Zwei langjährige Diplomaten und konservative Präsidentenberater zu Russlandfragen – Botschafter Thomas R. Pickering (u.a. unter Präsident Bush Repräsentant der USA bei der UN) , sowie George Beebe (u.a. ehem. Russland-Chefberater von Vizepräsident Dick Cheney) – hatten mit einer Stellungnahme auf die Mitteilung des “Progressive Caucus” im US-Kongress reagiert, den Brief von rund 30 demokratischen US-Kongressabgeordneten am 24. Oktober 2022 an Präsident Biden mit der Forderung nach Waffenstillstandsverhandlungen zurückzuziehen. In ihrem Brief hatten die 30 Abgeordneten u.a. formuliert:
…Präsident Selenskyj hatte im Mai trotz festgefahrener Verhandlungen bekräftig, dass der Krieg „nur durch Diplomatie endgültig zu Ende gehen wird“, und zuvor erklärt, dass „jeder psychisch gesunde Mensch immer den diplomatischen Weg wählt, weil er oder sie weiß: auch wenn das schwierig ist, kann das den Verlust von Tausenden, Zehntausenden … und vielleicht sogar Millionen von Menschenleben verhindern.
Wir fordern Sie dringend auf, energische diplomatische Bemühungen zur Unterstützung einer Verhandlungslösung und eines Waffenstillstands zu unternehmen, …und sich in Abstimmung mit unseren ukrainischen Partnern um ein rasches Ende des Konflikts zu bemühen und dieses Ziel als Amerikas oberste Priorität zu bekräftigen.
Auf diesen – zurückgezogenen – Brief von Kongressabgeordneten an Präsident Biden reagierten Botschafter Tom Pickering und George Beebe mit ihrem Kommentar in Press of Atlantic City, den wir hier mit Zustimmung der Autoren in gekürzter deutscher Fassung wiedergeben:
Dämonisierung, Gefahren und Diplomatie…
Am 24. Oktober unterzeichneten 30 demokratische Mitglieder des US Repräsentantenhauses einen Brief, in dem sie darauf drängen, die militärische Unterstützung für die Ukraine mit vernünftiger Diplomatie in Einklang zu bringen. Sie wurden wegen ihrer nüchternen Vorschläge an den Pranger gestellt, so dass viele von ihnen schnell von ihrem Appell abrückten. In nicht einmal 24 Stunden war der Brief zurückgezogen. Das ist beschämend.
Da tobt ein brutaler Krieg tobt in Europa, dem Kontinent mit der größten Hoffnung, vereint, frei und menschenfreundlich zu sein. Und in unserem Land gibt es eine Auseinandersetzung darüber, ob Verhandlungen über ein Ende dieses Krieges vereinbar seien mit unserem Engagement für Demokratie, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und das Recht auf Leben und Glück.
Diplomatie und militärische Macht müssen Hand in Hand arbeiten, wenn wir in der Ukraine eine Tragödie abwenden wollen.
In der Geschichte gibt es so gut wie keinen Konflikt, der ohne eine politische Lösung beendet wurde, und wir sollten uns vor der Behauptung hüten, die Ukraine könne einen vollständigen Sieg über Russland erkämpfen, wenn nur die Vereinigten Staaten ausreichende militärische Hilfe leisteten. Der Sirenengesang vom totalen Sieg hat an Orten wie dem Irak, Palästina und Afghanistan jahrzehntelang endlose Zerstörungen hervorgebracht
Der Zweite Weltkrieg war einer der wenigen Konflikte, der mit der bedingungslosen Kapitulation endete, er kostete fast 100 Millionen Tote und die militärische Besetzung Nazideutschlands und des kaiserlichen Japan. Aber im Gegensatz zu Nazi-Deutschland und dem imperialen Japan hat Russland Atomwaffen. Wir müssen ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen unserer Sehnsucht nach Gerechtigkeit in der Ukraine und der Notwendigkeit finden, eine nukleare Konfrontation mit Russland abzuwenden.
Viele meinen, die Zeit sei noch nicht reif für Diplomatie, die Ukraine und Russland zeigten jetzt wenig Kompromissbereitschaft, Wladimir Putin sei weiterhin stur und unnachgiebig und Wolodymyr Selenskyj würde sich persönlich innerhalb der Ukraine in Gefahr bringen würde, wenn er auf Verhandlungen setzen würde.
Aber Verhandlungsergebnisse erfordern eine sorgfältige Vorbereitung, auch für die Schaffung despolitischen Rahmens, der zur Erzielung von Kompromissen erforderlich ist. In der Regel muss man mit den Vorbereitung beginnen, lange bevor sich die Kriegsparteien für verhandlungsbereit halten.
Wenn wir nicht jetzt mit den Vorbereitungen anfangen, können die Vereinigten Staaten wohl immer weniger dann zu einer Lösung beitragen, wenn zwar die Zeit für echte Verhandlungen gekommen ist, aber die kompromissbereiten Gruppen in Russland wie in der Ukraine fast verschwunden sind.
Manche glauben, diplomatische Kontakte würden nur der Beschwichtigung dienen, und das Signalisieren von Kompromissbereitschaft würde nur die russische Aggression anheizen.
Diese Ansicht entspricht einem wachsenden Trend in den Vereinigten Staaten, Feinde zu dämonisieren und echte Hindernisse in den Weg zu legen für die Aufnahme von Kontakten zum Aufbau von Beziehungen, die zu einer Einigung am Verhandlungstisch führen können.
