Michail Gorbatschow fordert in einem Interview mit der japanischen Zeitung Asahi Shimbun am 17. Dezember 2019 die USA und Russland auf, endlich wieder die Zusammenarbeit zur Verringerung der Atomkriegsgefahr aufzunehmen.
Nach dem Rückzug der Trump-Administration vom INF-Vertrag, und den Plänen zum Bau von Nuklearwaffen mit „geringerer Sprengkraft» und dem drohenden Aus für den neu-START-Vertrag, sei es das „Wichtigste, dafür zu sorgen, dass die Welt nicht nicht wieder in Wettrüsten, Konfrontation und Feindseligkeit abrutscht. Trotz alledem glaube ich, dass wir immer noch in der Lage sind, dies zu verhindern.“
Bereits am 04. November hatte Gorbatschow in einem ausführlichen BBC-Interview die Abschaffung aller Atomwaffen erklärt, „um einen Dritten Weltkrieg zu verhindern“.
Aber im Interview mit der japanischen Zeitung beschreibt er außerdem, warum der Tschernobyl-Unfallentscheidenden welchen Einfluss auf sein sicherheitspolitisches Denken und seinen Einsatz für vollständige Abschaffung aller Nuklearwaffen hatte.
Im folgenden ein Auszug aus dem Gorbatschow-Interview mit der japanischen Zeitung Asahi Shimbun, für die Redaktion übersetzt und redigiert von Wolfgang Biermann und Niels Dubrow.
Frage: Nachdem Sie so hart auf die Unterzeichnung des Vertrags über das Verbot von nuklearen Mittelstreckenraketen (INF) hingearbeitet hatten — Wie stehen Sie zur Kündigung dieses Vertrags?
Gorbatschow: Ich möchte Sie an die Idee erinnern, die für mich die treibende Kraft auf dem Weg zu diesem Vertrag war. Dies war der Schlüsselsatz in der gemeinsamen Erklärung der Chefs der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten, den wir bei unserem ersten Treffen (1985) in Genf vereinbart hatten: „Ein Atomkrieg ist unakzeptabel, und es wird keine Gewinner in einem Atomkrieg geben.“
Wir hatten angekündigt, dass wir die Atomwaffen abschaffen müssten. Dafür bete ich immer noch.
Dies war der erste Schritt unserer Staaten zur Überprüfung ihrer jeweiligen Militärdoktrinen, mit dem Ziel, die Abhängigkeit von Atomwaffen zu verringern. Seit dem Höhepunkt des Kalten Krieges konnten Russland und die USA die Zahl ihrer Atomwaffen um mehr als 80 Prozent reduzieren.
Die Länder Ost- und Westeuropas einigten sich auf die Reduzierung ihrer Streitkräfte und Waffen. Dies war die „Friedensdividende“, die alle als Ergebnis des Endes des Kalten Krieges erhielten.
Frage: Aber wie wird sich die Abschaffung all der Rüstungsbegrenzungsverträge auf die Zukunft der Welt auswirken?
Gorbatschow: Die Entscheidung der Vereinigten Staaten, sich aus der INF zurückzuziehen, droht eine Kettenreaktion von Ereignissen auszulösen, die all diese Vereinbarungen abschaffen würden.
Die Vereinigten Staaten haben sich geweigert, den Vertrag über das umfassende Atomtestverbot (CTBT) zu ratifizieren. Als Ergebnis ihrer Entscheidung im Jahre 2002 hatten die Vereinigten Staaten den Vertrag über die Beschränkung von Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag) für nichtig erklärt.Von den drei Hauptpfeilern der globalen strategischen Stabilität – ABM-, INF- und START- Vertrag (über strategische Rüstungen) ist nur einer noch in Kraft, aber selbst das Schicksal des 2010 unterzeichneten New START- Vertages ist völlig ungewiss.
Das Motiv für die Entscheidung der Vereinigten Staaten, sich aus dem INF zurückzuziehen, ist ihr Bestreben sich von jeglichen Verpflichtungen zur Begrenzung von Waffen zu befreien, um die absolute militärische Übermacht zu erzielen. Das ist ein illusorisches Ziel, eine unerfüllbare Hoffnung. Hegemonie durch ein einziges Land ist in der heutigen Welt nicht möglich. Das Ergebnis wäre eine Destabilisierung der globalen strategischen Situation, ein neues Wettrüsten und die Willkürlichkeit und Unberechenbarkeit der globalen Politik. Die Sicherheit jedes Landes, einschließlich der der Vereinigten Staaten, wird darunter leiden.
