Für seine Strategie des „Wandels durch Annäherung“ wurde Egon Bahr von der Evangelischen Akademie Tutzing im Jahre 2012 mit dem “Trutziger Löwen” ausgezeichnet. Aus diesem Anlass hielt er einen kurzen Vortrag mit Schlussfolgerungen für “heute”, noch vor der Ukraine-Krise. Sein Schlusssatz ist heute angesichts der an den Kalten Krieg erinnernden Konfrontation für die Erhaltung des Friedens dringender denn je: “Eine friedliche Welt verlangt Regeln für alle Staaten. Dazu gehört dann unausweichlich und unentbehrlich die Zusammenarbeit mit Nicht-Demokraten. Die Modernisierung des Wandels durch Annäherung heißt heute: Globalisierung durch Annäherung.” Hier der Originaltext von Egon Bahrs
“Rück-Sicht vor der Evangelischen Akademie Tutzing“:
Die Modernisierung des Wandels durch Annäherung heißt heute: Globalisierung durch Annäherung.
Bei der Einladung für die Preisverleihung möchte ich einige kleine Präzisionen vornehmen. Vor allem: Ich habe 1963 keine Rede gehalten.
Roland Messner, der damalige Direktor der Akademie hatte den Regierenden Bürgermeister (Willy Brandt) gebeten, seine künftigen Vorstellungen zur Außen- und Sicherheitspolitik im Falle seiner Wahl zum Bundeskanzler in Tutzing darzulegen. Der Ort hatte den Ruf, dass auch politische Gegner respektvoll miteinander umgehen und ein offenes Wort wagen könnten.
Die Rede war das Produkt langer und sorgfältiger Arbeit. Die Manuskripte gingen zwischen Brandt und mir hin und her. Die Rede liest sich auch heute noch hervorragend. Als Messner mich anrief und darum bat, mich auf einen kleinen Diskussionsbeitrag vorzubereiten, war ich ratlos, denn der Kopf war leer.
Schließlich sagte ich zu und hatte den Einfall, einen Punkt aus der Rede Brandts zu nehmen und ihn für die Konsequenzen des Verhältnisses zwischen den beiden deutschen Staaten zu exemplifizieren.
Den Text diktierte ich in einer Stunde herunter.
Darin stand auch ‘Wandel durch Annäherung’ , was meinem Stellvertreter eine gute Überschrift schien.
Das Ganze gab ich Brandt auf dem Fluge nach München zu lesen. Er nickte kommentarlos. Auf das Echo hingegen reagierte er mit Recht unwirsch. Wir waren in unserem Denken dem Bewusstsein der Öffentlichkeit so weit voraus, dass wir zwar seine Rede, aber nicht meine Erläuterung aufregend fanden. Herbert Wehner reagierte: Das ist „bahrer“ Unsinn. Und wenn Brandt nicht ebenso fürsorglich wie mutig seine Hand über mich gehalten hätte, wäre ich wieder Journalist geworden, hätte mehr Geld verdient und weniger Ärger gehabt.
Der Zwang zum neuen Denken begann nach der Mauer. Sie hatte bewiesen, schmerzhaft und grausam: Alle Vier Mächte waren mit der Teilung zufrieden, der Stadt, des Landes, Europas.
Präsident Kennedy hatte in einem Brief an Brandt geschrieben, die Mauer könne nur durch Krieg beseitigt werden, und den wolle niemand. Wir fühlten uns sehr allein als Objekte der großen Politik.
Niemand würde uns helfen, auch nur einen kleinen Spalt in die Mauer zu bringen, um unsere deutschen Interessen zu wahren und einen kommunalen Notstand zu mildern.
Das Nachdenken ergab die Analyse: Wir könnten nur unterhalb der Siegerrechte und in voller Respektierung dieser unkündbaren Rechte versuchen , tätig zu werden. Die Sondierung ergab, niemand hatte etwas dagegen, auch nicht die Bundesregierung, über menschliche Erleichterungen in der Stadt zu verhandeln.
