“The Near Nuclear War of 1983” ist der Titel einer im Dezember 2022 im Monatsmagazin der Air & Space Forces Association veröffentlichten Analyse über die Frage, wie weit die USA 1983 – weit mehr als 1962 während der Kuba-Krise – auf dem Wege in den “Beinahe-Atomkrieg” mit der UdSSR waren. Und der Autor zieht die Parallele zu den Gefahren einer nuklearen Eskalation des Ukraine-Krieges.
Der Autor heißt Brian J. Morra und war viele Jahre Air Force Geheimdienstoffizier und Luft- und Raumfahrtmanager; er weiß offenbar genau, worüber er schreibt und was er kritisiert:
“Gleichwohl blieb die Panik von 1983 bisher weitgehend unbekannt und unerforscht – und somit haben Politiker, Militärs und Geheimdienstler, eine wichtige Gelegenheit verpasst, aus den Ereignissen vom Herbst 1983 wichtige Lehren für aktuelle Herausforderungen zu ziehen, insbesondere dafür, wie verhindert werden kann, dass der Krieg in der Ukraine zu einem Atomkrieg eskaliert.“
Während der Kuba-Krise und der Stationierung von sowjetischen Mittelstreckenraketen 1962 gab es – mit aus heutiger Sicht “uralten” Kommunikationstechnologien wie Telefon und Telex – offenbar weit mehr Kommunikation zur Beendigung der Konfrontation und der Atomkriegsgefahr als im Herbst 1983.
Denn 1983 war die militärische wie politische Kommunikation zwischen USA und UdSSR offenbar schlecht, insbesondere während der Krise in Fernost (Abschuss von KL007), Fehlalarme (im sowjetischen Frühwarnsystem) und während des Able Archer 83 Manövers der NATO (mit der Übung von Atomkriegsszenarien und Übungen zur Vorbereitung der Stationierung von US-Mittelstreckenwaffen in Westeuropa). Morra dazu:
“…Der Direktor des CIA, Casey, war davon überzeugt, dass wir beinahe in einen Atomkrieg hineingestolpert wären, und informierte Präsident Reagan.…
Der Präsident notierte in einem Tagebucheintrag vom Juni 1984, wie schockiert er war, als er erfuhr, dass die Sowjets tatsächlich glaubten, der Westen plane einen atomaren Erstschlag.
Der fast völlige Mangel an Kommunikation zwischen Moskau und Washington hatte sich als fruchtbarer Boden für katastrophale Fehleinschätzungen erwiesen.
1983 waren die beiden Atomsupermächte wie Boxer mit verbundenen Augen, die auf einen Todeskampf zusteuerten. Fast niemand auf der US-Seite bemerkte dies. ...”
Dem Untertitel des Berichts zufolge war es “… die Air Force, die dabei half, eine nukleare Katastrophe abzuwenden und die Welt zu retten.”
Und bereits in der Einleitung verweist Brian J. Morra auf die höchste Aktualität des Problems, zu dessen Lösung die Lehren aus den beiden “beinahe nuklearen” Krisen mit Mittelstreckenraketen 1962 und 1983 gezogen werden müssten, um – wie damals – die Eskalation zum Atomkrieg durch Kommunikation, Deeskalation und Rüstungskontrolle abzuwenden. “Heute wie 1983 findet eine offene Kommunikation zwischen Washington und Moskau viel zu selten statt”.
Im folgenden einige Auszüge aus “The Near Nuclear War of 1983”, für die Redaktion von Wolfgang Biermann ins Deutsche übertragen:
The Near Nuclear War of 1983 – by Brian J. Morra, Dec. 2, 2022
„Das ist kein Bluff.“ Die Warnung des russischen Präsidenten Wladimir Putin im September 2022 machte seine Bereitschaft offenbar, im Krieg in der Ukraine „alle uns zur Verfügung stehenden Waffensysteme“ – einschließlich nuklearer – einzusetzen. Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges und 60 Jahre nach der Kubakrise ist das ernste Schreckgespenst eines Atomkriegs wieder im Bewusstsein der Bevölkerung.
