Eine breite Mehrheit der deutschen Bevölkerung tritt für eine Welt ohne Atomwaffen und ein Atomwaffenverbot ein.
Die von Deutschland betriebene sogenannte Stockholm Initiative beschränkt sich bisher auf die Wiederholung der seit vielen Jahren an die Nuklearwaffenstaaten gerichteten bekannten, unerfüllten Forderungen. Diese sind sicherlich berechtigt, doch die wirklich relevante Frage ist: Was kann Deutschland selbst unternehmen, um einen konkreten Beitrag zur Herbeiführung einer Welt ohne Atomwaffen zu leisten?
Die nukleare Abrüstungsverpflichtung im Nichtverbreitungsvertrag geht über die Nuklearwaffenstaaten hinaus, denn „jede Vertragspartei“ muss dazu beitragen. 2010 haben sich dessen Vertragsparteien – also auch Deutschland – verpflichtet, eine Politik zu führen, „die voll vereinbar mit dem Vertrag und dem Ziel einer Welt ohne Atomwaffen ist.“
Bei der Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages (NVV) im August 2022 sollte Deutschland darlegen können, welche konkreten Schritte es selbst zur Herbeiführung einer Welt ohne Atomwaffen gesetzt hat.
Das Ziel einer Welt ohne Atomwaffen ist nicht naiv, sondern die einzige Möglichkeit sicherzustellen, dass Nuklearwaffen nicht wieder – sei es absichtlich oder unabsichtlich, etwa durch technisches Gebrechen oder Irrtum – das Leben von hunderttausenden Zivilisten und Zivilistinnen auf leidvolle Weise auslöschen, wie es 1945 in Hiroshima und Nagasaki der Fall war.
Im Gegensatz zu damals, als nur die USA über Atomwaffen verfügten, würde es heute bei einem Einsatz kaum bei einzelnen Nuklearwaffenexplosionen bleiben, sondern eine gegenseitige Vernichtung, in extremis sogar globale Auslöschung unserer Zivilisation droht. Die auf wissenschaftlichen Berechnungen beruhende „Weltuntergangsuhr“ steht gegenwärtig auf 100 Sekunden vor Mitternacht, so knapp vor einer von Nuklearwaffen verursachten Katastrophe wie nie zuvor.
Natürlich wird das Wissen über den Bau von Nuklearwaffen nicht wieder verschwinden. Deshalb bedarf es nicht nur zur Herbeiführung einer Welt ohne Atomwaffen, sondern auch zu ihrer Beibehaltung einer internationalen Rechtsnorm, die Nuklearwaffen verbietet.
Schon bei biologischen und chemischen Waffen war deren vertragliches Verbot wesentliche Voraussetzung für ihre Eliminierung. Verstöße wie jüngst in Syrien zeigen die Wichtigkeit des Verbots. Alle diskutierten Vorgangsweisen zur Erreichung einer atomwaffenfreien Welt – sei es durch einen umfassenden Vertrag oder ein schrittweises Vorgehen – enthalten die Verbotsnorm.
2017 fanden im Rahmen der UN-Vollversammlung, des repräsentativsten Forums der internationalen Gemeinschaft, die Vertragsverhandlungen statt. Am 7. Juli 2017 nahmen 122 Staaten den Text des Atomwaffenverbotsvertrages (AVV) an. Länder, die auch in Zukunft Nuklearwaffen entgegen ihrer Abrüstungsverpflichtung beibehalten wollen, also die Nuklearwaffenstaaten und diejenigen, die einen nuklearen Schirm wünschen, boykottierten die Verhandlungen. Leider war Deutschland den Verhandlungen ferngeblieben, obwohl es sonst an allen großen Verhandlungsprozessen im Rahmen der Vereinten Nationen teilzunehmen pflegt.
Immer mehr Staaten treten dem sich seit Januar 2021 in Kraft befindlichen Vertrag bei. Aktuell liegen schon 87 Unterzeichnungen und 55 Ratifikationen vor. Im Dezember 2020 haben sogar 130 Staaten, gut zwei Drittel der Staatengemeinschaft, für die UN-Vollversammlungsresolution zum AVV gestimmt. Deutschland war nicht darunter, sondern votierte dagegen.
