüsselelement der europäischen Sicherheitsarchitektur.” Bereits 1991 war die – verifizierte – Zerstörung “der 846 amerikanischen und 1846 sowjetischen INF-Systeme”, der gesamten Infrastruktur und aller Abschussgeräte abgeschlossen.
Im einzelnen beschreibt er zwar die gegenseitigen “Vorwürfe der Vertragsverletzungen”, aber benennt auch die im Vertrag vorgesehenen “Möglichkeiten zu einer kooperativen Lösung der Streitfragen”, die keineswegs erschöpft seien:
So erlaubt es der Vertrag, Flugkörper oder Raketenstufen von festen Starteinrichtungen aus über INF-Reichweiten zu erproben, sofern sie nicht für bodengestützte INF-Systeme verwendet werden. Demnach wäre es durchaus vertragskonform, seegestützte Marschflugkörper (SLCM) oder Raketenstufen für Interkontinentalraketen mit Hilfe fester Startgeräte zu testen, etwa auf dem Testgelände Kapustin Jar.
Im Gegenzug müssten die USA in Abstimmung mit Rumänien und künftig mit Polen russische Vor-Ort-Inspektionen in Aegis-Ashore-Stellungen zulassen. Moskau könnte sich so davon überzeugen, dass die dort verwendeten Mk-41-Launcher technisch nur für den Start von Abwehrraketen vorgesehen sind und dass für sie keine SLCM oder GLCM verfügbar sind. …
Trilateraler INF-Vertrag mit China?
Nicht von der Hand zu weisen ist das geostrategische Argument, dass nach 1987 in Süd- und Ostasien neue Nuklearmächte mit INF-Fähigkeiten entstanden sind und dass das INF-Arsenal der Volksrepublik China angewachsen ist. Freilich soll dieses Arsenal nicht nur Russland, sondern vor allem die USA vor einer regionalen Intervention abschrecken.
Daher deutete Präsident Trump an, dass China sich an einem künftigen INF-Vertrag beteiligen müsse. … Ein gemeinsamer russisch-amerikanischer Versuch, den INF-Vertrag zu multilateralisieren, ist 2007 in den Vereinten Nationen gescheitert. Weder China noch Frankreich oder Großbritannien zeigten Interesse an dem Vorschlag.
Ob es seither Konsultationen zwischen Peking und Washington zum INF-Dossier gegeben hat, ist öffentlich nicht bekannt geworden, aber wenig wahrscheinlich. Vielmehr hat die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums, Hua Chunying, ungehalten auf die öffentliche Einlassung Trumps reagiert: Es sei »nicht zu rechtfertigen und unvernünftig«, anderen die Schuld für den unilateralen Rückzug der USA aus dem INF-Vertrag zuzuschieben. China werde eine Erpressung nicht akzeptieren. Schon seit den 1990er Jahren hat die Volksrepublik die Position vertreten, dass zunächst die großen Nuklearmächte auf das Niveau der kleineren abrüsten müssten, bevor man eine Beteiligung an multilateralen Verträgen zur nuklearen Abrüstung erwägen könne.
Tatsächlich verfügen die USA und Russland über mehr als 90% aller Nuklearwaffen weltweit. China besitzt ungefähr 280 bis 300 Nuklearsprengköpfe, etwa 60 landgestützte ballistische Raketen mit interkontinentaler Reichweite und circa 1600 landbewegliche Kurz- und Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper, die weit überwiegend mit konventionellen Sprengköpfen eingesetzt werden. Etwa 90% davon liegen im INF-Reichweitenspektrum.
Sollte ein trilateraler Vertrag auf ein Verbot landgestützter INF-Systeme abzielen, verlöre China fast seine gesamte Fähigkeit zur regionalen Machtprojektion mit weitreichenden Abstandswaffen. Ohne sie könnteChina seine Regionalstrategie der weiträumigen Abriegelung des Ost- und Südchinesischen Meeres gegen eine US-Intervention nicht aufrechterhalten. Die USA hingegen müssten nichts aufgeben, da sie über keine landgestützten INF-Träger in der Region verfügen und sich weiterhin auf ihre globale Raketen-, Luft- und Seeüberlegenheit verlassen könnten.