Wochen später sagte Präsident Joe Biden bei einer Spendenveranstaltung den Anhängern der Demokratischen Partei: „Seit Kennedy und der Kubakrise haben wir die Aussicht auf ein nukleares Armageddon nicht mehr erlebt.“
Was Biden – ebenso wie Politiker, Experten und Reporter aus dem gesamten politischen Spektrum – vergaß, war, dass Amerika und die Sowjetunion auch 1983 – und nicht nur 1962 – am Rande eines Atomkriegs standen. Den meisten Amerikanern ist nicht bewusst, dass die Welt 1983, mitten in der ersten Amtszeit von Präsident Ronald Reagan, einem nuklearen Armageddon nahe kam.
Die Ereignisse von 1983 waren mindestens so gefährlich wie die Kuba-Raketen-Krise im Oktober 1962.
Gleichwohl blieb die Panik von 1983 bisher weitgehend unbekannt und unerforscht – und somit haben Politiker, Militärs und Geheimdienstler, eine wichtige Gelegenheit verpasst, aus den Ereignissen vom Herbst 1983 wichtige Lehren für aktuelle Herausforderungen zu ziehen, insbesondere dafür, wie verhindert werden kann, dass der Krieg in der Ukraine zu einem Atomkrieg eskaliert.
Anders als im Fall von 1962, als Präsident John F. Kennedys Reden im Fernsehen umfassend verbreitet wurden und die Welt alarmierten, spielte sich die Krise von 1983 weitgehend außerhalb der Öffentlichkeit ab.
Die Amerikaner wissen gut, wie Kennedy und seine Admnistration während der gesamten Krise im formellen wie informellen Kontakt mit dem Kreml standen – und wie die dramatische Konfrontation zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion im UN-Sicherheitsrat der Vereinten Nationen laufend im Fernsehen übertragen wurde.
Die meisten Ereignisse von 1983 aber blieben jaufgrund der Geheimhaltung im Dunkeln, bis erst 2015 einige Regierungsdokumente schließlich freigegeben wurden. Ein weiterer Unterschied zu 1962 ist, dass sich die Ereignisse von 1983 nicht auf 13 Tage der Kubakrise begrenzten. Vielmehr spielten sich die Ereignisse um Kuba über einen viel längeren Zeitraum ab. 1962 verkündete das Weiße Haus öffentlich seine Version der Lösung der Krise durch die Vereinbarung zwischen John F. Kennedy und Nikita Chruschtschow.
Doch im Jahre 1983 wurde dem Weißen Haus erst dann bewusst, dass es sich um eine Atomwaffenkrise handelte, als diese bereits vorüber war. Tatsächlich war den Geheimdiensten das volle Ausmaß der Krise von 1983 damals noch nicht klar. Die verschiedenen Teilkrisen wurden still und leise, abseits der Öffentlichkeit, gelöst.
Die Verflechtung der Krisen von 1983 war in Moskau besser bekannt als in Washington, hauptsächlich aufgrund seines globalen, vom KGB geleiteten Geheimdienstprogramms. Um diese Geschichte zu verstehen, ist es wichtig, die Denkweise des Kremls Ende der 1970er Jahre zu verstehen.
Die alternde Führung der Kommunistischen Partei in Moskau war besorgt, dass sich das globale Kräfteverhältnis unaufhaltsam zugunsten des Westens verschob. Die Sowjets waren sich bewusst, dass sie an vielen Fronten in Rückstand gerieten – beim Wirtschaftswachstum, bei der technologischen Entwicklung und in der Geopolitik. Aufgrund dieser Faktoren fürchtete der Kreml auch um seine Fähigkeit, militärisch mit dem Westen Schritt zu halten.
Moskaus betagte Führer waren besessen von einem möglichen Überraschungsangriff aus dem Westen. Die meisten von ihnen hatten persönliche Erinnerungen an den Schock der deutschen Operation Barbarossa, den verheerenden Überraschungsangriff auf die UdSSR im Jahr 1941. Sie fürchteten im Herbst 1983, der Westen könnte einen atomaren Erstschlag à la Barbarossa durchführen.
Um eine Wiederholung der strategischen Überraschung von 1941 zu verhindern, leitete der KGB im Mai 1981 die Operation RYaN ein, die größte sowjetische Geheimdienstaktion des Kalten Krieges.