Die Konsequenz führte zum ersten Tabubruch, nämlich mit der DDR, der “anderen Seite “ zu verhandeln. Niemand hatte eine Ahnung, was daraus werden würde. Wir auch nicht. Es entsprach einem neuen Prinzip, mit denen zu sprechen, von denen man etwas will. Wir wollten Passierscheine.
“Mit Gefängniswärtern verhandelt man nicht”, war der Angriff der CDU und Brandt erwiderte: wer etwas erreichen will, muss sich dem zuwenden, von dem er etwas will.
Der zweite Tabubruch erfolgte 1969 in der ersten Regierungserklärung des Bundeskanzlers Brandt.
Er nannte die DDR einen Staat, auch wenn sie kein Ausland sein könne. ‘Wandel durch Annäherung’ wurde die Anwendung des Kennedy Wortes: „Wer den Status Quo ändern will, muss ihn anerkennen.“ Damals gab es noch keinerlei Vorstellung, dass Ende 1971 ein historischer Markstein in der Nachkriegsgeschichte erreicht werden würde, wo die Vier Mächte erstmals nicht mehr allein in Deutschland verfügen konnten. Das wurde zwar Vier Mächte-Abkommen genannt, aber die Vier mussten warten, bis die beiden deutschen Regierungen den Kern, die Einzelheiten des zivilen deutschen Transitverkehrs vereinbart hatten, ehe sie das Ganze in Kraft setzen konnten.
Das Modell 4 + 2 war geboren. 18 Jahre später wurde daraus das Abkommen 2 + 4, als die Sieger gar nicht mehr anders konnten, wie internationale Notare dem vereinten Deutschland seine volle Souveränität zu bestätigen und zurückzugeben.
Was Wandel durch Annäherung bewirken kann, habe ich gerade in Taiwan gelernt. Die Regierung hatte kurz vor Weihnachten mich und meine Frau eingeladen, um über „Wandel durch Annäherung, kleine Schritte, Grundlagenvertrag und Gewaltverzicht“ zu sprechen. Meine Überraschung war groß Meine Gesprächspartner benutzten die Begriffe in akzentfreiem Deutsch. Sie waren ihnen geläufig und hatten sie auf ihre drei Grundsätze übertragen:
Es gibt nur ein China, keine Vereinigungspolitik und Gewaltverzicht. Diese Politik hat bewundernswerte Ergebnisse erzielt. Ein China wird in Peking anders interpretiert als in Taipeh, aber ist die gemeinsame Basis des Verhältnisses von Gewaltverzicht zur Einheit.
Natürlich vergisst man weder da noch dort auch nur eine Sekunde lang, dass auf der einen Seite ein kommunistisch gelenkter Ein-Parteienstaat und auf der anderen Seite eine Demokratie existiert.
Wir haben diese Unterschiede bei unseren Verhandlungen in Moskau und Berlin auch keine Sekunde vergessen. Ich habe mich innerlich lächelnd daran erinnert: Beide Seiten hatten keinerlei Bekehrungsversuche unternommen. Die Mechanismen funktionieren in Asien wie in Europa ganz ähnlich, wenn es um die Organisation eines friedlichen Modus Vivendi geht.
Das Ergebnis in Taipeh imponiert. Der kleine Stadtflughafen fertigt täglich 500 Starts und Landungen nach China und Japan ab. Für Frankfurt lautet die Vergleichszahl 800. Es gibt einen Massentourismus in beiden Richtungen.
Dem entspricht eine wirtschaftliche Verflechtung in beide Richtungen, einschließlich von technischen Entwicklungen und Investitionen. Die vorzügliche chinesische Küche unterliegt Mutationen, nachdem die Spuren der fünfzigjährigen Besetzung durch Japan von 1895 – 1945 , übrigens auch architektonisch unverkennbar sind.