Da eine Welt ohne Atomwaffen nur mit einem Atomwaffenverbot erreicht werden kann, wäre eine Neuausrichtung der bisher ablehnenden deutschen Haltung logisch, wenn Deutschland selbst einen Beitrag zur Herbeiführung einer Welt ohne Atomwaffen leisten möchte. Ein erster Schritt könnte die Teilnahme an der AVV-Vertragsstaatenkonferenz im Januar 2022 in Wien als Beobachter sein.
Wie bei allem, was den status quo ändert, der bei der nuklearen Abrüstung deren Ausbleiben bedeutet, würden konkrete Schritte zu setzen sein, denn der AVV ist keine Wohlfühlmaßnahme, sondern ein Abkommen mit konkreten Rechtspflichten.
Die wohl größte nötige Veränderung bei einem deutschen Beitritt wäre der Abzug der US-Atomwaffensprengköpfe aus Deutschland. Dieser wird ohnedies bereits seit Jahren diskutiert. Wegen der gesunkenen geopolitischen und militärischen Bedeutung haben die USA die Zahl der Sprengköpfe und Stationierungsorte bereits verringert.
Ein sicherheitspolitischer Vorteil des Abzugs der letzten in Büchel verbliebenen – auf 10-20 geschätzten – Atomwaffensprengköpfe wäre, dass sich Deutschland dann nicht mehr zu einem prioritären Ziel eines Angriffes auf Atomwaffen machen würde.
Die angebliche „Klammerfunktion“ dieser Waffenstationierung für die deutsch-amerikanischen Beziehungen erscheint im Lichte des engen vielschichtigen deutsch-amerikanischen Verhältnisses stark übertrieben. Mit oder ohne diese Atomsprengköpfe ist und bleibt Deutschland der zentrale US-Verbündete in Kontinentaleuropa. Die große Mehrzahl der NATO-Mitglieder hat keine US-Atomsprengköpfe auf ihrem Territorium stationiert, ohne dass ihnen deshalb Vorwürfe gemacht werden.
Um Stationierungsländern wie Deutschland den Beitritt zum AVV zu erleichtern, findet sich darin sogar die Möglichkeit, den Abzug erst einige Monate nach dem Vertragsbeitritt abzuwickeln.
Was Deutschland tun könnte:
Auch die anderen Verpflichtungen für Vertragsparteien des AVV sind Konsequenz einer Politik, die tatsächlich eine Welt ohne Atomwaffen verwirklichen will:
- In und von Deutschland aus dürften keine Übungen und Planungen mit Atomwaffen oder für deren Einsatz stattfinden.
- Die Durchfuhr von Atomwaffen wäre zu untersagen.
- Die Finanzierung eines Atomwaffenprogramms wäre verboten.
- Schlüsselkomponenten, die ausdrücklich für den Bau oder die Erhaltung von Atomwaffen vorgesehen sind, dürften nicht mehr produziert und exportiert werden.
Deutschland weist eine gute Praxis bei der Umsetzung solcher Vertragspflichten bereits in anderen Zusammenhängen auf – etwa betreffend chemische Waffen. Daher stellen die entsprechenden Umsetzungsschritte gerade für Deutschland keine große Hürde dar.
Die Behauptung der Gegner des AVV, dass NATO-Mitglieder keine Vertragsparteien des AVV sein könnten, hält einer kritischen Prüfung nicht stand. Die Mitgliedschaft in der NATO beruht rechtlich auf dem Nordatlantikvertrag. Darin werden weder Atomwaffen noch nukleare Abschreckung erwähnt. Deutschland kann also gleichzeitig Vertragspartei des Nordatlantikvertrags und des AVV sein und den Verpflichtungen aus beiden Verträgen nachkommen. Dass zwei ehemalige NATO-Generalsekretäre, Javier Solana und Willy Claes, öffentlich die NATO-Staaten zum Beitritt zum AVV aufgerufen haben, unterstreicht die Vereinbarkeit.