Deren Zweck: geheime westliche Vorbereitungen für einen nuklearen Erstschlag aufzudecken. Das russische Akronym RYaN bedeutet „nuklearer Raketenangriff“ und impliziert einen Überraschungsangriff. Tatsächlich war der KGB zum Schluss gekommen, dass der Westen wahrscheinlich einen Erstschlag ausführen würde, und beauftragte Geheimdienstoffiziere auf der ganzen Welt, Fakten zu finden, die diese Schlussfolgerung stützen.
Der Hauptarchitekt der Operation war der ehemalige KGB-Vorsitzende Juri Andropow, der im November 1982 zum Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ernannt wurde. Andropow fürchtete die Fähigkeit des Westens – und vermutete seine Bereitschaft –, einen vernichtenden atomaren Erstschlag zu starten.
Generalsekretär Andropow hatte gegenüber Präsident Reagan tiefes Misstrauen, und sein Misstrauen schien gerechtfertigt, als Reagan im März 1983 die Sowjetunion als „Reich des Bösen“ bezeichnete und behauptete, die russische Regierung sei der „Brennpunkt des Bösen in der modernen Welt“.
Kurz darauf, im selben Monat, enthüllte Reagan erstmals die Existenz der Strategischen Verteidigungsinitiative (SDI), des ehrgeizigen Plans zur Verteidigung der Erde vor Interkontinentalraketen mit weltraumgestützten Abwehrsystemen. Das Konzept wurde sofort „Star Wars“ getauft, in Anlehnung an die Filmreihe, deren dritter Teil noch nicht erschienen war.
Diese beiden Reden brachten Andropows Sorgen auf den Höhepunkt, und er ordnete eine Verdoppelung der RYaN-Bemühungen an. Die westliche Presse war eher skeptisch gegenüber Star Wars, aber die sowjetische Führung glaubte, dass die Initiative umgesetzt werden könnte und dass sie einen extrem destabilisierenden Vorteil für den Westen bieten würde. Wenn die strategische Verteidigungsinitiative erfolgreich wäre, so der Kreml, könnten die USA ungestraft einen nuklearen Erstschlag ausführen.
Die Sorgen des Kremls konzentrierten sich auch auf die NATO und die geplante Stationierung neuer nuklear bewaffneter ballistischer Raketen vom Typ Pershing II in Westdeutschland und neuer nuklear bewaffneter bodengestützter Marschflugkörper in Großbritannien. Der Kreml betrachtete beide Waffensysteme als Erstschlagsdrohung, die die sowjetische Führung praktisch ohne Vorwarnung enthaupten könnte.
Vor diesem Hintergrund erlebten die Sowjets 1983 eine Reihe von Ereignissen, die die Prämisse der Operation RYaN und die Paranoia des Kremls zu bestätigen schienen.
Im selben Monat, als Reagan seine Reden über das „Reich des Bösen“ und „Star Wars“ hielt, leitete die Pazifikflotte der US-Marine eine groß angelegte Übung im Nordpazifik ein. Sie wurde FleetEx ’83 genannt und sollte das sowjetische Militär sowohl alarmieren als auch in Verlegenheit bringen.
Die Übung neigte sich am 2. April 1983 dem Ende zu, als trägergestützte Kampfflugzeuge der US-Marine sowjetische Militäreinrichtungen auf den Kurilen überflogen. Für Moskau passten die Überflüge der Marine in das RYaN-Muster. Waren diese Verletzungen des sowjetischen Luftraums ein Versuch der Amerikaner, eine Grundlage für einen nuklearen Erstschlag zu schaffen?
Moskau verurteilte in einem formellen diplomatischen Akt die Überflüge und erhöhte sofort die Luftverteidigungsalarmstufe im sowjetischen Fernen Osten auf das höchste Niveau.
Im gesamten Fernen Osten hielten sowjetische Luftabwehreinheiten während der Sommermonate 1983 die höchste Alarmbereitschaft aufrecht. Kein sowjetischer Oberst wollte derjenige sein, der nicht reagierte, sollte es zu einer weiteren Verletzung des russischen Luftraums kommen.
