Statt aufzurüsten sollte der Westen für einen Erstschlagverzicht eintreten” .
Aus Anlass der Zehnten Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrag (NVV/NPT) im August 2022 analysieren die Friedensforscherinnen Caroline Fehl (HSFK), Maren Vieluf (IFSH) und der Friedensforscher Sascha Hach (HSFK, Mitbegründer von ICAN) die Entwicklung des NPY, die “drohende Erosion dieses Grundpfeilers der globalen Rüstungskontrolle” und die “Schattenseiten der nuklearen Abschreckung, die der Ukrainekrieg offenlegt”:
Diesen Monat tagt in New York die Zehnte Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrags (Non-Proliferation Treaty, NPT). … Der Krieg und die nuklearen Drohungen Russlands befördern eine Renaissance der nuklearen Abschreckung und Aufrüstung und vertiefen bestehende Risse im NPT. Die gegenwärtige Krise der Abschreckungspolitik … kann – wie schon bei der Kubakrise im Kalten Krieg – Chancen für Deeskalation, Abrüstung und Rüstungskontrolle eröffnen.
Trotz seiner Erfolgsbilanz war der NPT seit seiner Unterzeichnung 1968 auch immer Schauplatz von Streit und Krisen. Dazu gehörten zum einen regionale Proliferationskrisen: Nordkorea und Iran trieben ihre nukleare Bewaffnung voran, obwohl sie den NPT ratifiziert hatten. … Während des Kalten Krieges, besonders in den Achtzigerjahren, rüsteten die Nuklearmächte drastisch auf. Zwar wurden die Arsenale danach wieder verkleinert, jedoch blieb die Zahl der Sprengköpfe weiter sehr hoch (aktuell geschätzt 12 705 Sprengköpfe weltweit). Aus diesem Grund drohte die unbegrenzte Verlängerung des ursprünglich auf 25 Jahre befristeten Vertrags im Jahr 1995 beinahe zu scheitern. Heute verfolgen alle NPT-Nuklearwaffenstaaten umfassende Modernisierungsprogramme ihrer Arsenale und entwickeln neue Trägersysteme. Einige – China und Großbritannien – erhöhen sogar die Zahl ihrer Sprengköpfe.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine verschärft diese Probleme. …
Zugleich ist eine Verschärfung und Vermehrung regionaler Proliferation zu befürchten. In sozialen Netzwerken und Medienwird häufig argumentiert, die russische Aggression gegen die Ukraine wäre nicht erfolgt, hätte die Ukraine über Nuklearwaffen verfügt. Zwar hatte die Ukraine tatsächlich nie die Kommandogewalt über das nach dem Zerfall der Sowjetunion auf ihrem Territorium stationierte Arsenal. Dennoch haben Kernwaffen für einige Staaten angesichts des russischen Überfalls an Attraktivität gewonnen. Der Bruch des Budapester Memorandums hat das Vertrauen in negative Sicherheitsgarantien erschüttert. …
Was bedeutet all das für die anstehende NPT-Überprüfungskonferenz? Wenn sich die 191 NPT-Mitgliedstaaten in New York versammeln, tun sie das in einem langen Schatten, den der Krieg in der fernen Ostukraine wirft. Hier lohnt sich für die Delegierten der Blick zurück in die Geschichte:
Die „Kubakrise“ vor knapp 60 Jahren war wie der Ukrainekrieg ein Stresstest der nuklearen Abschreckung. Im Herbst 1962 führten die Stationierung sowjetischer Mittelstreckenraketen auf Kuba und die daraufhin verhängte US-amerikanische Seeblockade die Welt an den Rand eines Atomkrieges. Nach 13 Tagen endete die Krise mit dem Abzug der sowjetischen Nuklearwaffen im Gegenzug für (öffentliche und nicht-öffentliche) US-Konzessionen. Auch damals werteten westliche Analysten und Entscheidungsträger dies als Beleg für das Funktionieren (US-amerikanischer) nuklearer Abschreckung. Auch damals rechtfertigte man damit nukleare Aufrüstung.