Es ist also kaum anzunehmen, dass sich China auf einen solchen »Deal« einlassen würde. …
Der Trump-Administration muss klar gewesen sein, dass Peking das geforderte trilaterale Abkommen nur ablehnen kann. Deshalb liegt es nahe, dass Trump mit den vagen Hinweisen auf China lediglich seine Absicht rechtfertigen wollte, den INF-Vertrag zu kündigen.
Ein neuer INF-Rüstungswettlauf würde die Sicherheit Europas und Asiens, nicht aber des amerikanischen Kontinents bedrohen. Sollten die USA eine regionale INF-Stationierung anstreben, wären sie mit Ausnahme Guams auf die Zustimmung potentieller Stationierungsländer angewiesen. …
Schlussfolgerungen
Der Ausstieg der USA aus dem Vertrag über die Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag) und dem Iranabkommen (JCPOA) sowie die Erosion des Vertrags über konventionelle Rüstungskontrolle in Europa (KSE-Vertrag) haben die internationale Sicherheitsarchitektur bereits schwer belastet. Ein Kollaps des INF-Vertrags würde einen weiteren Eckpfeiler der europäischen Sicherheitsordnung und der globalen nuklearen Ordnung zerstören. Einem regionalen nuklearen Rüstungswettlauf in Europa und Ostasien ständen dann keine rechtlichen Beschränkungen entgegen. Dies birgt die Gefahr zusätzlicher Destabilisierung in einer Sicherheitskrise, in der das gegenseitige Vertrauen auf den tiefsten Stand seit den 1960er Jahren gesunken ist.
Die Ausgangslage für die bald notwendige Verlängerung des New-Start-Vertrags wäre dann denkbar ungünstig. Sollte sie misslingen, wären ab 2021 die strategischen Atomwaffen der USA und Russlands erstmals seit 1968 keinen rechtsverbindlichen Begrenzungen unterworfen. Die ohnehin geringe Glaubwürdigkeit der Großmächte in puncto Erfüllung der Abrüstungsverpflichtungendes Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) würde weiteren erheblichen Schaden nehmen. Damit wüchse auch der Druck auf den NVV. Europa wäre mit einer neuen »Nachrüstungsdebatte« konfrontiert, die in die gegenseitige nukleare Bedrohung durch eine Neustationierung von INF münden könnte. Keines dieser Szenarien ist im Interesse Deutschlands und Europas.
Allerdings sind keineswegs schon alle Optionen ausgeschöpft, die INF-Krise kooperativ zu bewältigen. So ist noch nicht hinreichend geklärt, ob und inwieweit es sich bei den wechselseitigen Vorwürfen der Vertragsverletzung um Fehleinschätzungen der Quellenlage oder um unterschiedliche Vertragsinterpretationen handelt, die durch technische Zusatzprotokolle oder gemeinsame Erklärungen einvernehmlich entschärft werden könnten….
Zunächst wären daher substantielle gemeinsame Schritte zu vereinbaren, um den Vertrag zu erhalten und, falls erforderlich, zu modifizieren. So könnten sich die USA und Russland in einer politischen Erklärung zum grundlegenden Wert des INF-Vertrags bekennen und ihren Willen bekunden, seine Bestimmungen einzuhalten und offene Fragen kooperativ zu klären….
Die Bundesregierung sollte sich in der Nato für diesen Ansatz stark machen und dazu eine breite Koalition gleichgesinnter Staaten bilden. Sie sollten sich auf das Ziel verständigen, keine europäische Zustimmung für eine neue Stationierung von INF-Systemen in Europa zu geben, solange Russland keine solchen Systeme disloziert…..
Quelle: Wolfgang Richter – Der INF-Vertrag vor dem Aus – Ein neuer nuklearer Rüstungswettlauf könnte dennoch verhindert werden – SWP-Aktuell 2018/A 63, November 2018 / Zum Volltext (PDF)