In seiner Stellungnahme zu Afghanistan am 31. August 2021 gab US-Präsident Biden folgende Begründung seiner Entscheidung über den Beschluss zum “Ende des Afghanistan-Krieges”:
“Als ich mein Amt antrat, befanden sich die Taliban in ihrer stärksten militärischen Position seit 2001 und kontrollierten oder dominierten fast die Hälfte des Landes.
In der Vereinbarung der letzten Administration mit den Taliban verpflichteten die sich, keine amerikanischen Streitkräfte anzugreifen, wenn wir uns an den vereinbarten Abzugstermin am 1. Mai hielten, aber wenn wir blieben, könnte alles mögliche passieren.
Wir wurden also vor eine einfache Entscheidung gestellt: Entweder wir halten uns an die Zusage der letzten Administration und verlassen Afghanistan, oder wir sagen, dass wir nicht abziehen und uns verpflichten, weitere Zehntausende von Soldaten in den Krieg zu schicken. — Das war die Wahl – eine echte Entscheidung – zwischen Abzug oder Eskalation.”
Ich wollte keinen auf einen ewig verlängerten Krieg, und auch keinen auf ewig verlängerten Abzug. Die Entscheidung, die militärischen Lufttransporte vom Flughafen Kabul zu beenden, beruhte auf der einstimmigen Empfehlung meiner zivilen und militärischen Berater – des Außenministers, des Verteidigungsministers, des Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff und aller Chefs der Streitkräfte sowie der Kommandeure vor Ort.
Ihre Empfehlung lautete, der sicherste Weg, die verbleibenden Amerikaner und andere Personen aus dem Land zu bringen, bestünde darin, … sie mit nichtmilitärischen Mitteln aus dem Land zu bringen.
Mehr als 5.500 Amerikaner wurden mit dem Flugzeug ausgeflogen. Und für diejenigen, die zurückbleiben, werden wir Arrangements treffen, damit sie ausreisen können, wenn sie es wünschen. Was die Afghanen anbelangt, so haben wir und unsere Partner 100.000 von ihnen ausgeflogen. In der Geschichte hat kein Land mehr für den Lufttransport der Einwohner eines anderen Landes getan als wir….
Und da ist noch ein wichtiger Punkt, den man begreifen muss: Die Welt verändert sich. Wir befinden uns in einem ernsthaften Konkurrenzkampf mit China. Wir haben es mit den Herausforderungen an mehreren Fronten mit Russland zu tun. … Und es gibt nichts, was China oder Russland in diesem Wettbewerb es lieber hätten, dass die Vereinigten Staaten ein weiteres Jahrzehnt in Afghanistan feststecken.”
Quelle: 2021-08-31. — (The White House) — Remarks by President Biden on the End of the War in Afghanistan– informelle Übersetzung der Redaktion
Jeffrey D. Sachs von der Columbia University forderte, Biden solle besser eine “kooperative globale Politik verfolgen”. Biden habe mit dem Abzug aus Afghanistan zwar richtig gehandelt, “aber sonst liegt er falsch: Amerikas Todfeinde sind nicht China, Iran und Russland. … Stattdessen hätte Joe Biden folgendes erklären sollen: Alle Länder – einschließlich der Vereinigten Staaten, der Mitglieder der Europäischen Union, Russlands, Chinas, Irans und, ja, Afghanistans – sind gefährdet durch die COVID-19-Pandemie, die Auswirkungen der Klimakrise (Überschwemmungen, Dürren, Wirbelstürme, Waldbrände, Hitzewellen), die wachsende Einkommensungleichheit zwischen Arm und Reich, die Umwälzungen durch die digitalen Technologien und den gefährlichen politischen Einfluss der Plutokraten. All dies sind gemeinsame Probleme auf der ganzen Welt, und alle erfordern eine intensive globale Zusammenarbeit statt Konfrontation.“
Aus russischer Sicht argumentiert Dmitri Trenin, Direktor des Carnegie Moscow Center: Die neue Biden-Doktrin, sich von der nach 9/11 praktizierten Politik der Nutzung von Militär zum „Umbau“ anderer Gesellschaften zu verabschieden, sei ein historischer Meilenstein. „Afghanistan bedeutet mit Sicherheit nicht das Ende der Vereinigten Staaten als globale Supermacht; sie befinden sich lediglich weiterhin in einem relativen und langsamen Niedergang. Und das bedeutet auch nicht das Ende der amerikanischen Bündnisse und Partnerschaften. Dass die Ereignisse in Afghanistan ein politisches Erdbeben in den Vereinigten Staaten auslösen, das Präsident Biden stürzen würde, ist sehr unwahrscheinlich…“.
