Am 28. Oktober 2024 veröffentlichte die International Crisis Group (ICG) ihre Empfehlung “einen Plan B für Frieden in der Ukraine zu gehen“.
Damit setzte die Crisis Group — wenige Tage vor der US-Präsidentenwahl — eine klare Forderung an die US-Politik: einen realpolitischen Weg zur Beendigung des russischen Krieges in der Ukraine zu gehen anstatt eine irreale “Siegstrategie” zu unterstützen.
Im folgenden Auszüge aus der umfangreichen Studie der International Crisis Group:
Seit dem Scheitern seines anfänglichen Blitzkriegs hat Russland versucht, sich mit massiver militärischer Gewalt und zahlenmäßiger Überlegenheit durchzusetzen.
Fast drei Jahre seit der russischen Invasion in die Ukraine sind beide Armeen aufgerieben. Die Zahl der Opfer geht in die Hunderttausende, riesige Mengen an militärischem Gerät sind zerstört und vieles in der Ukraine liegt in Trümmern. Der Krieg in der Ukraine ist zu einem Erschöpfungskrieg geworden.
Der größte Landkrieg in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg birgt weiterhin die Gefahr einer Eskalation zur direkten Konfrontation zwischen den westlichen Staaten, die die Ukraine militärisch und wirtschaftlich unterstützen – und Russland, der größten Atommacht der Welt.
In Kiew wächst die Einsicht, dass ein Waffenstillstand realistischer ist als ein Sieg auf dem Schlachtfeld.
Der Schlüssel liegt darin, den Weg zu einem dauerhaften Waffenstillstand zu finden, der den Grundstein legt für ein mehr und nicht weniger sicheres Europa.
Die Ukraine und die USA mit anderen westlichen Unterstützern stehen also vor der Herausforderung, den Boden für einen Weg zur Vorbereitung von Gesprächen zu finden, die zu einem dauerhaften Frieden führen und die Auswirkungen der Zugeständnisse, die Kiew möglicherweise machen muss, erträglicher machen.
Das Streben der Ukraine nach einer NATO-Mitgliedschaft wird zweifellos ein Streitpunkt sein – vielleicht noch mehr als während der Gesprächsrunden im Frühjahr 2022. Für Moskau ist die Möglichkeit einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine eine erklärte rote Linie geblieben, und Kiew scheint zwar in den früheren Verhandlungen bereit gewesen zu sein, seine Neutralität zu erklären.
Aber die Position der Ukraine hat sich seitdem ebenso verhärtet wie die ihrer westlichen Partner, und sie wird von diesem Ziel nicht a priori abrücken wollen. Während die NATO die Mitgliedschaft der gesamten Ukraine, die sich im Krieg mit Russland befindet, wahrscheinlich nicht akzeptieren wird, ziehen die USA und andere Verbündete zunehmend Szenarien in Betracht, in denen der nicht okkupierte Teil der Ukraine beitritt.
Aber selbst das wäre für Moskau ein Gräuel, und es gibt auch praktische Herausforderungen. Es ist kaum vorstellbar, wie die Mitgliedschaft eines Teils der Ukraine – oft als “westdeutsches Modell” bezeichnet – ohne eine klar abgegrenzte Front funktionieren soll. Die könnte nur durch einen Waffenstillstand und eine Einigung mit Moskau über den Verlauf der Linien zustande kommen.
Und selbst mit Sicherheitsgarantien wird die Ukraine eine motivierte, gut ausgerüstete ukrainische Armee zu ihrer Verteidigung wollen – und die meisten westlichen Partner werden darin eine Notwendigkeit sehen.
Eine Möglichkeit könnte darin bestehen, dass sich die Ukraine das Recht vorbehält, anstatt eine große stehende Armee zu unterhalten eine fähige Reservetruppe aufzustellen, um ihre Verteidigungsfähigkeit zu unterstreichen.
Auch die militärische Zusammenarbeit mit westlichen Ländern wird umstritten sein. Die Ukraine hat zwei Dutzend bilaterale Sicherheitsabkommen unterzeichnet und könnte diese als Verhandlungsmasse nutzen, da sie weitgehend symbolischen Wert haben. Auch wenn sie auf ihrem Recht bestehen, weiterhin mit den Ukrainern zusammenzuarbeiten, könnten westliche Länder Dinge unterlassen, die Moskau wohl fürchtet , und die kein westlicher Staat tatsächlich vorgeschlagen hat – etwa auf eine permanente Stützpunkte auf ukrainischem Territorium verzichten.
Die Ukraine könnte Russland Anreize bieten, die für die Ukraine relativ günstig sind, Moskau aber dennoch erlauben würden, den Deal als Erfolg zu bezeichnen: Kiew könnte beispielsweise anbieten, der russischen Sprache einen offiziellen Status gemäß den Normen für Minderheitensprachen in europäischen Ländern zu verleihen.
Kiew könnte auch zustimmen, Gesetze zu verabschieden, die bereits illegale Nazisymbole und -Reden weiter einschränken. Nazis haben in Wirklichkeit nur wenige Anhänger unter den Ukrainern, aber diese und ähnliche Schritte würden Putin helfen, zu behaupten, das Land sei „entnazifiziert“ worden.
Die Ukraine könnte die Verfolgung russischer Kriegsverbrecher dem internationalen Justizsystem überlassen, während die ukrainischen Gerichte weiterhin Beweise sammeln und nach Wegen suchen, das Leid der Opfer und ihre Ansprüche anzuerkennen. …
Quelle:
- International Crisis Group: Toward a Plan B for Peace in Ukraine, 25 October 2024 (Auszüge, von der Redaktion (W.Biermann) ins Deutsche übertragen)
- PDF-Datei des ungekürzten Berichts Toward a Plan B for Peace in Ukraine