Der Astrophysiker Robert Goldston, Experte im Bereich von Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung und von 1997 bis 2009 Direktor des mit Atomwaffenentwicklung befassten Princeton Plasma Physics Laboratory des US Energy Department, hat im Bulletin of Atomic Scientists einen Artikel über den “Tag nach dem Ukraine-Krieg” veröffentlicht. Hier einige seiner Argumente und Vorschläge:
Früher oder später wird der Krieg in der Ukraine enden. Wir alle hoffen, dass er nicht mit einem nuklearen Schlagabtausch mit Atomwaffen wie im 1983 gezeigten US-Fernsehfilm “The Day After” enden wird.
Sollte dies – hoffentlich – nicht geschehen, werden die Vereinigten Staaten mit der Frage auseinandersetzen müssen, wie sie eine stabile Beziehung zu Russland wieder herstellen können. Denn stabile Beziehungen sind die einzige Alternative zu wachsender Instabilität mit nicht zu rechtfertigenden Risiken.
Hinter vorgehaltener Hand werden bereits Vorschläge diskutiert, die zu mehr Stabilität und zu einem baldigen Ende des Krieges beitragen können. Aber es gibt viel lautere Stimmen, die eine Verdoppelung des US-Verteidigungshaushalts und die Ausweitung der Stationierung und Einsatzmöglichkeiten von Atomwaffen fordern.
Hoffentlich werden wir trotzalledem so vernünftig handeln wie nach der Kuba-Krise 1962 oder nach der Atomkriegsgefahr im Jahre 1983, als ein NATO-Manöver (Reforger 2) die sowjetische Führung veranlasst hatte, über einen eventuellen präventiven atomaren Erstschlag gegen die Vereinigten Staaten zu beraten.
Die begründete Angst vor der atomaren Vernichtung, die durch die kubanische Raketenkrise ausgelöst worden war, hatte unter John Kennedy zum Vertrag über das begrenzte Atomtestverbot, unter Lyndon Johnson zum Nichtverbreitungsvertrag/Atomwaffensperrvertrag (NPT) , und unter Richard Nixon zum ABM-Vertrag über die Begrenzung der Raketenabwehr geführt. Ähnliche Ängste auf Grund der Ereignisse Anfang der achtziger Jahre führten zum INF Vertrag über das Verbot von Mittelstreckenraketen unter Ronald Reagan und Mickhail Gorbatschow 1987, zu den Präsidenteninitiativen unter George H.W. Bush und Boris Jelzin über die drastische Abrüstung der amerikanischen und russischen Atomwaffenarsenale sowie schließlich zu den SALT-Rüstungskontrollverträgen über strategische Atomwaffen und schließlich zum New-START-Vertrag unter Barack Obama.
Für den Tag nach dem Ende des Kriegs in der Ukraine sollten die USA dafür zu sorgen, dass sich die Umstände, die zu diesem verheerenden Krieg geführt haben, niemals wiederholen.
Es ist war verständlich, wenn einige sagen, mit Kriegsverbrechern verhandelt man nicht, aber wenn wir nicht mit Russland in einen gehen wollen, haben wir keine andere Wahl als zu verhandeln. Damit gehe ich nicht auf den Einzelheiten einer Vereinbarung zwischen der Ukraine und Russland ein. Wie Präsident Biden bereits erklärte, ist dies Sache der Ukraine.
Aber fünf Rüstungskontroll- und Abrüstungsinitiativen, die im folgenden skizziert werden, könnten zur Stabilisierung der Beziehung zwischen den Vereinigten Staaten und Russland beitragen:
Vertrag Konventionelle Streitkräfte in Europa
Die erste dieser Initiativen müsste dringend ein neues KSE-Abkommen zur Begrenzung der konventionellen Rüstung sein. Der russische Aufmarsch mit konventionellen Streitkräften in der Nähe der Grenze zur Ukraine war nicht nur ein Versuch, die Ukraine zu unter Druck zu setzen, sondern auch die Voraussetzung zur Vorbereitung der Invasion. Parallel dazu hatte Russland die Stationierung von NATO-Streitkräften in der Nähe der russischen Grenzen als Bedrohung wahrgenommen. Das Auseinanderrücken der Streitkräfte beider Seiten sollte ein Schlüsselelement der künftigen Politik in Europa Politik werden.
Der ursprüngliche Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa (KSE bzw. AKSE) wurde ursprünglich durch Streitigkeiten über seine Umsetzung außer Kraft gesetzt. Die Führungen des Westens und Russlands sollten in der Lage sein, aus ihren Fehlern zu lernen und eine moderne Version dieses Abkommens auszuhandeln, die beiden Seiten Sicherheit gibt. Es sollte Beschränkungen für militärische Übungen entlang sensibler Grenzen beinhalten.
Um eine solche Vereinbarung durch Satellitenüberwachung zu verifizieren, wäre die Rückkehr zu einem modernisierten Vertrag über den offenen Himmel für die Staaten ohne direkten Zugang zu Satellitendaten eine wichtige vertrauensbildende Maßnahme.
Nukleare Mittelstreckenwaffen (INF) in Europa
Ein neues INF-Abkommen sollte sich zunächst auf nuklear bestückte Raketen konzentrieren, nicht auf alle Art von Kurz- und Mittelstreckenraketen, wie im ursprünglichen INF-Vertrag.