…I m Juli warnte der Geheimdienst der 5. Luftwaffe Admiral William J. Crowe, den Kommandeur des US-Pazifikkommandos, dass jedes Flugzeug, das von den Sowjets als Grenzverletzer eingestuft wurde – selbst ein ziviles Verkehrsflugzeug – einer großen Gefahr ausgesetzt wäre.
Die Sowjets befanden sich am 1. September 1983 noch immer in höchster Alarmbereitschaft, als der Flug 007 der Korean Air Lines, der von New York über Anchorage, Alaska nach Seoul flog, aufgrund eines Navigationsfehlers über dem Nordpazifik vom Kurs abkam.
Das koreanische Flugzeug verletzte den sowjetischen Luftraum, überflog versehentlich die sowjetische Atom-U-Boot-Basis in Petropawlowsk und überquerte das Ochotskische Meer, eine Hochburg sowjetischer U-Boote mit ballistischen Raketen.
Das sowjetische Luftabwehrsystem war sich der Identität des Flugzeugs nicht sicher und versuchte mehrmals, den Eindringling abzufangen. Als KAL 007 den sowjetischen Luftraum verlassen wollte, fing schließlich ein sowjetischer Su-15-Jäger der Luftabwehr die 747 der Korean Air Lines in der Nähe der Insel Sachalin ab und schoss sie ab. Dabei starben alle 269 Menschen an Bord, darunter 62 Amerikaner.
Für den Kreml passte der KAL-Zwischenfall in das RYaN-Muster. Entweder handelte es sich um einen geschickten amerikanischen Aufklärungsflug oder um eine gezielte Provokation, die einen Vorwand für einen Atomkrieg schaffen sollte. Bis heute glauben viele russische Politiker, dass der KAL-Flug ein gezielter Akt amerikanischer Aggression war.
Der Abschuss der KAL brachte die ohnehin schon angespannten Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion auf einen Höhepunkt.
Die offizielle Kommunikation zwischen Moskau und Washington kam praktisch zum Erliegen – ganz anders als 21 Jahre zuvor während der Kubakrise, als Präsident Kennedy häufig offizielle Mitteilungen mit Generalsekretär Chruschtschow austauschte und über seinen Bruder, Justizminister Robert Kennedy, die Einrichtung eines inoffiziellen Kommunikationskanals mit dem sowjetischen Botschafter in den Vereinigten Staaten anordnete. Doch im Herbst 1983 sprachen Washington und Moskau nicht miteinander.
Am 3. September 1983 umkreiste ein Aufklärungsflugzeug der US Navy vom Typ EP-3 die Absturzstelle von KAL 007, als die Sowjets fälschlicherweise davon ausgingen, dass das Navy-Flugzeug den russischen Luftraum verletzt hatte. Zwei MiG-23-Kampfflugzeuge wurden angewiesen, das US-Flugzeug abzuschießen.
General Charles L. Donnelly, Kommandant der US-Streitkräfte in Japan und der 5. Luftflotte, befahl einer Staffel von vier F-15, die MiG-23 abzufangen. Gleichzeitig warnte die 5. Luftflotte die EP-3 vor der Bedrohung.
Der Pilot der EP-3 stürzte sich auf die Wellenkämme, um den russischen Jägern auszuweichen, und nach einer angespannten Phase erreichte die EP-3 den japanischen Luftraum und war vor sowjetischen Angriffen sicher. Als die F-15 ihren Abfangflug auf die MiG-23 abgeschlossen hatten, befahl Donnelly ihnen, den Flug ohne Angriff auf die sowjetischen Jäger abzubrechen und in ihre Kampfluftaufklärungsumlaufbahn zurückzukehren. Als ein anderer General vor Ort Donnellys Entscheidung, die MiGs nicht anzugreifen, gezielt in Frage stellte, antwortete Donnelly: „Ich glaube nicht, dass ich heute Nachmittag den Dritten Weltkrieg beginnen werde.“ [Der Autor war Augenzeuge dieses Wortwechsels.]