Wäre John F. Kennedy der Versuchung erlegen, Nikita Chruschtschow zu verteufeln und Gespräche zu vermeiden, hätte die Kuba-Krise mit ziemlicher Sicherheit eher zu einem Flächenbrand geführt anstatt in einem Kompromiss zu enden. Dieser Kompromiss führte nicht zu einer – von einigen befürchteten – neuen Ära sowjetischer Aggression und nuklearer Erpressung, so wie es heute viele befürchten, wenn nicht Russland von der Ukraine vollständig besiegt würde.
Tatsächlich führte der Kompromiss vom Oktober 1962 zu einer neuen Ära der Entspannung und Rüstungskontrolle, in der der Sowjetblock allmählich von innen heraus verdorrte.
Andere bestehen darauf, die Diplomatie könne sich nur auf die Sicherung der ukrainischen Grenzen konzentrieren. Aber Grenzfragen sind nur eine von vielen Fragen, über die verhandelt werden muss, und die typischen Schwierigkeiten bei Kompromisses über Territorien haben zur Folge, dass sie meist am Ende und nicht schon zu Beginn von Verhandlungen zustandegekommen.
Die Vereinigten Staaten sollten die Ukraine zwar nicht unter Druck setzen bei Fragen, die ihre Souveränität betreffen.
Aber dank der Hilfe von außen konnte die Ukraine mit Russland durchaus Kompromisse bei der Sicherung von Getreidelieferungen oder beim Austausch von Kriegsgefangenen vereinbaren. Andere Vereinbarungen wären denkbar, z.B. um die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren, vertrauensbildende Schritte zu vereinbaren und die Grundlage für einen eventuellen Waffenstillstand zu schaffen.
Letztendlich müssen beide Seiten zu der Überzeugung gelangen, dass eine Verhandlungslösung den Kosten und Gefahren durch fortgesetzte Kämpfe vorzuziehen ist. …
Unsere maßgebliche Rolle bei der Versorgung der Ukraine mit Waffen, Aufklärung und Beratung über Selbstverteidigung, birgt auch eine große diplomatische Verantwortung gegenüber dem amerikanischen Volk und der Welt.
Nur die Vereinigten Staaten können der Ukraine glaubhaft versichern, dass die Diplomatie dazu dient, ihre Souveränität und Unabhängigkeit zu sichern und nicht zu bedrohen.
Und nur die Vereinigten Staaten haben die erforderliche Festigkeit gegenüber Putin, um ihm zu vermitteln, dass er auf dem Schlachtfeld nicht gewinnen kann, und die Flexibilität, um ihn davon zu überzeugen, dass er mit den richtigen Zugeständnissen Russland seinen zentralen Sicherheitsbedürfnissen am besten dienen kann. ….
Niemand kann Erfolg garantieren, weder in der Diplomatie noch im Krieg. Aber so zu agieren, als wären das zwei völlig getrennte Handlungsfelder, in denen der Krieg Siege und Verhandlungen Niederlagen bringen, ist eine Formel für den sicheren Untergang.
Thomas R. Pickering und George Beebe
Botschafter Thomas R. Pickering diente als US-Botschafter und Repräsentant bei den Vereinten Nationen in New York unter Präsident George H.W. Busch. Unter Präsident Bill Clinton war er auch US-Unterstaatssekretär für politische Angelegenheiten. Tom hat den persönlichen Rang eines Karrierebotschafters, den höchsten im US-Auswärtigen Dienst.
George Beebe ist Direktor der Grand Strategy am Quincy Institute. Er verbrachte mehr als zwei Jahrzehnte in der Regierung als Geheimdienstanalyst, Diplomat und Politikberater, unter anderem als Direktor der Russland-Analyse der CIA und als Stabsberater für Russland-Angelegenheiten von Vizepräsident Dick Cheney.
Quelle: 2022-10-31.— (The Press of Atlantic City) – Tom Pickering and George Beebe: Demonization, danger and diplomacy – von der Redaktion mit Zustimmung der Autoren leicht gekürzt und ins Deutsche übertragen (wb).
Weitere Info aus der US-Presse:
- 2022-11-02.— (NYT) — (Charles A. Kupchan) — It’s Time to Bring Russia and Ukraine to the Negotiating Table
- 2022-11-05.– (WP) — U.S. privately asks Ukraine to show it’s open to negotiate with Russia. / In informellen Gesprächen ermutigt die Biden-Administration die Führung der Ukraine, Offenheit für Verhandlungen mit Russland zu signalisieren…
- 2022-11-10.— (NYT) — Top U.S. General Urges Diplomacy in Ukraine While Biden Advisers Resist / Gen. Mark A. Milley, the chairman of the Joint Chiefs of Staff, has made the case that the Ukrainians should try to cement their gains at the bargaining table.
- 2022-11-14.— (Washington Post): Biden says no ‘new Cold War’ after meeting with China’s Xi / Nach dem Treffen mit Xi erklärte Biden ‘Kein neuer Kalten Krieg’. Das Weiße Haus war beeindruckt, dass Xi – als er sich mit Bundeskanzler Olaf Scholz traf – zum ersten Mal vor dem Einsatz von Atomwaffen im Krieg Russlands gegen die Ukraine gewarnt hatte.”