Am 23.10.2018 kommentierte SIPRI Direktor Dan Smith die Hintergründe und Folgen der Ankündigung Trumps über den Ausstieg aus dem INF-Vertrag:
Bei einer politischen Kundgebung am Samstag, dem 20. Oktober, kündigte US-Präsident Donald J. Trump an, die Vereinigten Staaten würden sich aus dem Vertrag von 1987 über die Beseitigung der landgestützten Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag) zurückziehen werden. Dies bestätigt eine seit Jahren andauernde Entwicklung: Die Architektur der russisch-amerikanischen Rüstungskontrollvereinbarungen über Nuklearwaffen zerbröckelt.
Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden auf der Grundlage des 1972 vereinbarten Vertrages zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen (ABM-Vertrag) vier neue Bausteine der Ost-West-Rüstungskontrolle aufgebaut:
- Durch den INF-Vertrag von 1987 wurden alle landgestützten Raketen mit Reichweite zwischen 500 und 5500 Kilometern einschließlich Cruise Missiles und ballistischer Raketen eliminiert.
- Mit dem Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa von 1990 (KSE-Vertrag) wurde die Anzahl der schweren Waffen, die von Mitgliedern der Nordatlantikvertrags-Organisation (NATO) und der Warschauer Vertragsorganisation (WTO) zwischen dem Atlantik und dem Ural eingesetzt wurden, in gleicher Höhe abgebaut und begrenzt.
- Der Vertrag von 1991 über Abbau und Begrenzung strategischer Offensivwaffen (START I) verringerte die Anzahl strategischer Nuklearwaffen. Im Vertrag über Maßnahmen zur weiteren Verringerung und Begrenzung strategischer Offensivwaffen (New START) wurden 2002 und 2010 weitere Kürzungen vereinbart.
- Die Präsidenten-Nuklearinitiativen (PNI) von 1991 waren parallele, einseitige, aber vereinbarte Abrüstungsmaßnahmen der Sowjetunion und der USA zur Beseitigung tausender taktischer Atomwaffen.
Zusammengenommen hatten die Nuklearverträge – der INF-Vertrag, START I und die PNI – enorme Auswirkungen, die Einschätzung der Bestände an nuklearen Sprengköpfen, 1945–2018 zeigt:
Abbildung 1.
Voraussichtliche Bestände an nuklearen Sprengköpfen, 1945–2018
Quelle: Kristensen, H. M. and Norris, R. S., ‘Status of world nuclear forces’, Federation of American Scientists, 2018.
Der schnellste Abbau von Nuklearwaffen war in den 1990er Jahren. Kurz vor Beginn des neuen Jahrhunderts wurden weniger Atomwaffen abgebaut, und in den letzten sechs Jahren immer weniger. Trotzdem sinkt die Zahl von Jahr zu Jahr weiter. Zu Beginn des Jahres 2018 waren weltweit 14.700 Atomwaffen im Vergleich zu einem Höchststand von etwa 70.000 Mitte der achtziger Jahre. Zwar sind Atomwaffen in vielerlei Hinsicht leistungsfähiger als zuvor, die Reduzierung ist jedoch sowohl groß als auch bedeutend.
Risse durch Vorwürfe und Gegenvorwürfe
Auch wenn die Zahl weiter zurückging, entstanden neue Probleme. 2002 zogen sich die USA einseitig aus dem ABM-Vertrag zurück. Die Kündigung des ABM-Vertrags hatte Russland und die USA zwar nicht davon abgehalten, den Vertrag über strategische Offensive (SORT-Vertrag) im Jahr 2002 und New START im Jahr 2010 zu unterzeichnen, aber sie war Vorläufer für spätere Entwicklungen.
Die Ankündigung von Trump, aus dem INF-Vertrag auszusteigen, ist nur das Ergebnis eines seit einigen Jahren andauernden Prozesses. Die USA warfen Russland im Juli 2014 vor, gegen den INF-Vertrag zu verstossen. Das war während der Obama-Regierung. Der Vorwurf, Russland habe gegen den INF-Vertrag verstoßen, ist mit anderen Worten nicht neu. Auch in diesem Jahr haben sich die NATO-Verbündeten der USA mit der US-amerikanischen in dem Vorwurf einig, wenn auch (in Ziffer 46 der Erklärung vom Juli-Gipfel der NATO) etwas zurückhaltend.
Der Vorwurf ist, Russland habe eine bodengestützte Marschflugkörper mit einer Reichweite von mehr als 500 Kilometern entwickelt habe. Viele Details wurden nicht eindeutig in der Öffentlichkeit dargelegt, aber es scheint, dass Russland eine seegestützte Rakete (die Kalibr) modifiziert und mit einem mobilen bodengestützten Raketenwerfer (dem System Iskander K) kombiniert hat. Das modifizierte System wird manchmal als 9M729, SSC-8 oder SSC-X-8 bezeichnet.
