Nachdem Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer ein Ende der Russland-Sanktionen forderte, hat die Diskussion über den Sinn von Sanktionen und Wege zu einer neuen Entspannungspolitik wieder Auftrieb bekommen. Wir dokumentieren hier drei Stellungnahmen des ehemaligen Mitglieds der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl, des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Bundesministers und SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel und des ehemaligen Bundesministers Erhard Eppler.
Heribert Prantl schrieb dazu in seiner „politischen Wochenvorschau“ am 02. Juni 2019 einen ausführlichen Kommentar. Er weist darauf hin, dass die seit fünf Jahren bestehenden und verschärften Sanktionen, mit denen die EU auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Russland reagiert, nicht nur das Verbot von Tourismusdienstleistungen durch EU-Firmen auf der Krim, das Verbot von Immobilienerwerb und Investitionen in Firmen dort und ein Lieferembargo für Waren und Know-How für Verkehr, Telekommunikation, Energie und Rohstoffgewinnung umfassen:
[…] Begleitet wurden und werden diese Sanktionen von der Absage der bilateralen Gipfeltreffen, von der Beendigung des Dialogs. Auch die Treffen des NATO-Russland-Rats, der eigentlich der Verbesserung der Zusammenarbeit dienen sollte, sind seit Jahren ausgesetzt […]
Dabei macht Prantl auch vorsichtig deutlich, dass die deutsche und EU-Außenpolitik gegenüber Russland nicht zuerst von den Interessen wirtschaftlicher Akteure bestimmt werden sollte
[… ] Die Diskussion über die Sinnhaftigkeit dieser Reaktionen und die Forderungen nach einem Abbau der Sanktionen wird in den nächsten Wochen und Monaten stärker werden. Aus der deutschen Wirtschaft ist ein solches Begehr nicht neu; die Firmen – zumal aus dem Maschinenbau – sehen und spüren mit Grimm, wie sich Russland ökonomisch verstärkt China zuwendet. Neu ist aber, dass Politiker der Regierungskoalition vehement für einen Sanktionsabbau plädieren. Soeben taten es Michael Kretschmer (CDU), der Ministerpräsident Sachsens, und Manuela Schwesig (SPD), die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern.
[…]
Prantl weist dazu auf die Stellungnahmen zweier ehemaliger hoher Amtsträger hin:
[…] Wer Sanktionen aufbaut, muss sie auch wieder abbauen
Vor einem Jahr hat der frühere Bundesaußenminister Sigmar Gabriel im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung gesagt: “Je älter die Leute in Deutschland sind, desto mehr wünschen sie sich eine Abkehr von den Sanktionen. Das wünsche ich mir auch.” […]
Dies passe auch
zu der großen Sorge, die Helmut Kohl am Ende seines Lebens umgetrieben hat. Drei Jahre vor seinem Tod stellte der CDU-Staatsmann sein Buch “Aus Sorge um Europa” auf der Frankfurter Buchmesse vor, es war sein politisches Testament, es war ein letzter Appell: “Im Ergebnis müssen der Westen genauso wie Russland und die Ukraine aufpassen, dass wir nicht alles verspielen, was wir schon einmal erreicht hatten.”
Prantls Fazit im Interesse der europäischen Perspektive:
[…]Moskau gehört zu Europa
Prantls Blick, “Putin, Europa und der riesige Riss”, 2.6.2019
Es ist ungeheuer viel schiefgelaufen, seitdem Putin am 25. September 2001 seine Rede auf Deutsch im Bundestag gehalten hat. Und es wäre furchtbar, wenn es außer einer scharfen Ping-Pong-Rhetorik keine Gemeinsamkeiten mehr gäbe. Der Riss, der durch das gemeinsame europäische Haus geht, wird so immer größer – er ist so groß, dass das Bewusstsein von einem gemeinsamen europäischen Haus, von einer gemeinsamen Geschichte fast schon wieder verschwunden ist; und an eine gemeinsame Zukunft zu denken, ist schon wieder ein Tabu. Man darf bei aller Bitterkeit über die Annexion der Krim, über diesen eklatanten Völkerrechtsbruch der Putin-Regierung, nicht verdrängen und vergessen, dass Moskau zu Europa gehört. […]
Ein Hinausdrängen Russlands aus dem europäischen Raum ist keine Sanktion, sondern eine Selbstverstümmelung Europas. Es geht also darum, die Sprachlosigkeit wieder zu überwinden. Das ist keine Anbiederung, das ist auch noch keine Annäherung – das ist einfach der Anfang von Politik. Deutschland und die EU sollten dazu die Initiative ergreifen. […]
Auch Hans-Jochen Vogel meldete sich vor einigen Tagen mit einem Interview über die Zukunft der SPD zu Wort. Zum Thema Friedenspolitik beantworte er die Frage, für welche Themen die Sozialdemokraten europaweit noch stünden, so:
Die soziale Frage bleibt. Zudem ist den Sozialdemokraten die Bewahrung des Friedens auf den Leib geschrieben. Wir leben in einer Phase, in der Spannungen mit militärischen Drohungen zunehmen – wie zwischen Iran und USA. Sie sind auch in dem sonderbaren Umgang der USA mit Nordkorea fast alltäglich. Wir müssen uns in Anknüpfung an Willy Brandt für Frieden engagieren, nicht für blinde Nachgiebigkeit, aber für Frieden. Wir müssen uns auch für einen anderen Umgang mit Russland einsetzen. Wir sollten nie vergessen, was wir den Russen mit unserem Angriffskrieg von 1941 bis 1945 angetan haben. 22 Millionen Menschen haben damals ihr Leben verloren. Die Grenzen der Nato sind nach Osten gerückt, es sind nicht die russischen Grenzen dem Westen näher gekommen. Wir müssen das Gespräch mit Moskau wieder substanzieller führen….“