Generalmajor James C. Pfautz, der ranghöchste Geheimdienstoffizier des Air Staff – vergleichbar mit der heutigen Air Force A-2 – unterstützte die Geheimdienstanalyse des 55. Air Force, wonach der sowjetische Abschuss von KAL 007 ein tragischer Fehler und kein vorsätzlicher Mord war.
Pfautz bereitete ein Briefing vor, in dem er seine Einschätzung darlegte, dass die Sowjets eine Reihe schwerwiegender Fehler begangen hatten, die zum Abschuss geführt hatten. Doch das Briefing des Air Staff fand bei der Führung der Geheimdienste in Washington, darunter auch bei CIA-Direktor William J. Casey, keinen Anklang. … Am 5. September bezeichnete Präsident Reagan in einer landesweit im Fernsehen übertragenen Rede das „Massaker von Korean Air … ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.
In den folgenden Tagen und Wochen analysierte der US-Geheimdienst das Ereignis weiter und kam schließlich zu dem Schluss, dass der Air Force-Geheimdienst die Geschichte von Anfang an richtig dargestellt hatte. …
Auf höchster Ebene verschärften sich jedoch die konkurrierenden amerikanischen und sowjetischen Narrative, und in Washington und Moskau verhärteten sich die Fronten.
Außenminister George P. Schultz hielt eine leidenschaftliche Rede vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, in der er “geheime Beweise” für den sowjetischen Angriff auf KAL 007 vorlegte, was die globalen Spannungen auf den Siedepunkt trieb.
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Wochen später, am frühen Morgen des 27. September, erhielt das Nationale Raketenabwehrzentrum der UdSSR von seinen neuen Raketenerkennungssatelliten Warnungen, dass die Vereinigten Staaten Interkontinentalraketen vom Luftwaffenstützpunkt Grand Forks in North Dakota abgefeuert hätten (eine Quelle nennt den Luftwaffenstützpunkt F.E. Warren in Wyoming).
Der sowjetische Wachkommandant in dieser Nacht, Oberstleutnant Stanislaw Petrow von den Luftverteidigungsstreitkräften, war ein Signalverarbeitungsingenieur – kein typischer Diensthabender Offizier – und sprang für einen kranken Kameraden ein.
Petrow besaß einzigartige Kenntnisse über die Stärken und Schwächen des neuen Satellitenwarnsystems der Sowjets und kam zu dem Schluss, dass die Startberichte – die in mehreren, erschütternden Wellen eintrafen – Fehlalarme sein mussten. Petrow riet seiner Führung von einem Vergeltungsangriff ab.
Petrow – der zufällige Wachkommandant – war wirklich der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Sowjetische technische Experten brauchten Monate, um herauszufinden, was in dieser Nacht schiefgelaufen war. Schließlich kamen sie zu dem Schluss, dass höchst ungewöhnliche atmosphärische Bedingungen über dem nördlichen Teil der Vereinigten Staaten dazu führten, dass das Sonnenlicht von hohen Wolken so reflektiert wurde, dass die Sensoren der Satelliten die Reflexionen mit Interkontinentalraketen-Starts verwechselten.
Petrow musste innerhalb von Minuten, nicht Monaten, eine Einschätzung abgeben. Hätte der Kreml Petrow ignoriert und stattdessen auf den Phantomangriff der amerikanischen Interkontinentalraketen reagiert, wäre die Welt in einen globalen Atomkrieg gestürzt worden.
Der Petrov-Zwischenfall blieb im Westen bis in die späten 1990er Jahre nach dem Fall der Sowjetunion unbekannt. Die Nachricht sickerte durch, als ehemalige sowjetische Offiziere sich frei fühlten, über das erschütternde Ereignis zu sprechen und sogar zu schreiben. In einem Interview mit der BBC im Jahr 2013 erinnerte sich Petrov daran, wie die Monitore seiner Uhr aufleuchteten und zuerst vor einem Abschuss und dann vor einem bevorstehenden Angriff warnten.
Erst eine Rakete, dann noch eine und noch eine, bis schließlich fünf Einschläge gezählt wurden. „Es gab keine Regeln darüber, wie lange wir nachdenken durften, bevor wir einen Angriff meldeten“, erinnerte er sich. „Aber wir wussten, dass jede Sekunde des Zögerns wertvolle Zeit kostete, die die militärische und politische Führung der Sowjetunion brauchte.
