In einem Beitrag für das Deutsch-Russische Forum formuliert Harald Kujat, General a.D., 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, “Elemente einer politischen Strategie”, mit denen die deutsche Politik nach Kündigung des INF-Vertrags “auf pragmatische und konstruktive Weise” mit Russland den Ausgleich im “Sinne gemeinsamer Sicherheit für ganz Europa” suchen sollte:
Durch die Kündigung des INF-Vertrages entstehen in der Nordatlantischen Allianz zwei Zonen unterschiedlicher Sicherheit. Es ist daher zu bezweifeln, ob die Vereinigten Staaten weiterhin zu ihrer Verpflichtung stehen, notfalls mit allen Mitteln für die gemeinsame Sicherheit einzutreten. Europa muss daher aus Gründen der Selbstbehauptung alles daransetzen, aktiv gegen die durch die Kündigung entstandenen Sicherheitsrisiken vorzugehen.”
Die deutsche Politik habe allen Anlass, dabei aktiv mit dem Ziel voranzugehen, gemeinsam mit Russland wieder ein Klima des Vertrauens, der Berechenbarkeit und der Verlässlichkeit zu schaffen, auf der Basis konstruktiver Zusammenarbeit, des Respekts vor den Sicherheitsinteressen der anderen Seite und mit der Bereitschaft zu einem Interessenausgleich im Sinne gemeinsamer Sicherheit für ganz Europa.
Zu den Elementen einer politischen Strategie auf dem Wege zu diesem Ziel nennt Kujat:
1. Die Mechanismen für Konsultation und Zusammenarbeit, wie sie 1987 im Grundlagenvertrag für eine strategische Partnerschaft zwischen der NATO und Russland vereinbart wurden, sollten reaktiviert werden. … Der NATO- Russland-Rat sollte daher wieder auf allen politischen und der militärischen Ebene zusammenkommen.
2. Vorrang vor allen anderen Fragen des Verhältnisses zu Russland hat die Sicherheit Europas und damit der Erhalt des INF-Vertrages. Dazu sollte das im Mai 2001 ausgelaufene Vor-Ort- Inspektionsregime des INF-Vertrages reaktiviert und um die von Russland beanstandeten Elemente des NATO-Systems zur Abwehr ballistischer Raketen (NATO-BMDS) erweitert werden. Es ist nicht erklärlich, weshalb die Vereinigten Staaten das konkrete Angebot Russlands nicht angenommen haben, den in Frage stehenden Marschflugkörper SSC-8 vor Ort zu inspizieren. Nur wenn der Vertrag in Kraft bleibt, besteht die Aussicht, dass potentielle Vertragspartner, wie China, Indien und Pakistan, für einen Beitritt gewonnen werden.
3. In Ergänzung zum INF-Vertrag sollten Verhandlungen über land-, see- und luftgestützte Marschflugkörper aufgenommen werden, in denen Regeln zur Information über und die Kennzeichnung von nuklearfähigen Systemen zur Unterscheidung von konventionellen Systemen, … aufgenommen werden.
4. Russland und die USA sollten sich alsbald bereiterklären, 2021 die Verhandlungen über die Verlängerung des New START-Abkommens bis 2026 ohne Vorbedingungen aufzunehmen.
5. Russland und die NATO-Staaten sollten sich verpflichten, in einem Streifen ihres Territoriums bzw. des Bündnisgebietes von 200 km bis zur jeweiligen Grenze… keine nuklearfähigen Systeme zu dislozieren.
6. Die KSE-Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte sollten mit dem Ziel weitergehender sicherheits- und vertrauensbildender Maßnahmen und der weiteren Beschränkung von Manövern … wieder aufgenommen werden. Im Grundlagenvertrag haben sich die NATO und Russland dazu verpflichtet, die Wirksamkeit dieses Abkommens zu verbessern….
7. Der Vorschlag des damaligen russische Verteidigungsministers Sergejew vom Februar 2001 an Großbritannien, Frankreich, Deutschland und den NATO-Generalsekretär zu einem „gesamteuropäischen Raketenabwehrsystem“ mit einer Reichweite bis 5000 km sollte unter der Ägide des NATO-Russlandrates aufgegriffen werden. …
Quelle: https://www.deutsch-russisches-forum.de/portal/wp-content/uploads/2019/05/Kujat_Beitrag.pdf?