… Das neue INF-Abkommen könnte sich nur auf Europa von Portugal und Irland bis zum Ural konzentrieren, um das Risiko eines schnellen „Enthauptungsschlags“ gegen Moskau, Paris oder London abzubauen. ….
Raketenabwehrsysteme
Ein neues ABM-Abkommen zur Begrenzung der Raketenabwehrwaffen ist notwendig, um den Druck auf Russland und China zu verringern, … die besorgt sind, dass die Vereinigten Staaten eines Tages mithilfe ihrer umfassenden Raketenabwehr eine Erstschlagskapazität entwickelt haben werden, … um einen Großteil der strategischen Arsenale Russlands und Chinas zu vernichten, und damit deren Zweitschlagskapazität erheblich schwächen oder ausschalten könnte.
Diese Bwdrohungswahrnehmung wird durch die Tatsache verstärkt, dass die Vereinigten Staaten Raketenabwehr-Raketen getestet haben, die von einem Aegis-Zerstörer aus Interkontinentalraketen (ICBM) abfangen könnte: Die Vereinigten Staaten planen, bis 2025 über 65 Aegis-Zerstörerschiffe zu verfügen, von denen jedes bis zu 96 solcher Raketen abfeuern kann.
Damit würde ein schlagkräftiges ABM-System entstehen, das viel umfangreicher ist als die Aegis-Ashore-Systeme zur US-Raketenabwehr in Rumänien oder Polen. Daher muss ein neues ABM-Abkommen die Gesamtzahl der ICBM-Abwehrraketen erheblich begrenzen. …
New START+.
Der von Biden und Putin 2021 verlängerte New START-Vertrag wird im Februar 2026 auslaufen. Wenn bis dahin kein Folgeabkommen zustande kommt, wird es kein Abkommen mehr zur Begrenzung der strategischen Waffen der USA und Russlands geben… Es muss ein neues Abkommen vereinbart werden.
Sowohl die Vereinigten Staaten als auch Russland haben etwa 400 Sprengköpfe auf silobasierten ballistischen Interkontinentalraketen stationiert, die bei Alarmmeldung sofort abgefeuert werden können… was zu einem “use-them or lose-them”-Szenario führt: In Zeiten erhöhter Spannungen oder kriegerischer Konflikte droht ein irrtümlichee Abschuss von nuklear bewaffneten Raketen — mit katastrophalen Folgen des “Atomkriegs aus Versehen”. Es wäre für beide Seiten von Vorteil, wenn diese Raketen abgeschafft würden.
… Auf jeden Fall sollten nuklear bewaffnete U-Boot-Drohnen, Marschflugkörper und strategische Hyperschallraketen… im Rahmen eines neuen START+-Vertrags begrenzt werden.
Deklarationspolitik zur Einsatz von Nuklearwaffen.
Präsident Putins jüngste, kaum verhüllte Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen im Ukraine-Krieg lassen die Besorgnis über die bringen nukleare Deklarationspolitik in den Vordergrund. Es gibt für betroffenen Staaten eine Reihe von Optionen ihrer Politik, unter welchen Bedingungen sie den Einsatz von Atomwaffen als stabilisierender ansehen. Am wirkungsvollsten wäre es, wenn die führenden Kernwaffenstaaten, die P5 (China, Frankreich, Russland, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten), sich auf eine gemeinsame Politik einigen würden.
Die fünf Ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates (P5) haben kürzlich die Erklärung von Reagan und Gorbatschow bekräftigt, dass “ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf“. Leider hat diese Erklärung bisher keine direkten Auswirkungen auf die Politik des Ersteinsatzes von Atomwaffen….
Demokraten im US-Kongress haben sich wiederholt, so auch im Januar 2022 in einem gemeinsamen Brief von 55 der “Nuclear Weapons and Arms Control Working Group” an US-Präsident Biden u.a. für “No-First-Use”, also das Ende der Politik des Ersteinsatzes von Atomwaffen, eingesetzt. Aber gegen den Verzicht auf den Ersteinsatz oder gar eine Vereinbarung über das Verbot des Ersteinsatzes von Atomwaffen gibt es unter Verbündeten der USA “Berichten zufolge” weiterhin massive Widerstände.
Robert Goldston fass seine Überlegungen und Vorschläge folgendermaßen zusammen:
Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts tobt in der Ukraine ein äußerst zerstörerischer Krieg. Präsident Putin hat kaum verhüllte Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen ausgesprochen, was Anlass zu der Sorge gibt, dass dieser Krieg zu einem nuklearen Holocaust führen könnte. Der Krieg in der Ukraine ist weitaus zerstörerischer als die Kuba-Krise oder die Atomkriegsangst von 1983, die beide die Welt von einer nuklearen Konfrontation abhielten. Ob der Tag nach dem Krieg in der Ukraine ein Tag der Vernunft oder ein Tag der wachsenden Gefahren ist, hängt von beiden Seiten ab. Gegen die Schaffung von mehr Stabilität in den Beziehungen zwischen den USA und Russland ist gibt es nur eine gefährlichere Alternative.
Quelle: 2022-04-06. — (Bulletin of the Atomic Scientists) — Robert Goldston: The day after the Ukraine war, Auszüge ins Deutsche übertragen von der Redaktion (wb)
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