Dennoch war die Kubakrise als „transformatives Ereignis“ auch entscheidend für den Aufbau vertrauensbildender und risikominimierender Maßnahmen zwischen den beiden Nuklearmächten. Hierzu gehören die Einrichtung direkter Kontakte auf höchster militärischer und politischer Ebene sowie Dialoge zur strategischen Stabilität. Auf globaler Ebene kooperierten Russland und die USA, um die nukleare Ordnung – freilich zu ihrem Vorteil – stabil zu halten. Beispiele hierfür waren der Ausbau der Rolle der Internationalen Atomenergie-Organisation und eben jener Nukleare Nichtverbreitungsvertrag, dessen Mitglieder im August 2022 in New York tagen.
Auch der Ukrainekrieg birgt eine solche transformative Chance, wenn die aus der nuklearen Abschreckung erwachsenen Eskalationsgefahren ernst genommen werden. …
Auch der Ukrainekrieg birgt eine solche transformative Chance, wenn die aus der nuklearen Abschreckung erwachsenen Eskalationsgefahren ernst genommen werden. Die nukleare Deeskalationspolitik der Biden-Administration und der NATO war ein richtiger Schritt. Auch die Nutzung höchster militärischen Kontaktpunkte, um Fehlwahrnehmungen zu vermeiden, haben dabei geholfen, dass bisher eine unbeabsichtigte Ausweitung oder gar nukleare Eskalation des Ukrainekrieges verhindert wurden. Diese Bemühungen um Risikominimierung müssen weiter verstärkt und konsolidiert werden – auch im Rahmen des NPT.
Die USA, Frankreich, Großbritannien und ihre Verbündeten sollten auf der Überprüfungskonferenz Initiative zur Stärkung des nuklearen Tabus ergreifen. Am überzeugendsten wäre eine gemeinsame Erklärung zum Verzicht auf Ersteinsatz, verbunden mit einer völkerrechtlich verbindlichen Zusicherung, Staaten nicht nuklear anzugreifen, die dem NPT und dem Vertrag zum Verbot von Nuklearwaffen oder einer nuklearwaffenfreien Zone angehören.
Eine Reduzierung der Abschreckung auf ein Minimum – nukleare Wehrhaftigkeit im Falle eines nuklearen Angriffs – ist nötig, um die riskante Entgrenzung der Abschreckung der vergangenen Jahre zu beenden. Da ein NATO-Ersteinsatz ohnehin ausgeschlossen sein dürfte, würde eine öffentliche Erklärung keinen Verlust militärischer Optionen bedeuten. Vielmehr könnte der Westen so auf globaler Ebene eine Anti-Atomkriegs-Allianz schmieden, ohne andere Staaten vor die Wahl zu stellen, Partei in diesem Krieg zu ergreifen.
Andere Großmächte (China, Indien, Brasilien, Südafrika) und zahlreiche Nichtnuklearwaffenstaaten unterstützen eine Politik der nuklearen Zurückhaltung, wollen sich aber nicht in einen neuen Ost-West-Konflikt hineinziehen lassen. Mit einem breiten Bündnis gegen den Einsatz von Nuklearwaffen könnte der Druck auf Russland erhöht werden, von weiteren nuklearen Drohungen abzusehen, um sich nicht zu isolieren. Zugleich sollten die westlichen Nuklearwaffenstaaten das von Russland zerstörte Vertrauen in negative Sicherheitsgarantien wiederherstellen und das nukleare Nichtverbreitungsregime damit stützen.
Quelle: 2022-08-11.– (ipg-journal.de, Außen- und Sicherheitspolitik) — (Caroline Fehl & Maren Vieluf & Sascha Hach) — Europas Kubakrise — Der Ukrainekrieg legt die Schwächen der nuklearen Abschreckung offen. Statt aufzurüsten sollte der Westen für einen Erstschlagverzicht eintreten.