von Wolfgang Biermann
Wenn Gegner sich nicht anerkennen und unvereinbare Rechtspositionen haben, aber sich über menschliche Erleichterungen einigen müssen, gibt es nur eine Lösung: „we agree to disagree“ als Basis für praktische Vereinbarungen – “Technische Übereinkunft ‘ungeachtet verschiedener Auffassungen und Standpunkte’” (Egon Bahrs Unterhändler Horst Korber über das Passierscheinabkommen von 1963). Wäre dies nicht ein Vorbild für erste Vereinbarungen über menschliche Erleichterungen zwischen Krim und Ukraine?
Am 15. Juli 1963 forderten Egon Bahr und Willy Brandt vor der Evangelischen Akademie Tutzing eine Abkehr von der konfrontativen Ostpolitik, die weniger zur deutschen Einheit als vielmehr zum Bau der Berliner Mauer im August 1961 geführt hätte. Bahr nahm bei der Beschreibung seiner Strategie direkt Bezug auf die Rede von Präsident John F. Kennedy vor der Washington University am 10.06.1963: Wandel durch Annäherung sei eine “Übertragung der Strategie des Friedens auf Deutschland“: “Die Änderung des Ost/West-Verhältnisses, die die USA versuchen wollen, dient der Überwindung des Status quo, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll.”
Egon Bahrs Tutzinger Formel vom „Wandel durch Annäherung“ führte bereits wenige Monate später, zu Weihnachten 1963, zum ersten kleinen Schritt der Entspannungspolitik, zum ersten Passierscheinabkommen zwischen den verfeindeten “Partnern”, die sich einander nicht anerkannten.
Dem folgten viele weitere Schritte zu menschlichen Erleichterungen, zur Entspannungspolitik mit Ostverträgen, Berlin-Abkommen und KSZE-Schlussakte bis hin zum Fall der Mauer 1989.
Heute, in 2016, bleibt Frage: Sind die Prinzipien des „Wandels durch Annäherung“ auch heute anwendbar, um festgefahrene Fronten aufzuweichen? Wäre das Passierscheinabkommen zwischen verfeindeten Partnern von 1963 nicht ein höchst aktuelles Vorbild für einen ersten Schritt zum “Wandel durch Annäherung” durch menschliche Erleichterungen für die durch den Ukraine-Konflikt seit 2014 getrennten Familien?
In seiner Rede am 15. Juli 1963 vor der Evangelischen Akademie Tutzing formulierte Egon Bahr
Zweifel, ob wir mit der Fortsetzung unserer bisherigen Haltung das absolut negative Ergebnis der Wiedervereinigungspolitik ändern können, und der Überzeugung, daß es an der Zeit ist und daß es unsere Pflicht ist, sie möglichst unvoreingenommen neu zu durchdenken. Natürlich muß man dabei davon ausgehen, daß nicht nur das Berlin-Problem nicht isoliert gelöst werden kann, sondern auch das Deutschland-Problem eben Teil des Ost/West-Konfliktes ist. ../ …Die amerikanische Strategie des Friedens läßt sich auch durch die Formel definieren, daß die kommunistische Herrschaft nicht beseitigt, sondern verändert werden soll. Die Änderung des Ost/West-Verhältnisses, die die USA versuchen wollen, dient der Überwindung des Status quo, indem der Status quo zunächst nicht verändert werden soll….
Die erste Folgerung, die sich aus einer Übertragung der Strategie des Friedens auf Deutschland ergibt, ist, daß die Politik des Alles oder Nichts ausscheidet…
Wenn es richtig ist, was Kennedy sagte, daß man auch die Interessen der anderen Seite anerkennen und berücksichtigen müsse, so ist es sicher für die Sowjet-Union unmöglich, sich die Zone (später: DDR) zum Zwecke einer Verstärkung des westlichen Potentials entreißen zu lassen. Die Zone muß mit Zustimmung der Sowjets transformiert werden. …
… dann ergibt sich daraus, daß jede Politik zum direkten Sturz des Regimes drüben aussichtslos ist. Diese Folgerung ist rasend unbequem …, aber sie ist logisch. Sie bedeutet, daß Änderungen und Veränderungen nur ausgehend von dem zur Zeit dort herrschenden verhaßten Regime erreichbar sind…..
Ich komme zu dem Ergebnis, daß sich unterhalb der juristischen Anerkennung, unterhalb der bestätigten Legitimität dieses Zwangsregimes … möglich sein muß, diese Formen auch gegebenenfalls in einem für uns günstigen Sinne zu benutzen.
