“Der Ukraine-Krieg ist ein extrem gefährlicher Krieg zwischen nuklearen Supermächten in einer Welt, die dringend Frieden und Zusammenarbeit braucht.” Mit dieser Begründung leitet Jeffrey Sachs seinen “Leitfaden für Friedensvermittler im Urainekrieg” ein, mit dem er nach der Pressekonferenz von US-Präsident Joe Biden mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron die beginnende Friedensdiskussion in den USA aufgriff und am 05. Dezember 2022 in Common Dreams veröffentlichte. Wir danken Jeffrey Sachs für sein OK für Veröffentlichung des von der Redaktion ins Deutsche übertragenen Dokuments:
Es gibt einen neuen Hoffnungsschimmer für ein schnelles ausgehandeltes Ende des Krieges in der Ukraine.
In seiner jüngsten Pressekonferenz mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron erklärte Präsident Joe Biden: „Ich bin bereit, mit Herrn Putin zu sprechen, wenn tatsächlich ein Interesse daran besteht, dass er entscheidet, dass er nach einem Weg sucht, den Krieg zu beenden. Das hat er noch nicht gemacht. Wenn das der Fall ist, setze ich mich in Absprache mit meinen französischen und meinen NATO-Freunden gerne mit Putin zusammen, um zu sehen, was er will und im Sinn hat.“ Der Sprecher von Präsident Wladimir Putin antwortete, dass Russland zu Verhandlungen bereit sei, um „unsere Interessen zu wahren“.
Jetzt ist die Zeit für eine Vermittlung auf der Grundlage der Kerninteressen und des Verhandlungsspielraums der drei Hauptkonfliktparteien: Russland, Ukraine und die Vereinigten Staaten.
Der Krieg verwüstet die Ukraine. Nach Angaben von EU-Präsidentin Ursula von der Leyen hat die Ukraine bereits 100.000 Soldaten und 20.000 Zivilisten verloren. Nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland, die USA und die EU – ja die ganze Welt – werden enorm von einem Ende des Konflikts profitieren und sowohl die nukleare Angst, die heute über der Welt hängt, als auch die verheerenden wirtschaftlichen Folgen des Krieges beseitigen.
Kein Geringerer als der Vorsitzende der US Joint Chiefs of Staff, General Mark A. Milley, hat auf eine politische Verhandlungslösung des Konflikts gedrängt, weil er eingeschätzt, dass die Chance der Ukraine auf einen militärischen Sieg „nicht hoch“ sei.
Es gibt vier Kernthemen für Verhandlungen: die Souveränität und Sicherheit der Ukraine; die heikle Frage der NATO-Erweiterung; das Schicksal der Krim; und die Zukunft des Donbass.
Die Ukraine verlangt vor allem, ein souveränes Land zu sein, frei von Russlands Vorherrschaft und mit sicheren Grenzen. Es gibt einige in Russland, darunter vielleicht Putin selbst, die glauben, dass die Ukraine wirklich ein Teil Russlands ist. Es wird keinen Verhandlungsfrieden geben, ohne dass Russland die Souveränität und nationale Sicherheit der Ukraine anerkennt, gestützt durch ausdrückliche internationale Garantien des UN-Sicherheitsrates und Nationen wie z.B. Deutschland, Indien und Türkei.
Russland fordert vor allem, dass die NATO ihre Absicht zurückzieht, sich auf die Ukraine und Georgien auszudehnen, die Russland im Schwarzen Meer vollständig einkreisen würden (wenn die Ukraine und Georgien zu den bestehenden Schwarzmeer-NATO-Mitgliedern Bulgarien, Rumänien und der Türkei hinzugefügt würden).
Die NATO bezeichnet sich selbst als Verteidigungsbündnis, doch Russland ist anderer Meinung, weil es die Vorliebe der USA für Regimewechseloperationen gegen unerwünschte Regierungen kennt (einschließlich der Ukraine im Jahr 2014, mit der Rolle der USA beim Sturz des damaligen pro-russischen Präsidenten Viktor Janukowitsch).
Russland beansprucht die Krim auch als Heimat der russischen Schwarzmeerflotte seit 1783. Putin hatte George Bush Jr. im Jahr 2008 die USA davor gewarnt, die NATO auf die Ukraine auszuweiten; in diesem Fall würde Russland die Krim zurückerobern, die der sowjetische Generalsekretär Nikita Chruschtschow 1954 von Russland an die Ukraine abgegeben hatte. Bis zum Sturz Janukowitschs wurde die Krim-Frage klug durch russisch-ukrainische Vereinbarungen geregelt, die Russland einen langfristigen Nutzungsvertrag für seine Marineeinrichtungen in Sewastopol auf der Krim einräumten.
Die Ukraine und Russland streiten sich heftig über den Donbass mit seiner ethnisch überwiegend russischen Bevölkerung. Während die ukrainische Sprache und kulturelle Identität im größten Teil der Ukraine vorherrschen, überwiegen im Donbas die russische kulturelle Identität und Sprache. Nach Janukowitschs Sturz wurde der Donbass zu einem Schlachtfeld zwischen pro-russischen und pro-ukrainischen Paramilitärs, wobei die pro-russischen Kräfte die Unabhängigkeit des Donbass erklärten.