Und dann traf ich meine Entscheidung. Ich nahm den Telefonhörer ab, sprach mit meinen Vorgesetzten und meldete, dass der Alarm falsch war. Aber ich selbst war mir bis zum allerletzten Moment nicht sicher. Ich wusste ganz genau, dass niemand meinen Fehler korrigieren könnte, wenn ich einen gemacht hätte.“
Anders als Donnelly, der für seinen geschickten Umgang mit der Tragödie von KAL 007 letztlich einen vierten Stern erhielt, wurde Petrov für seine Nichtbefolgung der Protokolle bestraft; er wurde nie wieder befördert. Aber er erhielt schließlich den Dresdner Friedenspreis und wurde 2014 Gegenstand eines Films, eines Dokumentar-Dramas mit dem Titel „Der Mann, der die Welt rettete“.
Das letzte Kapitel der Kriegskrise ereignete sich im November 1983. Die NATO hatte ab jenem September eine Reihe ineinandergreifender Militärübungen durchgeführt, die in einer Atomkriegsübung namens Able Archer 83 gipfelten.
Sie war dazu gedacht, nukleare Kommando-, Kontroll- und Waffenfreigabeverfahren zu üben – auch für die neue Generation ballistischer Raketen und Marschflugkörper, die in Europa stationiert werden sollten. Für die Planer und Teilnehmer der Able-Archer-Übung war die Übung robust, aber Routine.
Aber für die Sowjets schien die Übung eine Tarnung für einen echten nuklearen Erstschlag auf sowjetisches Territorium zu sein.
Sie reagierten darauf, indem sie ihre strategischen und taktischen Nuklearstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzten, eine systemweite sowjetische Nuklearwaffenalarmstufe von enormem Ausmaß.
Brigadegeneral. General Leonard H. Perroots, der damalige Geheimdienstchef der US Air Forces Europe (USAFE), bemerkte die sowjetischen Vorbereitungen und war zutiefst besorgt. …
Aufgrund seiner umfassenden Kenntnisse über die Sowjets kam Perroots zu dem Schluss, dass es klug wäre, die Situation dadurch zu deeskalieren, dass die US-Streitkräfte sich unauffällig verhielten.
Der gefährlichste Moment kam, als Able Archer 83 seinen Höhepunkt erreichte: die simulierte Aufforderung an die nationale Kommandobehörde, Atomwaffen freizugeben.
Perroots drängte seine Führung, die Able-Archer-Übung fortzusetzen und sie so abzuwickeln, als ob jenseits des Eisernen Vorhangs nichts Ungewöhnliches passierte. Minter stimmte zu.
Doch das volle Ausmaß der sowjetischen Vorbereitungen auf einen Atomkrieg war den Amerikanern nicht klar, und es dauerte Monate, die Geheimdienstinformationen zusammenzutragen und eine vollständige Einschätzung zu erstellen.
Selbst dann gab es innerhalb des Geheimdienstes Meinungsverschiedenheiten darüber, wie nahe wir einem Atomkrieg gekommen waren.
Der Direktor des CIA, Casey, war davon überzeugt, dass wir beinahe in einen Atomkrieg hineingestolpert wären, und informierte Präsident Reagan und die Verantwortlichen des Nationalen Sicherheitsrats.
Der Präsident notierte in einem Tagebucheintrag vom Juni 1984, wie schockiert er war, als er erfuhr, dass die Sowjets tatsächlich glaubten, der Westen plane einen atomaren Erstschlag.
Der fast völlige Mangel an Kommunikation zwischen Moskau und Washington hatte sich als fruchtbarer Boden für katastrophale Fehleinschätzungen erwiesen.
1983 waren die beiden Atomsupermächte wie Boxer mit verbundenen Augen, die auf einen Todeskampf zusteuerten. Fast niemand auf der US-Seite bemerkte dies.