Als Strategie formulierte Egon Bahr mit seinem Diskussionsbeitrag den „Wandel durch Annäherung“ – eine Formel, die Willy Brandt in seiner Rede wegen vermeiden wollte, um nicht zu viel “Empörung” zu provozieren. Seine Begründung:
Wir haben gesagt, daß die Mauer ein Zeichen der Schwäche ist. Man könnte auch sagen, sie war ein Zeichen der Angst und des Selbsterhaltungstriebes des kommunistischen Regimes. Die Frage ist, ob es nicht Möglichkeiten gibt, diese durchaus berechtigten Sorgen dem Regime graduell so weit ernst zu nehmen, daß auch die Auflockerung der Grenzen und der Mauer praktikabel wird, weil das Risiko erträglich ist. Das ist eine Politik, die man auf die Formel bringen könnte: Wandel durch Annäherung. Ich bin fest davon überzeugt, daß wir Selbstbewußtsein genug haben können, um eine solche Politik ohne Illusionen zu verfolgen, die sich außerdem nahtlos in das westliche Konzept der Strategie des Frieden einpaßt, denn sonst müßten wir auf Wunder warten, und das ist keine Politik.“
Quelle: Wandel durch Annäherung — Egon Bahr am 15. Juli 1963 in der Evangelischen Akademie Tutzing
Nur wenige Monate nach der Trutziger Rede erreichte Egon Bahr im Auftrag des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt, durch „inoffizielle“ Verhandlungen mit der „nicht anerkannten DDR“, eine Verständigung mit den Bauherren der Mauer über ihre erste Öffnung für die Menschen in Berlin. Was viele damals für unmöglich (oder gar „Verrat“) hielten, wurde Schritt für Schritt Wirklichkeit: Der von Egon Bahr und Willy Brandt geebnete Weg führte im Dezember 1963 zum ersten „Passierscheinabkommen“ mit dem Ostberliner Regime, so dass Westberliner erstmals seit dem Bau der Mauer ihre Familien in Ostberlin besuchen konnten.
Das Geheimnis dieses Abkommens über menschliche Erleichterungen war ohne gegenseitige Anerkennung als „Technische Übereinkunft“ ausgehandelt worden, nach dem Prinzip „we agree to disagree“: wir sind uns politisch und rechtlich völlig uneinig, aber vereinbaren praktische Lösungen für die Menschen. Im Abkommen heißt es:
„Ungeachtet der unterschiedlichen politischen und rechtlichen Standpunkte ließen sich beide Seiten davon leiten, dass es möglich sein sollte, dieses humanitäre Anliegen zu verwirklichen…Beide Seiten stellen fest, dass eine Einigung über gemeinsame Orts-, Behörden- und Amtsbezeichnungen nicht erzielt werden konnte.“
Und die sich einander nicht anerkennenden verfeindeten Seiten „West-Berlin“ und „Hauptstadt der DDR“ einigten sich auf die ersten kleinen Schritte „von 19. Dezember 1963 bis zum 05. Januar 1964“ mit der klaren Definition für Verwandtenbesuche:
„Als Verwandtenbesuch gilt der Besuch von Eltern, Kindern, Großeltern, Enkeln, Geschwistern, Tanten und Onkeln, Nichten und Neffen sowie Ehepartnern des Personenkreises und der Besuch von Ehegatten untereinander…“
Aus heutiger Sicht mag dieser „erste Schritt“ banal klingen. Aber dass dieser erste kleine Schritt im „Wandel durch Annäherung“ wenige Jahre später zur Entspannungspolitik mit Ostverträgen, Berlinabkommen, KSZE-Schlussakte rund 25 Jahre später zum Fall der Mauer und Ende des Kalten Krieges führte, war natürlich nicht vorhersehbar.
So bleibt Frage: Sind die Lektionen des Passierscheinabkommens von 1963 für die durch den Ukraine-Konflikt seit 2014 getrennten Familien – Wandel durch Annäherung — nicht höchst aktuell?
Quellen:
- 1963-12-17. – Original des ersten Passierscheinabkommens
- 1963-12-17. – Erklärung des Beauftragen von Egon Bahr, Senatsrat Korber, über das erste Berliner Passierscheinabkommen: Technische Übereinkunft „ungeachtet verschiedener Auffassungen und Standpunkte“
- 2013-12 — (Tagesspiegel) — Willy Brandts Wiedervereinigung: Es war Brandts großes Werk für die geteilte Stadt: Heute vor 50 Jahren gelang das erste Passierscheinabkommen. Für Berliner öffnete sich erstmals die Mauer – zumindest für Westler.
Weitere Infos über Vorgeschichte der Entspannungspolitik 1961 und 1962:
- 1962-05-18. — (Die Zeit, Thilo Koch) — Washington in der Bonner Sackgasse: Wie zuverlässig sind eigentlich die Deutschen?
- 2001-08-09. – (Rheinischer Merkur, Peter Meier-Bergfeld) – Das Undenkbare aussprechen – Sollten die Westberliner in die Lüneburger Heide umgesiedelt werden? Eine Spurensuche