Präsident Putin äußerte die Befürchtung, „dass Terroristen und verschiedene Gruppen, die in Afghanistan Zuflucht gefunden haben, das Chaos unserer westlichen Kollegen nutzen und versuchen, eine Expansion in Nachbarländer zu starten…. Das bedeutet eine direkte Bedrohung für unser Land und seine Verbündeten.” Allerdings werde Russland sich nicht in Afghanistan einmischen: “Wir haben die notwendigen Lehren gezogen“, sagte Putin. “Wir haben nicht die Absicht, uns in die inneren Angelegenheiten Afghanistans einzumischen und obendrein unsere Streitkräfte in einen Alle-gegen-Alle-Konflikt hineinziehen zu lassen.” Er befürchte aber einen weiteren Anstieg des Drogenhandels und dass „Militante die Turbulenzen nutzen könnten, um die ex-sowjetischen Länder in Zentralasien zu destabilisieren“.
Die Frage, ob nach dem Scheitern des Westens in Afghanistan “China und Russland gewinnen”, kommentieren Sabine Fischer und Angela Stanzel von der SWP mit einem “Blick aus Peking und Moskau”: “Russland und China gelten als machtpolitische Profiteure des westlichen Abzugs aus Afghanistan. Sowohl im chinesischen als auch im russischen Diskurs werden aber neben triumphierenden Kommentaren zum westlichen Scheitern auch ernste Befürchtungen im Hinblick auf die regionale Sicherheitslage laut. Westliche Akteure sollten sich um ein differenzierteres Verständnis der Pekinger und Moskauer Perspektiven bemühen. Daraus könnten sich auch Möglichkeiten der Kooperation ergeben, die der Stabilisierung Zentralasiens und Afghanistans dienen.…”
Und Malte Lehming vom Tagesspiegel schrieb bereits am 10. August 2021 den ernüchternden Satz: “Old-school-Militärinterventionen wie in Afghanistan tragen nicht zum Weltfrieden bei. Deutsche Sicherheitspolitik braucht neue Impulse. Wenn es stimmt, was der Volksmund sagt, dass Einsicht der erste Weg zur Besserung sei, stehen deutsche Sicherheitsexperten noch in den Startlöchern. Denn von einer Einsicht, was das Versagen in Afghanistan betrifft, sind sie weit entfernt. Der Krieg war falsch… Er kostete eine Billion Dollar, dauerte knapp 20 Jahre, 50.000 afghanische Zivilisten kamen ums Leben.. Wer diese Fakten nicht wahrhaben will, flüchtet sich in Illusionen. Nicht der Krieg sei falsch gewesen, heißt es, sondern der Abzug der US-Soldaten. ..Klar ist: Das Debakel, das die Nato hinterlassen hat, darf nicht das Ende aller entwicklungspolitischen und humanitären Verpflichtungen nach sich ziehen.
Quellen:
Doch zusätzlich lehrt die bittere Erfahrung, die der Westen in Afghanistan gemacht hat, dass Sicherheitspolitik neu gedacht werden muss. Old-school-Militärinterventionen sind kaum geeignet, zum Weltfrieden beizutragen. Korea, Vietnam, Afghanistan, Irak, Libyen, Sudan, Mali: Die Bilanz ist wenig ermutigend. Trotzdem kreist die Frage der Armee-Ausrüstung um Panzer, U-Boote, Kampfflugzeuge und Maschinengewehre. In ihrer Symbolik geradezu rührend ist die Entsendung der Fregatte „Bayern“ in den Indopazifik, um China abzuschrecken.
• 2021-09 – (SWP, Sabine Fischer und Angela Stanzel) – “Afghanistan: Der Westen scheitert – China und Russland gewinnen?”.
• 2021-08-10. — (Tagesspiegel, Malte Fleming) – Die Lehre aus dem Afghanistan-Fiasko: Nicht der Abzug war falsch, sondern der Krieg
• 2021-09-03. – (Boston Globe, Jeffrey Sachs) – America’s confrontational foreign policy failed. It should pursue a cooperative global policy.
• 2021-08-31. — (whitehouse.gov) — Remarks by President Biden on the End of the War in Afghanistan
• 2021-09-07. — (Carnegie Moscow Center, Dimitri Trenin) — Interpreting the Biden Doctrine: The View From Moscow
• 2021-08-24. — (Newsweek, Rebecca Klapper) Putin Criticizes U.S. Leaving Afghanistan, Says Fallout May Present Problems for Russia
• 2019-09-01. – (MoscowTimes.com) – Putin Says U.S. Presence in Afghanistan Ended in ‘Tragedies’
• 2021-09-03. — Russia in Review, Aug. 27-Sept. 3, 2021 / Russia Analytical Report, Aug. 30-Sept. 7, 2021