Bemerkenswert die Hinweise, die dem sowjetischen Volk gegeben wurde:
Anfang November 1983 hielt Grigori Romanow, Mitglied des sowjetischen Politbüros, eine Ansprache an die Bevölkerung, in der er die geopolitische Lage in düsteren Worten beschrieb. Sowjetische Bürger wurden angewiesen, an Zivilschutzübungen teilzunehmen, darunter Evakuierungen in Atombunker in Moskau und anderen Großstädten. Fabriken, Büros und Schulen führten Zivilschutzübungen durch.
Der sowjetische Generalstab sagte den jährlichen Einsatz sowjetischer Armeetruppen im Herbst zur Erntehilfe ab und behielt diese Truppen stattdessen in der Garnison.
In Ostdeutschland wurden sowjetische Infanterieeinheiten mit Rationen und Munition für zwei Wochen ins Feld geschickt, und Jagdbomber der sowjetischen Luftwaffe in Ostdeutschland und Polen wurden mit Atomwaffen beladen, eine höchst ungewöhnliche Aktion.
Die sowjetischen Atomstreitkräfte blieben in den ersten Monaten des Jahres 1984 in unterschiedlichem Ausmaß weiterhin in Alarmbereitschaft. Andropow starb im Februar 1984 und die Operation RYaN wurde später im Jahr beendet.
Perroots wurde zum Generalmajor befördert und wurde leitender Geheimdienstoffizier im Luftwaffenstab, wo er Jim Pfautz ablöste. Kurz darauf wurde Perroots zum Generalleutnant befördert und 1985 zum Direktor der Defense Intelligence Agency ernannt.
Nach seiner Pensionierung verfasste er einen geheimen Abschlussbericht, in dem er die Ereignisse der Able-Archer-83-Krise aus seiner einzigartigen Perspektive schilderte.
Sein Bericht von 1989 veranlasste das President’s Foreign Intelligence Advisory Board (PFIAB), eine umfassende Untersuchung der Ereignisse von 1983 einzuleiten. Der Bericht des PFIAB, der Perroots’ Vorgehen lobte, wurde 1990 fertiggestellt und 2015 schließlich freigegeben.
In der Studie des PFIAB äußerte General Perroots ernsthafte Bedenken hinsichtlich der unzureichenden Behandlung der sowjetischen Kriegsangst durch die Geheimdienste.
Der Perroots-Bericht selbst wurde im Februar 2021 vom Außenministerium freigegeben, doch nachdem die CIA auf eine Neueinstufung geklagt hatte, entschied ein Bundesrichter am 4. Oktober 2022, dass er tatsächlich neu eingestuft werden sollte.
Aus dem Beinahe-Atomkrieg von 1983 können für die heutigen Führer im Ukraine-Konflikt mehrere Lehren gezogen werden:
- Eine sinnvolle Kommunikation zwischen den Gegnern ist unerlässlich.
- Sie war 1962 vorhanden und trug dazu bei, einen Krieg zu vermeiden;
- 1983 fehlte sie, und diese Abwesenheit von Kommunikation hätte beinahe zum Atomkrieg geführt.
- Ohne eine solche Kommunikation war es dem persönlichen Urteil einiger Personen überlassen, Bedrohungen und Risiken einzuschätzen und den Mut zu haben, umsichtig zu handeln.
- Ruhe und Geduld sind entscheidend.
Donnelly wusste, wann er Druck auf die Sowjets ausüben und wann er ihn zurückziehen musste. Er handelte logisch und ließ sich weder von seinen Emotionen noch von denen seiner Vorgesetzten beeinflussen.
Er wartete geduldig, wie sich Situationen entwickelten, und ergriff gleichzeitig die entsprechenden Maßnahmen, um die amerikanischen Interessen bei Bedarf verantwortungsvoll verteidigen zu können. Wenn es angebracht war, die Lage zu deeskalieren, zögerte er nicht, dies zu tun, trotz einiger gegenteiliger Ratschläge.
Die Kenntnis des Feindes und der eigenen Streitkräfte ist entscheidend.
Oberst Petrov verstand, dass es höchst unwahrscheinlich war, dass die Vereinigten Staaten mit einer Handvoll Interkontinentalraketen von einem Luftwaffenstützpunkt aus einen nuklearen Erstschlag starten würden.
Er verstand, dass ein amerikanischer Angriff eher ein Generalangriff sein würde, der die Sowjets überwältigen sollte.