Der Satz, dass die NATO eine nukleare Allianz bleiben wird, solange es Atomwaffen in der Welt gibt, steht in der aktuellen, nicht rechtsverbindlichen NATO-Strategie. Dort wird auch das Ziel vorgegeben, die Bedingungen für eine Welt ohne Atomwaffen zu schaffen – was logischerweise den AVV umfasst.
Eine Beteiligung an der nuklearen Komponente der NATO hängt von den einzelnen Mitgliedern ab und zeigt eine große Bandbreite – nicht alle NATO-Staaten nehmen an der nuklearen Planung teil oder gestatten die Stationierung von Nuklearwaffen. Deutschland könnte bei einem Beitritt zum AVV seinen Gestaltungsspielraum nutzen und sich in Zukunft an der nuklearen Komponente nicht mehr beteiligen.
Der AVV schränkt die militärische Kooperation im konventionellen Bereich in keiner Weise ein. Deutschland könnte seine starke militärische Kooperation mit den USA, Großbritannien und Frankreich sowohl bilateral als auch im Rahmen der NATO voll weiterführen, solange es nicht um Vorbereitungen für nukleare Kriegsführung geht.
Gerade bei Atomwaffen geben die Nuklearwaffenstaaten die Kontrolle nicht aus der Hand, was die Beteiligung von Alliierten weniger relevant macht. Es hängt nur vom US-Präsidenten ab, ob, wo und wann Nuklearwaffen zum Einsatz kommen.
Der AVV ist ein notwendiges Abkommen zur Umsetzung des Zieles einer atomwaffenfreien Welt. Deshalb wird die Bereitschaft, selbst einen Beitrag dazu zu leisten, an der Haltung zum AVV messbar. Auf die Notwendigkeit des Beibehaltens von Atomwaffen zu verweisen, lässt sich nicht mit der Erfüllung der Abrüstungsverpflichtung des Nichtverbreitungsvertrags vereinbaren. Das aus vielen Gründen fraglich gewordene Konzept der nuklearen Abschreckung wäre nur glaubhaft, wenn man tatsächlich zum Einsatz von Atomwaffen mit allen katastrophalen Folgen für die Menschheit bereit wäre, die Deutschland ja keinesfalls wünscht. Daher kann nukleare Abschreckung nicht Sicherheit schaffen. Deutschland könnte eine aktive Rolle bei der Abkehr von diesem prekären Konzept spielen.
Rechtlich, politisch und praktisch ist ein deutscher Beitritt zum AVV möglich und machbar. Mit der Nato-Mitgliedschaft ist der AVV-Beitritt vereinbar. Dagegen steht eine Sicherheitspolitik, die auch in Zukunft auf Atomwaffen setzt, nicht nur im Gegensatz zum Atomwaffenverbots- sondern auch zum Nichtverbreitungsvertrag.
Letztlich gilt es politisch zu entscheiden, ob man diesen mit dem Willen der Bevölkerungsmehrheit und den eigenen Werten übereinstimmenden Schritt setzen will oder nicht.
Mehr zum Thema finden Sie in meiner von Greenpeace beauftragten Studie “Deutschlands Weg zum Atomwaffenverbotsvertrag.
Botschafter i.R. Dr. Thomas Hajnoczi war Leiter der Abrüstungsabteilung im österreichischen Außenministerium und Botschafter Österreichs bei den Vereinten Nationen in Genf.
Dieser Artikel erschien auch in der WELT am 27.07.2021 unter dem Titel: “So wird Deutschland atomwaffenfrei — Die Mehrheit der Deutschen ist für eine Welt ohne Nuklearwaffen. Trotzdem stellt sich die Bundesrepublik bislang gegen internationale Verbote. Diese Position sollte Berlin aufgeben – und könnte im eigenen Land einen entscheidenden Schritt wagen.“