Ort und Zeitpunkt des Trump-Putin-Treffens am 16.07.2018 in Helsinki waren von hoher symbolischer Bedeutung: Sie trafen sich einen Tag nach dem 55. Jahrestag von Willy Brandts Strategie des “Wandels durch Annäherung”, die Egon Bahr als “deutschen Beitrag zur amerikanischen Strategy of Peace” am 15.07. 1963 in Tutzing verkündete. Und sie trafen sich an dem Ort, an dem 1975 US-Präsident Gerald Ford und Leonid Breschnew, der Generalsekretär der KPdSU, gemeinsam mit 35 Staats- und Regierungschefs die KSZE-Schlussakte von Helsinki unterzeichneten, um den Ost-West-Konflikt zu entschärfen.
Wir danken Rolf Mützenich, dass er unserer Initiative für eine “neue Entspannungspolitik JETZT” seine Überlegungen zur Verfügung gestellt hat, wie Deutschland — nach dem Gipfeltreffen zwischen Trump und Putin in Helsinki und im Geiste der von Willy Brandt und Egon Bahr entwickelten Ost- und Entspannungspolitik — eigene Beiträge zum Abbau der seit Jahren eskalierenden neuen Ost-West-Konfrontation leisten könnte:
Pragmatismus in der Russlandpolitik erfordert Neue Initiativen zur Erneuerung der Entspannungspoltik
Wer heutzutage für neue Initiativen in der Russlandpolitik wirbt, bekommt nicht selten umgehend das Etikett des „naiven Russland-Verstehers“ verpasst. Deshalb vorweg: Ja, der russische Staat hat das Völkerrecht gebrochen, führt in der Ostukraine und in Syrien Krieg, versucht die EU und die westlichen Demokratien zu destabilisieren und ist womöglich sogar Schuld an der Wahl Donald Trumps. Es wird nicht besser dadurch, dass auch andere Staaten Völkerrecht gebrochen haben und mehr und mehr auf das Recht des Stärkeren setzen. Entscheidend sind die Fragen: Was folgt daraus und wie geht man mit dieser hochexplosiven und schwierigen Ausgangslage um? Gießt man weiter Öl ins Feuer oder versucht man, die Spirale der gegenseitigen Beschuldigungen, Vorhaltungen und Denkverbote zu überwinden?
Ich bin überzeugt: Wir brauchen eine Politik, die mit neuen Initiativen und Formaten dazu beiträgt, Blockaden aufzubrechen und aus Sackgassen rauszukommen. Die gegenseitigen Beschuldigungen von „Kalten Kriegern“ und „Russlandnostalgikern“ helfen nicht weiter. In unseren Beziehungen zu Russland müssen wir versuchen, wieder neu zu denken und zugleich die Erfahrungen des Kalten Krieges mit einbeziehen.
Auch wenn sich die Entspannungspolitik der 1960er und 1970er Jahre nicht eins zu eins auf die heutige Situation übertragen lässt, brauchen wir genau die Art von visionärem Pragmatismus, die deren Erfolg ausmachte. Eine Politik, die von der Akzeptanz und einer schonungslosen Analyse des Status quo ausgeht und versucht, diesen mit einer pragmatischen Politik der kleinen Schritte zu überwinden. Die von Egon Bahr konzipierte und von Willy Brandt umgesetzte Ost- und Entspannungspolitik war genau dies: eine Politik der kleinen Schritte, die auch immer wieder von Rückschlägen begleitet wurde. Sie begann mit dem Berliner Passierscheinabkommen und endete mit der Charta von Paris und dem Ende der europäischen Teilung. Und sie wäre ohne eine konsequente Haltung und Akzeptanz durch den Westens nicht möglich gewesen. Der Harmel-Bericht der NATO brachte beide Seiten auf den Punkt: Statt eines kompromisslosen “Entweder-Oder” zwischen Abschreckung und Entspannung definierte dieser eine “Doppelstrategie” von militärischen Fähigkeiten und einer “Politik der ausgestreckten Hand”, die sich als visionär erwies. Wir brauchen – heute wie damals – eine ideologiefreie Durchbrechung von Blockaden und Denkverboten bei schonungsloser Benennung der Gegensätze. Es geht nicht darum, sich die russische Seite schönzureden. Und eine vollständige Aufhebung der Sanktionen kann es erst dann geben, wenn Russland das Abkommen von Minsk umgesetzt hat. Hier sind im Übrigen auch die Verantwortlichen in der Ukraine nach wie vor in der Pflicht. Es führt aber auch kein Weg daran vorbei, dass wir Russland brauchen und es deshalb notwendig ist, auch gemeinsame Interessen zu definieren. Dies muss zusammen mit unseren europäischen Partnern – und nicht über deren Köpfe hinweg – geschehen.
Der Vorwurf, der Westen habe Russland keine Angebote gemacht, ist ganz offensichtlich falsch. Gerade Deutschland hat eine Unzahl von Initiativen und Angeboten auf den Weg gebracht, wie die Wiederbelebung des NATO-Russland-Rates, die Einrichtung eines roten Telefons zwischen Brüssel und Moskau, die ablehnenden Haltung gegenüber einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens, die Modernisierung der Instrumente der militärischen Vertrauensbildung nach dem Wiener Dokument, einen Neuansatz bei der konventionellen Rüstungskontrolle (KSE) sowie die Stärkung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) unter deutschem Vorsitz. Diese Foren gilt es auch weiterhin zu nutzen.
Um den Stillstand zu überwinden, sollten wir jedoch neue Kooperationsformen zwischen den euro-atlantischen Institutionen und den Organisationen großer Teile der ehemaligen Sowjetunion auf den Weg bringen. In diesem Sinne hat bereits die OSZE während der deutschen Ratspräsidentschaft eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit in einem gemeinsamen europäisch-eurasischen Wirtschaftsraum zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit gemacht.
