von Wolfgang Biermann
In seiner Eröffnungsrede der NPT-Überprüfungskonferenz am 01.08.2022 erklärte der UN Generalsekretär u.a.:
„Die Bedrohung durch einen Atomkrieg ist heute so real wie auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges. …. Wir haben bisher sehr viel Glück gehabt. Aber Glück ist keine Strategie. Es schützt auch nicht vor den geopolitischen Spannungen, die überkochen und zu einem Atomkrieg führen könnten. … Mittlerweile befinden sich weltweit fast 13.000 Atomwaffen im Arsenal.
Die einzige Garantie dafür, dass Atomwaffen niemals eingesetzt werden, ist ihre Beseitigung. – Mittlerweile befinden sich weltweit fast 13.000 Atomwaffen in den Arsenalen. Gleichzeitig steigt das Weiterverbreitungsrisiko, und die Mechanismen zur Verhinderung einer Eskalation sind geschwächt”, sagte Guterres. Er warnte vor einem erneuten Scheitern der NPT-Überprüfungskonferenz, wenn sie (ähnlich wie 2015) nicht zum Konsens über die Bekräftigung der Abrüstungsverpflichtung der fünf offiziellen Atommächte komme. Damit würden die „Mechanismen zur Verhinderung einer Eskalation geschwächt…”
(Ein „Nebenergebnis“ des Scheiterns der NPT-Überprüfungskonferenz 2015 war der Beschluss der UN-Generalversammlung – gegen die Stimmen der Atommächte und ihrer Verbündeten – den Atomwaffenverbotsvertrag (TPNW) auszuhandeln, der für seine rund 60 Vertragsstaaten seit Januar 2021 gültiges Völkerrecht ist.)
Die mit der Aggression Russlands gegen die Ukraine am 24.02.2022 eingeläutete Zeitenwende hat bei einigen PolitikerInnen zum Wiederaufleben des Glaubens an die nukleare Abschreckung beigetragen.
Allerdings war die Welt mit existierender „Abschreckung“ bereits mehrfach auf der Schwelle zum Atomkrieg – der nur durch ernsthafte Verhandlungen über atomare Abrüstung verhindert wurde:
1.) 1962 erste Phase der Entspannungspolitik durch Rüstungskontrolle und Wandel durch Annäherung
Am 28. Oktober 1962 wurde die Eskalation der Kuba-Krise zum Atomkrieg in letzter Minute durch die erste „Rüstungskontrollvereinbarung“ zwischen Washington und Moskau gestoppt: Damals vereinbarte John F. Kennedy (entgegen dem Rat seiner meisten Berater) mit Nikita Chruschtschow den Abzug der sowjetischen Atomraketen aus Kuba sowie der (damals offiziell verschwiegenen) amerikanischen Atomraketen aus der Türkei und Italien.
Kennedy begründete diese Erfahrung, dass die Eskalation der Kuba-Krise zur „Vernichtung beider Länder binnen 24 Stunden hätte führen können“, in seiner berühmten Rede am 10. Juni 1963 über die „Strategie des Friedens“ anstelle der „PaxAmericana, die der Welt durch amerikanische Kriegswaffen aufgezwungen wird (…): … Letzten Endes besteht unsere grundlegendste Gemeinsamkeit darin, dass wir alle auf diesem kleinen Planeten leben. …Vor allem müssen die Atommächte Konfrontationen abwenden, bei denen ein Gegner nur die Wahl zwischen demütigendem Rückzug und Atomkrieg hat. Würde man im atomaren Zeitalter einen solchen Kurs einschlagen, wäre dies lediglich ein Beweis für den Bankrott unserer Politik – oder dafür, dass wir der ganzen Welt den kollektiven Tod wünschen,“ erklärte Kennedy.
Zwar wurde Kennedy am 22. November 1963 ermordet, 1964 wurde Nikita Chruschtschow gestürzt. Aber USA und UdSSR einigten sich in den folgenden Jahren auf eine Reihe von Rüstungskontrollabkommen zur Kriegsverhütung und Begrenzung des Wettrüstens mit Atomwaffen, Raketen und Raketenabwehrsystemen.
Die „Strategy for Peace“ war Ausgangspunkt für die „deutsche“ Entspannungspolitik, die Willy Brandt und Egon Bahr im Juli 1963 in Tutzing vorstellten: „Wandel durch Annäherung“, erstmals praktiziert im Dezember 1963 mit dem ersten Passierscheinabkommen.