Russland weist die US-Vorwürfe zurück. Es macht Gegenvorwürfe, dass die USA selbst in drei Bereichen gegen den INF-Vertrag verstoßen hätten: erstens durch den Einsatz von Raketen, deren Zielsysteme nach dem dem Vertrag verboten sind; zweitens durch den Einsatz von Drohnen, bei denen es sich tatsächlich um Marschflugkörper handele; und drittens, dass ein seegestütztes Raketenabwehrsystem an Land (Aegis Ashore) stationierten, obwohl seine Abschusssysteme nach Ansicht der Russen für Raketen mittlerer Reichweite geeignet seien. Natürlich weisen die USA diese Vorwürfe zurück.
Ein weiterer russischer Vorwurf der Verletzung des INF-Vertrages durch die USA ist,dass die USA die Special Verification Commission (eine Fachleute-Kommission zur Überprüfungder Einhaltung des Vertrages) hätten nutzen müssen, um die angebliche Nichteinhaltung zu diskutieren. Dieses Verfahren wurde speziell vereinbart, um Fragen zur Einhaltung der Vertragspflichten jeder Seite zu beantworten. Die Kommission trat zwischen 2003 und November 2016 nicht zusammen, und in diesem Zeitraum von 13 Jahren erklärten die Besorgnisse der USA über russische Marschflugkörper auf.
Nun scheint Trump die Diskussion beendet zu haben, indem er den Rückzug ankündigt. Gemäß Artikel XV des Vertrags kann der Rücktritt nach einer Frist von sechs Monaten erfolgen. Wenn es nicht zu einer baldigen Veränderung des Verhaltens einer oder beider Seiten kommt, wird der INF-Vertrag wahrscheinlich bis April 2019 tot sein.
Es könnte jedoch sein, dass Trumps Ankündigung als Manöver gedacht ist, um russische Zugeständnisse bei der angeblichen Raketenstationierung oder bei anderen Aspekte einer zunehmend angespannten russisch-amerikanischen Beziehungen zu erhalten. Dies sei, so der stellvertretende russische Außenminister Sergej Ryabkow, eine “Erpressung”.
Rüstungskontrolle in Schwierigkeiten
Ob der bevorstehende Tod des INF-Vertrags eher möglicherweise oder tatsächlich passiert, ist im größeren Zusammenhang zu sehen. Die Rüstungskontrolle steckt in großen Schwierigkeiten. Neben der Kündigung des ABM-Vertrags durch die USA im Jahr 2002 sind dies weitere Schritte:
- Russland zog sich 2015 effektiv aus dem KSE-Vertrag zurück und argumentierte, dass gleiche Obergrenze nicht mehr angemessen seien, nachdem fünf ehemalige WTO-Staaten der NATO beigetreten waren.
- Das neue START-Abkommen von 2010 über strategische Nuklearwaffen läuft 2021 aus, und es gibt derzeit keine Gespräche über eine Verlängerung oder Ersetzung dieser Vereinbarung. und
- Russland behauptet, dass die USA New START technisch verletzen, weil einige US-Trägerraketen auf nicht-nukleare Einsatzmöglichkeit umgestellt wurden, die für Russland nicht erkennbar ist. Daher kann Russland sie nicht so überprüfen, wie es der Vertrag vorschreibt. Die russische Regierung meint daher, dass ohne Lösung dieses Problems Verhandlungen über eine Verlängerung des Vertrages nicht möglich seien, trotz des bevorstehenden Ablaufdatums von New START.
Wahrscheinlich wird die Krise der russisch-amerikanischen Rüstungskontrolle gleichzeitig das nukleare Nichtverbreitungsregime (NPT / NVV) unter Druck setzen und die Argumentation für den 2017 von der UNGV beschlossenen Vertrag über das Verbot von Atomwaffen (TPNW oder Atomwaffenverbot) stärken . Für die Befürworter des Atomwaffenverbots ist die Erosion der Rüstungskontrolle ein Argument für den Übergang in eine Welt ohne Atomwaffen. Für seine Gegner zeigt die Erosion der Rüstungskontrolle, dass die Welt überhaupt nicht zum Atomwaffenverbot bereit oder in der Lage ist.
Die Gefahr eines neuen atomaren Wettrüstens zwischen Russland und USA ist eindeutig. Damit ist die mit dem Ende des Kalten Krieges gewonnene und genossene Sicherheit stark bedroht. In Anbetracht des wohlverdienten Rufes, dass die Präsidenten Russlands und der USA für Überraschungen sorgen, kann es in den nächsten Wochen oder Tagen Entwicklungen in die eine oder andere Richtung geben.
Quelle: SIPRI Director Dan Plesh – The crumbling architecture of arms control; informelle Übersetzung der Redaktion (wb,fs).