Petrov nutzte sein Wissen über die Stärken und Schwächen der Überwachungskapazitäten der UdSSR, um eingehende Berichte aus allen verfügbaren Quellen zu bewerten, anstatt sich allein auf die Satellitenerfassung zu verlassen.
Ebenso verließ sich Perroots bei der Reaktion der Sowjets auf Able Archer 83 auf seine Erfahrung und sein Bauchgefühl. Sein Kommandant wiederum vertraute auf Perroots’ Urteilsvermögen und Erfahrung.
Spiegelbilder des eigenen Gegners sind äußerst gefährlich. Während der Krise herrschte in Washington allgemein die Ansicht, dass die sowjetische Führung unmöglich glauben könne, dass die NATO einen nuklearen Erstschlag starten würde. Die Vorstellung schien offensichtlich absurd und wurde weitgehend abgetan.
Infolgedessen spielte die Geheimdienst-Community zahlreiche Anzeichen einer massiven sowjetischen Atomwarnung herunter.
1983 setzte sich in Washington das „Gruppendenken“ durch, und der PFIAB-Bericht von 1990 warf vor, es habe „unsere Beziehungen zur Sowjetunion unbeabsichtigt auf die Probe gestellt“.
So viel auf dem Spiel stand 1962, so war es 1983 noch viel mehr.
Zu diesem Zeitpunkt übertrafen Größe und Fähigkeiten der amerikanischen und sowjetischen Atomstreitkräfte die von 1962 um Längen. Wären die Atomwaffenarsenale beider Seiten 1983 voll im Einsatz gewesen, wäre ein nuklearer Weltuntergang unvermeidlich gewesen.
Nur die Sachkenntnis und das Urteilsvermögen von Luftwaffengeneralen in Japan, Washington und Deutschland – und die ähnliche Sachkenntnis eines russischen Oberstleutnants – haben die Welt vom Rande eines Atomkriegs zurückgeholt.
Um Russlands gegenwärtige nukleare Bedrohungen zu begegnen, sind Kenntnisse über den Gegner, aktive Kommunikation, gesundes Urteilsvermögen und der Mut erforderlich, harte Entscheidungen zu treffen, die eine Eskalation verhindern. Mit seiner Aussage „das ist kein Bluff“ demonstrierte Putin klassisches „Konfrontieren“ – ein Beispiel für die russische Doktrin „Eskalation zur Deeskalation“. Es bedarf einer entschlossenen, aber maßvollen Reaktion, die Moskau Auswege bietet, damit es sich vom Abgrund zurückziehen kann. Wenn Putin glaubt, dass ein Rückzieher eine existenzielle Bedrohung für sein Regime darstellt, wird er weniger kompromissbereit sein.
Heute wie 1983 findet eine offene Kommunikation zwischen Washington und Moskau viel zu selten statt.
Bis Oktober 2022 hatten Verteidigungsminister Lloyd J. Austin und sein russischer Amtskollege, Verteidigungsminister Sergei Shoigu, seit der Invasion der Ukraine am 24. Februar nur zweimal miteinander gesprochen. Die Erfahrungen der Geschichte legt nahe, dass häufigerer Kontakt ratsam wäre.
über den Autoren: Brian J. Morra ist ein ehemaliger Geheimdienstoffizier der Luftwaffe und war leitender Luft- und Raumfahrtmanager. Er ist der Autor des historischen Romans „The Able Archers“, der bei Koehler Books erschienen ist und die wahren Ereignisse der sowjetischen Kriegsangst von 1983 dramatisiert. Legendary Entertainment hat sich die Option gesichert, The Able Archers als Spielfilm oder Fernsehserie zu produzieren. Blackstone Publishing hat kürzlich ein Hörbuch herausgebracht. Weitere Informationen zu The Able Archers finden Sie unter www.brianjmorra.com.
Quelle: Brian J. Morra- The Near Nuclear War of 1983, How the Air Force helped avert a nuclear catastrophe and save the world, in Air&Space Forces Magazine, Dec. 2, 2022, Auszüge für die Redaktion von Wolfgang Biermann ins Deutsche übertragen
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