Aus Anlass von Präsident Trumps Absicht, den INF-Vertrag zu kündigen, schrieb Katrina vanden Heuvel am 30. Oktober 2018 folgende Kolumne in der Washington Post :
“Der Austritt aus dem INF-Vertrag wird die weltweiten Bemühungen um die Nichtverbreitung von Atomwaffen schwächen und die Sicherheit aller Staaten beeinträchtigen”
Ich habe meine Tochter, Nika ein „Perestroika-Baby“ genannt. Sie wurde in der Umwälzungsperiode in Russland gezeugt, als sich das Land unter Leitung von Michail Gorbatschow radikal veränderte und der Kalte Krieg allmählich abflaute. Nika wurde geboren wenige Jahre nachdem Gorbatschow und Präsident Ronald Reagan 1987 den INF-Vertrag zum Verbot aller Mittelstreckenwaffen, das weltweit wichtigste atomare Rüstungskontrollabkommen, unterzeichnet hatten.
Mit ihren zwei Federstrichen verbot der INF-Vertrag eine ganze Kategorie von Atomwaffen, führte zur Zerstörung von fast 2.700 Sprengköpfen und verringerte die Gefahr eines Atomkriegs in Europa. Damals sagte Gorbatschow: “Wir können stolz darauf sein, dieses kleine Bäumchen zu pflanzen, aus dem eines Tages ein großer Baum des Friedens wachsen möge.”
Einunddreißig Jahre später setzt Präsident Trump die Axt an diesen Baum. In diesem Monat kündigte er an, dass die Vereinigten Staaten sich aus dem INF-Vertrag zurückziehen würden und er zu einem neuen Wettrüsten einladen würde: “Wir haben weitaus mehr Geld als jeder andere”, sagte Trump. “Wir bauen unser Arsenal solange auf, bis [China und Russland] zur Besinnung kommen.”
Der Austritt aus dem INF-Vertrag wird die weltweiten Bemühungen um die Nichtverbreitung von Atomwaffen schwächen und die Sicherheit aller Staaten beeinträchtigen. Die Union of Concerned Scientists schätzte ein, der Schritt würde “letztendlich die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten untergraben”. Die Sprecherin des Auswärtigen Dienstes der EU erklärte: “Die Welt braucht kein neues Wettrüsten, das noch mehr Instabilität bringen würde.“ Der Brookings-Experte für Rüstungskontrolle, Steven Pifer, der in der Adminstration von Bill Clinton und George W. Bush gearbeitet hatte, nannte den Rückzug aus dem Vertrag „einen riesigen Fehler“.
Gorbatschow selbst hat in der vergangenen Woche in der New York Times seinen Kommentar abgegeben: „Ich bin überzeugt, dass diejenigen, die von einem globalen Freibrief für alle profitieren wollen, zutiefst falsch liegen. Es wird keinen Sieger in einem ‚Krieg aller gegen alle’ geben – insbesondere wenn er in einem Atomkrieg endet. Und das ist eine Möglichkeit, die nicht ausgeschlossen werden kann. Ein unerbittliches Wettrüsten, internationale Spannungen, Feindseligkeit und allgemeines Misstrauen werden diese Gefahr weiter erhöhen.“
Diese Gefahren –- begleitet von der Militarisierung der Beziehungen – haben in den letzten Jahren von Administration zu Administration zugenommen. Stephen Cohen, emeritierter Professor für Russische Studien und Politik an der New York University und der Princeton University (nebenbei gesagt: er ist auch mein Ehepartner) erläuterte kürzlich in The Nation, dass Bill Clinton damit begann, die NATO immer weiter nach Osten in Richtung Russlands Grenzen auszudehnen, und George Bush beendete 1972 einseitig den ABM-Vertrag über die Begrenzung der Raketenabwehr.
Insofern handelt es sich bei Trumps Vorgehen durchaus um die Fortsetzung einer Reihe amerikanischer Provokationen, die Russland zur Verletzung des INF-Vertrags veranlasst haben. Diese von den Russen bestrittenen Vertragsverletzungen seien für sich allein jedoch “kein überzeugendes Argument für den Rückzug aus dem Vertrag”, erklärte der frühere hohe Beamte des Pentagon und Gegner des INF-Vertrages, Elbridge Colby.
Unabhängig davon unterscheidet sich Trump mit seiner groben Aggressivität von seinen Vorgängern. Letztes Jahr hatte ich argumentiert, dass “Trumps Entscheidung für den Austritt aus dem Iranabkommen nicht nur den wegweisenden Vertrag, sondern auch unsere Sicherheit schwerwiegend gefährdet.” Seitdem hat sich die Lage nur verschlechtert und die Welt rutsch immer näher an Rand des nuklearen Abgrunds. Zumindest teilweise aufgrund von Trumps Politik hat das Bulletin der US-Atomwissenschaftler jetzt die Doomsday Clock („Weltuntergangsuhr“) auf zwei Minuten vor Mitternacht vorgestellt, Ausdruck der höchsten seit 1952 gemeldeten Bedrohungssituation.
Vor kurzem hat Beatrice Fihn, die Geschäftsführende Vorsitzende der Internationalen Kampagne für die Abschaffung der Nuklearwaffen (ICAN), eine Roadmap für die BürgerInnen präsentiert, die sich gegen Trump und für eine atomwaffenfreie Welt engagieren wollen. Z.B. könne man „als ersten Schritt herausfinden, welche Bank oder Gesellschaft bei der Finanzierung der Entwicklung von Atomwaffen beteiligt ist“.