Hans-Jochen Vogel im Interview mit der Rheinischen Post am 07.06.2019
Und Erhard Eppler forderte im Februar in einem Beitrag für das IPG-Journal (Internationale Politik und Gesellschaft) unter der Überschrift “Der Partner sitzt im Osten“, Europa solle “eine Reform der NATO anstreben und Frieden mit Russland suchen”. Darin untersucht er u.a. die Frage, warum die Kündigung des INF-Vertrages in Europa ein “stärkeres Echo” fand als in den USA und welche Gegenleistung der US-Präsident für eine “Sicherheitsgarantie” einfordere:
Die Losung „America first!“ gilt offenbar nicht nur für die Handelspolitik, sondern auch für die Außenpolitik. Ein Bündnis wie die NATO hat für Trump nur dann einen Sinn, wenn die Bündnispartner für den Schutz, den sie erhoffen und erwarten, mit Gehorsam bezahlen. Wenn die USA den Iran zur Kapitulation zwingen, sein Regime stürzen wollen, dann haben die Bündnispartner dabei zu helfen, ob sie dies für richtig oder für ganz falsch halten. Notfalls darf sogar der Botschafter der USA deutschen Geschäftsleuten direkt sagen, was sie zu tun und zu lassen haben. Die NATO, zu der sich einst die Länder zusammenschlossen, die um ihre Freiheit bangten, wird zur unangefochtenen Einflusszone der Weltmacht Nummer 1, wobei dieser Weltmacht Nummer 1 überlassen bleibt, welche Methoden sie anwendet, um Gehorsam zu erzwingen. Für einen Donald Trump gibt es in der Politik nichts gratis. Wer Schutz will, muss mit Gehorsam bezahlen. Dass sich die Nationalstaaten der Europäischen Union mit dieser Form der Unterordnung nicht abfinden können, hat Angela Merkel in München demonstriert. Das war ein wichtiges Zeichen. Es könnte sogar einwirken auf den Streit zwischen Exekutive und Legislative in den USA. Es ist kein Zufall, dass Merkels Weckruf mit dem inneramerikanischen Versuch zusammenfällt, die Verfassung ernsthafter als bislang zu verteidigen. Dass Trump so mit Europa umgehen kann, verdankt er der Tatsache, dass zumindest einige der europäischen Nationalstaaten aus geschichtlichen Gründen ohne eine amerikanische Sicherheitsgarantie nicht leben wollen, vielleicht auch nicht können. Wer die Geschichte der baltischen Staaten oder gar die der Polen kennt, weiß, welche Last dies für Europa ist. Niemand kann diese Last abschütteln, und die Regierungen dort wollen sie auch nicht abschütteln. Dass kein vernunftbegabter russischer Präsident Lust haben kann, Polen zu regieren, ist kein Argument, das diese Mischung aus Furcht und Hass überwinden könnte. Für einen Donald Trump gibt es in der Politik nichts gratis. Wer Schutz will, muss mit Gehorsam bezahlen. Wenn die Europäer zu dem Ergebnis kommen, so habe man nicht gewettet, dann müssen sie versuchen, ihr Verhältnis zu dem Staat zu verbessern, vor dem sich viele – keineswegs alle – Europäer fürchten: Russland. Manche Mitglieder der Europäischen Union pflegen traditionell gute Beziehungen zu Russland, unabhängig von dem, was man die Außenbeziehungen der Europäischen Union nennen könnte. Sollen sie zu einer Partnerschaft zuerst einmal auf dem Gebiet der Wirtschaft ausgebaut werden, müssen Frankreich, Deutschland und wohl auch Italien und Spanien mitspielen. Und die skeptischen Länder, zumal Polen, müssen davon profitieren. Der INF-Vertrag wurde von den USA vor allem im Interesse ihrer europäischen Verbündeten geschlossen. Seine Kündigung dürfte damit zu tun haben, dass für Donald Trump diese Verbündeten eher lästige ökonomische Konkurrenten sind. Diese Entspannung nach Osten ist dann gelungen, wenn man in Moskau eine deutsche Panzerabwehreinheit an der Ostgrenze Polens nicht mehr fürchtet und als Provokation versteht, sondern als Preis dafür, dass die Europäische Union ihren Frieden mit Russland machen konnte. Frieden mit Russland bedeutet Entwicklungspartnerschaft, Kennenlernen, Jugendaustausch, Kulturaustausch, Überwindung von Klischees, nicht Militärbündnis. Die Mitgliedschaft in der NATO lässt sich damit vereinbaren – wenn die USA aufhören, die NATO als ihr Herrschaftsgebiet zu behandeln. Jedenfalls sollte Europa den NATO-Vertrag nicht kündigen, sondern eine NATO-Reform anstreben, mit zwei gleichberechtigten Pfeilern, einem amerikanischen, einem europäischen.
Erhard Eppler, in: IPG-Journal (Internationale Politik und Gesellschaft)
(Erhard Eppler war SPD-Bundestagsabgeordneter und Abgeordneter im baden-württembergischen Landtag, 1968-1974 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit; er ist Ehrenmitglied der SPD-Grundwertekommission.)