Der SPD-Fraktionschef warnt vor einem Konfrontationskurs mit Russland – und träumt von Allianzen ohne Militär
Am 12. Januar 2022 veröffentlichte die TAZ ein Interview von Stefan Reinecke und Tobias Schulze mit Rolf Mützenich über russische Bedrohungsanalysen. Hier einige Auszüge:
Wie gefährlich ist der Konflikt zwischen Russland, der Ukraine und der Nato?
Das Eskalationspotenzial ist groß und ist vor allem durch Russland befördert worden. Die Besetzung der Krim war völkerrechtswidrig, kann aber offensichtlich zurzeit nicht gelöst werden. In der Ostukraine hilft Russland den Separatisten mit militärischer Ausrüstung und politischer Unterstützung. Allerdings erfüllt auch die ukrainische Regierung die Minsker Vereinbarung nicht. Diese hatte sich dort verpflichtet, mehr Autonomierechte im gesamten Land zuzugestehen. Wir haben es also mit einer sehr komplexen, konfliktreichen Gemengelage zu tun.
Putin betont immer wieder, dass die Nato Russland einkreise. Ist da was dran?
De facto gibt es diese „Einkreisung“ nicht. Gleichwohl sollten die Nato-Länder beachten, dass diese Ängste in Russland sehr wohl seit Langem existieren. Wir sollten diese Gedankengänge nachvollziehen, unabhängig davon, ob wir sie akzeptieren.
Sie verstehen also, dass sich Russland bedroht fühlt.
Gedanklich kann ich die russische Bedrohungsanalyse nachvollziehen, auch wenn ich sie nicht teile. Die Militärausgaben der Nato sind um ein Vielfaches höher als die Russlands. Alleine die USA geben mehr als das Zehnfache für ihr Verteidigungsbudget aus. Die Nato-Raketenabwehrsysteme, die in Rumänien und Polen angeblich wegen der iranischen Drohung stationiert wurden, können aus Sicht Moskaus als Teil einer Erstschlagsdoktrin missgedeutet werden. Auf Nato-Seite mögen wir das anders sehen, aber Russland sieht es so. Zu alledem gibt es einen ungezügelten, unkontrollierten Rüstungswettlauf. Darüber müssen die Nato und Russland sprechen. Wir brauchen dringend Abrüstungsinitiativen.
Welchen Nutzen hat Aggression gegen die Ukraine für Putin?
Ein Teil der Sicherheitsstrategie im Kreml besteht zurzeit darin, außerhalb des russischen Staatsgebiets Konflikte zu schüren. Putin glaubt mit diesem Unfrieden außerhalb des eigenen Territoriums mehr Sicherheit zu gewinnen. Er „zündelt“ nach außen, um seine Macht im Inneren zu konsolidieren. Auch wenn diese russische Sicherheitspolitik ein Irrweg ist, müssen wir uns mit diesen Denkkategorien auseinandersetzen und versuchen, sie aufzuweichen. Das habe ich jedenfalls aus der Entspannungspolitik gelernt.
Zu Putins Taktik gehört: Russland redet gleichrangig mit den USA; Europa hält er für zweitrangig. Was bedeutet das für Deutschland?
Russland kompensiert mit den Gesprächen „auf Augenhöhe“ mit den USA einen schon vorhandenen Minderwertigkeitskomplex. Zuerst einmal ist es wichtig, dass überhaupt geredet wird. Wir sollten zudem beachten, dass die USA für Europa auch ohne Präsident Trump nicht mehr der Partner sind, der sie mal waren. Die USA waren zu Beginn bereit, alleine mit Russland zu reden oder nur mit ganz wenigen Nato-Partnern. Das haben in Deutschland nicht alle auf dem Schirm. Deutschland sollte sich aber auch nicht klein machen und den Nato-Russland-Rat, die OSZE und das Minsker Format stärker nutzen. Aber das Wichtigste ist die Beruhigung und eine Lösung der Krise – egal in welchem Format. …
Wie kann eine langfristige Lösung des Konflikts mit Russland aussehen?
Wir brauchen perspektivisch eine europäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands – auch wenn dies derzeit noch illusorisch erscheint. Ich hoffe dennoch auf eine künftige gesamteuropäische Friedensordnung, die als „pluralistische Sicherheitsgemeinschaft“ Krieg zwischen ihren Mitgliedern ausschließt und am Ende die Militärbündnisse überwindet.
Das vollständige TAZ-Interview können Sie hier lesen: (TAZ) — SPD-Fraktionschef über russische Ängste: „Die Nato bietet keine Garantie“