Auch Mitglieder des Kongresses sollten Maßnahmen zum Abbau der Atomkriegsgefahr ergreifen. Einige von ihnen sind bereits aktiv. Schon im Januar 2017 haben Sen. Edward J. Markey (D-Mass.) und der Abgeordnete Ted Lieu (D-Calif.) einen Gesetzentwurf vorgelegt, der „den Präsidenten daran hindern soll, einen nuklearen Ersteinsatz ohne eine Kriegserklärung des Kongresses zu starten. . . Ein solches Gesetz würde die Finger des Präsidenten vom Atomknopf zurückhalten“, so Emily Tamkin in “Foreign Policy“.
Demokratische Politiker haben Reaktionen auf die INF-Entscheidung gefordert. Die Abgeordneten Adam Smith (D-Wash.) vom Armed Services Committee, Eliot L. Engel (D-N.Y.) und Gregory W. Meeks (D-N.Y.) vom Foreign Affairs Committee veröffentlichten einen Brief mit der Forderung nach Information über die Entscheidung gegen den INF-Vertrag. Sie fordern, “jede Unterstützung von Maßnahmen zu verweigern oder zu blockieren, die die Gefahr eines unbegrenzten atomaren Wettrüstens erhöhen”.
Der Kongressabgeordnete Ro Khanna (D-Calif.) verbreitete über Twitter seine Erklärung, der Rückzug aus dem INF-Abkommen „stürzt uns zurück in ein atomares Wettrüsten und bedeutet mehr Gefahr für unsere Truppen, Verbündeten und die Welt, während er die Dollars der Steuerzahler für die Vorbereitung eines Atomkrieges vergeudet, der niemals geführt werden darf. . . Wir dürfen nicht zur Erhöhung der Spannungen beitragen, die unser Land und die Welt an den Abgrund eines katastrophalen Krieges bringen könnten.“
Solches Denken und Führung zu zeigen ist heute notwendiger denn je.
Erforderlich ist auch eine Gesetzgebung im Sinne des gesunden Menschenverstands, um das Problem der etwa 900 Raketen zu bewältigen, die sich jederzeit in höchster Alarmbereitschaft („hair-trigger alert“) befinden und binnen weniger Minuten abgeschossen werden können. Und in „The American Conservative“ machte Bruce Fein, – stellvertretender Generalstaatsanwalt während der Reagan-Administration– , den interessanten Vorschlag, der US-Kongress solle “Gesetze beschließen, die die Nutzung von Haushaltsmitteln der Vereinigten Staaten für die Stationierung von Waffen verbieten, die gegen die INF-Vertrag verstoßen.”
Als Redakteurin von The Nation hatte ich im Jahre 2002 die Ehre, von Gorbatschow mit dem Global-Green-USA-Preis ausgezeichnet zu werden. Bei der Entgegennahme des Preises sagte ich: „Von dem Moment an, an dem Gorbatschow an die Macht kam, bestand er immer darauf, dass es in der Geschichte und in der Politik immer Alternativen gibt. . . Alternativen, die besser sind als der Status quo.“ Es ist nicht zu spät, diesen gefährlichen Status quo zu beenden. Kämpfen wir für eine bessere Zukunft, die frei von Atomwaffen ist.
Katrina vanden Heuvels Artikel wurde ursprünglich von der Washington Post publiziert. Wir danken der Autorin für die freundliche Genehmigung, ihren von Wolfgang Biermann ins Deutsche übersetzten Artikel auf unserer Homepage zu veröffentlichen.
Über die Autorin: Katrina vanden Heuvel ist Herausgeberin und Chefredakteurin des The Nation-Magazins und schreibt eine wöchentliche Kolumne für die Washington Post. Sie hat mehrere Bücher herausgegeben oder co-editiert, darunter „The Change I Believe In: Fighting for Progress in the Age of Obama” (2011) und “Meltdown: How Greed and Corruption Shattered Our Financial System and How We Can Recover” (2009).
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Aktuelle Stellungnahmen aus USA und Russland zum INF-Vertrag:
- 2018-10-26. — (WP, John McLaughlin) Why dropping the INF Treaty is a terrible idea – / – https://www.washingtonpost.com/opinions/why-dropping-the-inf-treaty-is-a-terrible-idea/2018/10/26/c03553ec-d929-11e8-a10f-b51546b10756_story.html
- 2018-10-22. – (WP – James Cameron) – What the INF Treaty means for the U.S. and Europe — and why Trump mentioned China / – https://www.washingtonpost.com/news/monkey-cage/wp/2018/10/22/what-the-inf-treaty-means-for-the-u-s-and-europe-and-why-trump-mentioned-china/?
- 2018-10-19. – (Brookings, National Interest, Steven Pfifer) – ORDER FROM CHAOS – The Trump administration is preparing a major mistake on the INF Treaty / – (https://www.brookings.edu/blog/order-from-chaos/2018/10/19/the-trump-administration-is-preparing-a-major-mistake-on-the-inf-treaty//
- 2018-10-25. – (NYT) – Mikhail Gorbachev: A New Nuclear Arms Race Has Begun/ – https://www.nytimes.com/2018/10/25/opinion/mikhail-gorbachev-inf-treaty-trump-nuclear-arms.html#click=https://t.co/Qr75QAq1Rg
- 2018-10-26. – (Carnegie Endowment Moscow, Alexej Arbatow) – The Danger of Withdrawing From the INF Treaty / – https://carnegie.ru/commentary/77589