Frage: Was möchten Sie dem derzeitigen US-Präsidenten sagen?
Gorbatschow: Ich höre vom derzeitigen US-Präsidenten, dass die Vereinigten Staaten das reichste Land seien, dass sie mehr Geld hätten als alle anderen, um es für ein neues Wettrüsten auszugeben. Gegen wen plant Amerika zu kämpfen? Das erste Land, an das ich denke, ist natürlich Russland.
Wir sollten uns niemals wieder auf einen Kurs einlassen, der zur Entwicklung von Atomwaffen für ein neues Wettrüsten führt. Wir müssen aufhören, an Wunschträumen zu arbeiten, und uns für Realpolitik engagieren. Wir brauchen keine Apokalypse! Wir brauchen Frieden!
Frage: Ich verstehe, dass ein Katalysator für Ihre Unterzeichnung des INF-Vertrages der Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl war. Können Sie das erklären?
Gorbatschow: Die Explosion des Atomreaktors im Kernkraftwerk Tschernobyl zeigte uns die wichtigsten Grenzen in der Geschichte unseres Landes und der Welt. Sie machte die Probleme in der Sowjetunion offenkundig und erinnerte uns an die kolossale Vernichtungskraft der Atomenergie und der Atomwaffen. …
Mein Leben wurde in zwei Phasen aufgeteilt: die Zeit vor dem Unfall, vor der Tschernobyl-Katastrophe und die Zeit danach. Die Leute versuchten in Tschernobyl, weitere Atomexplosionen dort zu verhindern, aber es fehlte ihnen immer noch das Verständnis dafür, was Japan 1945 durchgemacht hatte. Und diese Erfahrung hat uns gezeigt, dass wir etwas gegen Atomwaffen unternehmen müssen.
Frage: Nach dem Unfall von Tschernobyl hielten Sie im Mai 1986 im Fernsehen eine Rede, in der Sie US-Präsident Ronald Reagan zu einem Treffen in einer europäischen Hauptstadt oder sogar in Hiroshima einluden. Warum machten Sie diesen Vorschlag ?
Gorbatschow: Ich glaube, niemand will ein weiteres Hiroshima. Aber die mächtigen Staaten, die über 90 Prozent des nuklearen Arsenals verfügen, müssen der weltweiten Öffentlichkeit beweisen, dass wir uns auf die Abschaffung dieser Waffen zubewegen. Russland ist dazu bereit.
Frage: Was für Aufrufe zur Beseitigung von Atomwaffen haben Sie unternommen?
Gorbatschow: Ich halte einen Atomkrieg für inakzeptabel. Nur ein Verrückter würde einen Atomkrieg beginnen. Auch während der obligatorischen Ausbildung eines [sowjetischen] Staatsoberhauptes habe ich nie diesen Knopf im sogenannten „nuklearen Aktenkoffer“ gedrückt.
Kürzlich schrieb ich an Friedensnobelpreisträger und forderte sie auf, die Staats- und Regierungschefs der Atomwaffenstaaten zu drängen, die Gesprächen über die Reduzierung und Beseitigung von Atomarsenalen wiederaufzunehmen. Einige unserer Experten loben die Atomwaffen. Sie sagen, dass Atomwaffen die Welt vor dem Krieg bewahrt haben. Aber zumindest einmal brachten sie die Welt an den Rand der Selbstzerstörung. Ich beziehe mich auf die Kubakrise. Dies sollte niemals vergessen werden.
Frage: Was müsste Ihrer Meinung nach jetzt getan werden?
Gorbatschow: Ich denke, dass die Gespräche zwischen den Vereinigten Staaten und Russland sofort wieder aufgenommen werden müssen. In diesen Gesprächen müssen nicht nur die Themen INF-Vertrag oder die Fortsetzung des neu-START-Vertrages besprochen werden, sondern auch die wichtigsten Fragen von Frieden und Sicherheit. In erster Linie über die Notwendigkeit, wie sich eine Bewegung in Richtung auf eine Welt ohne Atomwaffen wiederherstellen lässt. Alle Atomwaffenstaaten müssen entscheidende Schritte in Richtung einer atomwaffenfreien Welt unternehmen. Nukleare Abschreckung schützt die Welt nicht vor einem nuklearen Unfall oder vor nuklearem Terrorismus, sondern würde sie weiterhin einer ständigen Bedrohung aussetzen. ….
Quelle: Gorbachev: Don’t give up hope for world without nuclear weapons THE ASAHI SHIMBUN December 17, 2019