Das Minsk-II-Abkommen von 2015 war ein diplomatisches Abkommen zur Beendigung der Kämpfe auf der Grundlage der Autonomie (Selbstverwaltung) für die Donbass-Region innerhalb der ukrainischen Grenzen und der Achtung der russischen Sprache und Kultur. Nach der Unterzeichnung machte die ukrainische Führung deutlich, dass sie diesen Teil der Vereinbarung ablehne und nicht einhalten würden. Obwohl Frankreich und Deutschland Garanten des Abkommens waren, setzten sie die Ukraine nicht unter Druck, sich daran zu halten. Aus russischer Sicht lehnten die Ukraine und der Westen damit eine diplomatische Lösung des Konflikts ab.
Ende 2021 wiederholte Putin die Forderung Russlands, die NATO nicht auszuweiten, insbesondere nicht auf die Ukraine. Die USA weigerten sich, über die NATO-Erweiterung zu verhandeln. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte am 11. Dezember 2021, dass Russland in dieser Frage kein Mitspracherecht habe: „Die Beziehung der NATO zur Ukraine werden von den 30 NATO-Verbündeten und der Ukraine entschieden, von niemand anders.“
Im März 2022, einen Monat nach der russischen Invasion, hatten Putin und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wesentliche Fortschritte erzielt in Richtung auf ein pragmatisch ausgehandeltes Abkommen zur Beendigung Ende des Krieges, auf der Grundlage der Nichterweiterung der NATO, internationaler Souveränitäts- und Sicherheitsgarantien für die Ukraine, und der friedlichen Lösung der Fragen der Krim und des Donbas danach. Die türkischen Diplomaten waren sehr erfahrene Vermittler.
Doch die Ukraine entfernte sich dann vom Verhandlungstisch, vielleicht auf Drängen Großbritanniens und der USA, und verfolgte die Politik der Ablehnung von Verhandlungen bis Russland durch Militäraktionen aus der Ukraine vertrieben würde.
Der Konflikt eskalierte danach weiter, und Russland annektierte nicht nur die beiden Regionen des Donbass (Luhansk und Donezk), sondern auch die Regionen Cherson und Saporischschja. Kürzlich verschärfte Selenskyj die Situation mit der Forderung nach Abbruch der ukrainischen Verbindungen zu russisch-orthodoxen Institutionen und damit Abbruch der religiösen Bindungen ethnischer Russen und vieler ethnischer Ukrainer, die rund ein Jahrtausend zurückreichen.
Da sich sowohl die USA als auch Russland jetzt vorsichtig dem Verhandlungstisch nähern, ist die Zeit gekommen für eine Vermittlung zur Beendigung des Ukraine-Krieges. Mögliche Vermittler sind die Vereinten Nationen, die Türkei, Papst Franziskus, China und vielleicht andere in einer Kombination. Die Konturen erfolgreicher Mediation sind eigentlich klar, ebenso wie die Basis für eine Friedensregelung.
Der Hauptpunkt für die Mediation ist, dass alle Parteien berechtigte Interessen und berechtigte Klagen gegeneinander haben. Russland ist gewaltsam in die Ukraine eingedrungen. Die USA hatten 2014 beim Sturz von Janukowitsch mitgewirkt, dann die Ukraine schwer bewaffnet und am Ziel der NATO-Erweiterung festgehalten, mit der Russland im Schwarzen Meer weiter eingekreist wäre. Nach Janukowitsch weigerten sich die ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und Wolodymyr Selenskyj, das Abkommen von Minsk II umzusetzen.
Frieden wird kommen, wenn die USA nicht länger Ziel einer NATO-Erweiterung in Richtung Russlands Grenzen festhalten; wenn Russland seine Streitkräfte aus der Ukraine abzieht und die einseitige Annexion ukrainischen Territoriums rückgängig macht; wenn die Ukraine Abstand nimmt von ihren Versuchen, die Krim zurückzuerobern, und wenn sie ihre Ablehnung des Minsk-II-Rahmens zurücknimmt; und wenn alle Parteien zustimmen, die souveränen Grenzen der Ukraine gemäß der UN-Charta zu sichern und durch die Garantien des UN-Sicherheitsrates und anderer Nationen abzusichern.
Der Ukraine-Krieg ist ein extrem gefährlicher Krieg zwischen nuklearen Supermächten in einer Welt, die dringend Frieden und Zusammenarbeit braucht. Es ist an der Zeit, dass die USA und Russland, beides Großmächte der Vergangenheit und der Zukunft, ihre Größe durch gegenseitigen Respekt, Diplomatie und gemeinsame Anstrengungen zeigen, um eine nachhaltige Entwicklung für alle zu gewährleisten –auch für die Menschen in der Ukraine, die am dringendsten Frieden und Wiederaufbau brauchen.
Quelle: 2022-12-05. – (commondreams.org) – Jeffrey Sachs: A Mediator’s Guide to Peace in Ukraine
Weitere Info:
– 2022-12-06. – (democracynow.org) – Interview mit Jeffrey Sachs: Ein ausgehandeltes Abkommen zum Ende der Kämpfe in der Ukraine ist der einzige wirkliche Weg zur Beendigung des Blutvergießens
– 2022-07-03.– (INEP) — Expertentreffen im Vatikan: Friedensplan für einen “gerechten und dauerhaften Frieden in der Ukraine”
– 2022-11-22. – (INEP) – Botschafter Tom Pickering und George Beebe über “Dämonisierung, Gefahren und Diplomatie”