Am 28. Oktober 1969 begann die „heiße Phase“ der Entspannungspolitik mit Willy Brandts Amtsantritt als Bundeskanzler. Bevor er Egon Bahr zu Verhandlungen nach Moskau schickte, räumte er zwei politische Steine aus dem Weg:
Am 28. November 1969 unterzeichnete Deutschland den Atomwaffensperrvertrag, den Willy Brandt als Bundesaußenminister der Großen Koalition 1967-1969 mit ausgehandelt hatte, aber dessen Unterzeichnung er nicht gegen den Widerstand des CDU/CSU durchsetzen konnte. Danach gab Willy Brandt den Weg frei für die Unterzeichnung des „Erdgas-Röhren-Vertrags“ in Essen am 1. Februar 1970 durch Vertreter der deutschen Wirtschaft und der UdSSR. Damit endeten die seit 1962 nach Beschluss des NATO-Rates verhängten Sanktionen gegen die UdSSR („Röhren-Embargo“).
Egon Bahr verhandelte in der ersten Jahreshälfte in Moskau über die Überwindung unvereinbarer Rechtspositionen, die die Normalisierung der Beziehungen Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn seit Jahrzehnten blockierten. Erst nach zähen Verhandlungen gelang die Einigung über den Moskauer Vertrag im August 1970, dessen Formulierungen in die anderen Ostverträge und die KSZE-Schlussakte einflossen.
2.) 1979 ff.: Zweite Phase der Entspannungspolitik durch Gemeinsame Sicherheit
Während der 70er Jahre verschlechterten sich die Ost-West-Beziehungen dramatisch: Rüstungskontrollgespräche stagnierten, die Supermächte verhandelten primär über strategische Waffen, während in Europa ein neuer Rüstungswettlauf mit begrenzt einsetzbaren Atomwaffen begann (Stichworte: „Neutronenbombe“, SS 20, „Nachrüstung“) Mit der sowjetischen Intervention in Afghanistan 1979, dem NATO-Doppelbeschluss vom Dezember 1979, dem Kriegsrecht in Polen kehrte der „neue“ Kalte Krieg nach Europa zurück.
Bei der Verkündung des Raketenabwehrprogramms SDI erklärte Präsident Reagan: „Wenn sie mit Angriffssystemen gekoppelt sind, können sie als Nährboden einer aggressiven Politik angesehen werden, und das will niemand.“ (Präsident Reagan in seiner Fernsehansprache am 23. März 1983)
Wichtiges Element von Willy Brandt und Egon Bahr waren (drei) internationale Kommissionen (Brandt-, Palme, und Brundtland-Kommission) im Rahmen der Vereinten Nationen. Der Bericht der Palme-Kommission wurde 1982 den Vereinten Nationen vorgestellt. In der SIPRI-Konferenz über Gemeinsame Sicherheit 1983 erläuterte Egon Bahr die Notwendigkeit der Überwindung der Abschreckung durch Gemeinsame Sicherheit:
„Abschreckungsdoktrin … verbindet Kriegsprävention mit der Fähigkeit, Kriege zu führen… Abschreckung und Rüstung sind Zwillinge: Solange die Abschreckungsdoktrin gilt, wird das Wettrüsten weitergehen. Abschreckung ist eine Idee, die am Ende mit Rache droht. Da dies Rache bis zur Selbstvernichtung wäre, ist nicht nur deren Glaubwürdigkeit, sondern auch die Akzeptanzbereitschaft der Bevölkerung zu bezweifeln, und eine demokratische Gesellschaft kann ohne die entschiedene Zustimmung der Bevölkerung auf Dauer kein verlässliches Verteidigungssystem aufrechterhalten . Die Androhung der Vernichtung dessen, was eigentlich zu verteidigen ist, ist keine überzeugende Perspektive. Also muss die Abschreckungsdoktrin aufgegeben und durch etwas anderes ersetzt werden.”
Lessons Learned von Kennedy, Bahr und Brandt: Entspannungspolitik ist kein Appeasement, sondern Realpolitik gegenüber potentiell gefährlichen Gegnern, um Spannungen und Kriegsgefahren zu reduzieren und „Gemeinsame Sicherheit“ auch zwischen erbitterten Gegnern zu schaffen…
(“Ziel und Weg bleibt Gemeinsame Sicherheit – trotz alledem!” ist ein Beitrag für das Buch “Selbstvernichtung oder Gemeinsame Sicherheit – Unser Jahrzehnt der Extreme: Ukraine-Krieg und Klimakrise”, das ab 26.09.2022 im Westendverlag erscheint (Hrsg: Michael Müller, Peter Brandt, Reiner Braun)