Dann kam Amerika als Ablösung, ebenfalls in Küche und Architektur spürbar. Das Ergebnis in Europa ist eindrucksvoll: Die Teilung Berlins wurde überwunden, die Teilung Deutschlands und die Teilung Europas wurden überwunden. Die Entspannung war wichtiger als die Ideologie , wie später zwischen China und Taiwan.
Seit Präsident Kennedy bei seinem Besuch 1963 erklärt hat: „Ich bin ein Berliner“ ist der Status in Berlin stabil geblieben. Es hat danach keine Krise mehr gegeben und auch keinen politischen oder diplomatischen Versuch zur Lösung der deutschen Frage oder zur Überwindung der deutschen Teilung.
Die Voraussetzung dafür schuf die deutsche Entspannungspolitik, leidenschaftlich bekämpft, bis Kohl Kanzler wurde und sie fortsetzte. Die Stabilität der Sicherheit haben die beiden Supermächte in Europa garantiert, sehr verantwortungsbewusst nach Kuba, bis die Präsidenten Bush, d.Ä. und Gorbatschow die Raketen und die größte Dichte konventioneller Waffen in der Welt beseitigten, die sie hier gegen einander aufgestellt hatten.
Im Ergebnis ist Europa nicht mehr allein kriegserklärungsfähig und so schwach und friedlich, dass Washington und Moskau sich Asien zuwenden können, wo es inzwischen die größte Ansammlung von Waffen und Konflikten jeder Art gibt, ohne dass auch nur irgend ein Abkommen zur Vertrauensbildung existiert.
Präsident Obama hat nun in Australien erklärt: Amerika ist dort hingekommen, um zu bleiben. Man kann hoffen, dass sein Wort die gleiche Stabilität in Asien bewirkt wie das Wort seines Vorgängers Kennedy in Europa. Globalität ist zu Recht das Stichwort des neuen Jahrhunderts geworden. Der Klimawandel ist nicht beherrschbar, die Zunahme der Menschheit ist nicht gestoppt, der absehbare Mangel an Wasser auch nicht.
Konflikte sind denkbar. Dazu kommt die große neue Technologie, das Internet und seine Vermittler, die Handys, können nicht mehr entfunden werden. Sie wirken weltweit und sind nicht kontrollierbar.
Unbestritten ist die neue Technologie nicht nur eine segensreiche Einrichtung im täglichen Leben, sondern auch kriegerisch nutzbar und hat bereits den Namen Cyber War. Das Bewusstsein der Abschreckung wächst., weil kein einziges dieser Probleme mit Gewalt lösbar scheint. Zusammenarbeit statt Konfrontation ist das Stichwort für das Überleben auf unserer Erde.
Deutschland hat gerade drei strategische Partnerschaften vereinbart, mit der Mongolei, mit China und mit Kasachstan. In jedem dieser Länder gibt es wichtige Rohstoffe. In keinem dieser Länder existiert eine Demokratie nach unserer Machart und die Menschenrechte werden dort jedenfalls anders buchstabiert. Das ist wie in Saudi-Arabien. Da funktioniert die strategische Partnerschaft auch ohne förmliche Erklärung schon länger.
Amerika sieht in China zuerst den Partner, auch wenn er Gegner bleibt, und behandelt Nordkorea mit Samthandschuhen in der Erwartung, dass China bei der Kontrolle der Atomwaffen Nordkoreas hilft. Eine friedliche Welt verlangt Regeln für alle Staaten. Dazu gehört dann unausweichlich und unentbehrlich die Zusammenarbeit mit Nicht-Demokraten.
Die Modernisierung des Wandels durch Annäherung heißt heute: Globalisierung durch Annäherung.
Quelle: 2012-02-13. — Egon Bahr: Rück-Sicht vor der Evangelischen Akademie Tutzing – (persönliches Archiv Wolfgang Biermann)