Warum nimmt man Moskau nicht beim Wort und bietet ihm neue Beziehungen und Kontakte zu den von ihm dominierten Institutionen wie der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und der Organisation für den Vertrag über kollektive Sicherheit (OVKS)an? Dies hätte zum einen den Vorteil, dass die Interessenkonflikte „regionalisiert“ würden und sich nicht nur Russland und „der Westen“ gegenüberstünden, sondern die EU und die EAWU (Russland, Belarus, Kasachstan, Armenien und Kirgistan) und – unter dem Dach der OSZE – die NATO und die OVKS (Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Belarus und Russland). Zum anderen käme man damit dem russischen Bedürfnis nach „Augenhöhe“ entgegen.
Eine Zusammenarbeit zwischen der EU und der EAWU wird bislang von einer Reihe von EU-Mitgliedsländern aus politischen Gründen abgelehnt. Sie könnte jedoch dazu beitragen, dass die Konflikte in der Region, die durch die vermeintlich miteinander konkurrierenden Konzepte der „Östlichen Partnerschaft“ der EU und der Eurasischen Wirtschaftsunion entstanden sind, schrittweise wieder abgebaut werden können. Ein solcher Prozess könnte letztlich wirtschaftlich für alle von Vorteil sein. Gerade Länder wie die Ukraine könnten mittel- bis langfristig davon profitieren und zu einem Scharnier zwischen beiden Wirtschaftsräumen werden. Dies könnte – parallel zum Normandie-Prozess – mit dazu beitragen, neues Vertrauen aufzubauen.
Im Gegensatz zu einer langen Reihe früherer Integrationsvorhaben hat sich die EAWU im postsowjetischen Raum inzwischen fest etabliert. Die EFTA-Länder Schweiz und Norwegen verhandeln bereits seit einigen Jahren ein Freihandelsabkommen mit der Eurasischen Wirtschaftsunion. Auch China führt Gespräche und sieht die EAWU im Rahmen seines Seidenstraßenprojekts als wichtigen Transitraum auf dem Weg nach Europa. Was fehlt ist ein klares Mandat für die EU-Kommission, einen entsprechenden Dialog zu beginnen. Es geht um einen realistischen Ansatz und einen langen Atem.
In Russland scheint derzeit die Einsicht zu wachsen, dass angesichts der tiefen wirtschaftlichen Krise und der Folgen der westlichen Sanktionen eine Entspannung und enge Zusammenarbeit mit der EU für die eigene Modernisierung notwendig ist. Zumal sich die Hoffnung, die VR China würde Russland als gleichwertigen Partner akzeptieren, mittlerweile als haltlos erwiesen hat.
Die OVKS wiederum ist die einzige rein militärische Regionalorganisation im postsowjetischen Raum, die über ein breites Spektrum an Institutionen zur Reaktion auf unterschiedliche Arten externer Bedrohungen verfügt. Doch bisher fehlt es an einer gemeinsamen Zielsetzung, die die Mitgliedsstaaten mit ihren unterschiedlichen Interessen verbinden könnte. Die OVKS hat allerdings durchaus Potenzial und Möglichkeiten zur transregionalen Kooperation im Bereich der Bekämpfung neuer Sicherheitsbedrohungen.
Warum initiiert man nicht unter dem Dach der OSZE gemeinsame Arbeitsfelder von NATO und OVKS zu vertrauensbildenden Maßnahmen und Rüstungskontrolle? Die militärischen Risiken müssen reduziert werden, zum Beispiel durch Beschränkungen bei Manövern, Truppenstationierungen in den gefährdeten Zonen, funktionsfähige Kommunikationskanäle und effektive Inspektionen sowie durch eine Stärkung des Wiener Dokuments zu Vertrauens- und Sicherheitsbildenden Maßnahmen. Es gilt zudem, die stockende oder abgebrochene Rüstungskontrolle wieder aufzunehmen und auf unbemannte Flugkörper, die Raketenabwehr, zielgenaue Präzisionswaffen und Cyberfähigkeiten auszudehnen. Der INF-Vertrag muss erhalten werden, auch wenn dies eine Neubewertung der Raketenabwehrprogramme der NATO in Europa erfordert.
Die deutsche Diplomatie muss jede Chance auf eine Verständigung und Kooperation mit Russland sorgfältig ausloten – mit unseren Partnern und frei von Illusionen. Parallel dazu können Parteien, zusammen mit gleichgesinnten Bewegungen, diesem Prozess den Boden bereiten. Kluge Außenpolitik kann nicht warten, bis überall Demokratien existieren, sondern sie bewährt sich gerade im Umgang mit Andersdenkenden – dies- und jenseits des Atlantiks.
Zur Person: Dr. Rolf Mützenich ist Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und für die Bereiche Außen, Verteidigung, Menschenrechte und wirtschaftliche Zusammenarbeit zuständig.
Weitere Infos:
- Nach Helsinki-Gipfel: Ärzteorganisation fordert Dialog und Deeskalation
- Katrina vanden Heuvel über Trump in Helsinki: Surreales vom Realen unterscheiden
- TheNation-Sonderausgabe: Warum wir einen grundlegenden Wandel der US-Außenpolitik brauchen
- Handelsblatt: Warum sich Trump und Putin ausgerechnet in Helsinki treffen
- Josef Braml : Was folgt nach dem Trump-Putin-Gipfel?
- 20.07.2018 — Dimitri Trenin (Carnegie Moskau) zum Trump-Putin-Gipfel