Zur Eröffnung der UN-Generalversammlung am 21. September 2020, dem 75. Jahrestag der Vereinten Nationen und „Weltfriedenstag“, haben 56 ehemalige Premierminister, Präsidenten, Außenminister und Verteidigungsminister aus 20 NATO-Ländern sowie aus Japan und Südkorea einen offenen Brief an die Staats- und Regierungschefs ihrer Länder veröffentlicht, in dem sie fordern, dem 2017 von 122 Staaten ausgearbeiteten UNO-Vertrag über das Verbot von Atomwaffen beizutreten. Derzeit fehlen nur noch sechs Ratifizierungen, bis die Quote von 50 Vertragspartnern erfüllt ist und der Vertrag bindendes Völkerrecht wird.
Zu den Unterzeichner*innen des offenen Briefes gehören ehemalige Premierminister von Kanada, Japan, Italien und Polen; ehemalige Präsidenten von Albanien, Polen und Slowenien; mehr als zwei Dutzend ehemalige Außenminister und mehr als ein Dutzend ehemalige Verteidigungsminister. Sie alle kommen aus Ländern, die sich geweigert hatten, das UNO-Atomwaffenverbot zu unterstützen, und deren Sicherheitspolitik letztlich auf der nuklearen Abschreckung beruht, entweder als Bündnispartner der NATO oder über bilaterale Garantien der USA.
Zwei der Unterzeichner sind ehemalige Generalsekretäre der NATO: Javier Solana aus Spanien und Willy Claes aus Belgien. Auch Ban Ki-moon, ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen und ehemaliger Außenminister Südkoreas, hat unterzeichnet.
Der Brief hebt hervor, dass die Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen “durch Zufall, Fehleinschätzung oder mit Absicht” in den letzten Jahren dramatisch gewachsen ist.
Die Unterzeichner erwähnen auch, dass die Coronavirus-Pandemie von Repräsentanten der UNO als die größte Herausforderung in der Geschichte der Organisation bezeichnet wurde, und erklären: “Wir dürfen nicht weiter schlafwandeln in eine Krise von viel größerem Ausmaß als die, die wir in diesem Jahr erlebt haben.”
Vor dem Hintergrund des wachsenden Risikos eines Atomwaffeneinsatzes – durch Unfall, Fehlkalkulation oder Absicht – fordern sie von ihren Regierungen einen stärkeren Einsatz für nukleare Abrüstung. Ein erster notwendiger Schritt sei eine Verteidigungspolitik, die nicht auf nuklearer Abschreckung beruhe. Denn mit dieser Politik “fördern wir den gefährlichen Irrglauben, dass Atomwaffen Sicherheit bringen”, heißt es in dem Brief. “Anstatt Fortschritte in Richtung einer Welt ohne Atomwaffen zu ermöglichen, behindern wir sie und verstetigen nukleare Gefahren – alles aus der Angst heraus, unsere Verbündeten, die an diesen Massenvernichtungswaffen festhalten, zu kränken. Aber in einer Freundschaft können und müssen wir unsere Stimme erheben, wenn Freunde rücksichtsloses Verhalten an den Tag legen, das unsere und ihre eigenen Leben gefährdet“, heißt es weiter.
Der Brief ehemaliger Regierungschefs der NATO ist eine der bisher höchstprominentesten Unterstützungserklärungen für den Atomwaffenverbotsvertrag, seitdem er in der UNO zur Unterzeichnung und Ratifizierung durch Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen vorliegt.
“Alle Verantwortung tragenden Regierungschefs müssen jetzt handeln, um sicherzustellen, dass sich die Schrecken von 1945 nie wiederholen“, forderte der Brief mit Hinweis auf die Atombombenabwürfe der USA auf Japan, dem bisher einzigen Einsatz von Atomwaffen als Mittel eines Krieges. „Früher oder später wird unser Glück ausgehen, deshalb müssen wir jetzt handeln. Der Vertrag über das Verbot von Atomwaffen schafft die Grundlage für eine sicherere Welt, die frei von dieser ultimativen Vernichtungsdrohung ist.“
Der offene Brief für das UN-Atomwaffenverbot hat folgenden Wortlaut:
Die Coronavirus-Pandemie hat deutlich gemacht, dass eine verstärkte internationale Zusammenarbeit dringend erforderlich ist, um Bedrohungen für die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschheit anzugehen. Unter diesen Bedrohungen bleibt die Gefahr eines Atomkrieges von größter Bedeutung. Das Risiko einer Atomwaffendetonation heute – ob durch einen Unfall, Fehleinschätzung oder Absicht – nimmt augenscheinlich zu, da neue Arten von Atomwaffen entwickelt wurden, langjährige Rüstungskontrollabkommen aufgekündigt sind und die Gefahr von Cyberangriffen auf nukleare Infrastruktur sehr real geworden ist. Wir sollten die Warnungen von Wissenschaftlern, Ärzten und anderen Experten ernst nehmen. Wir dürfen nicht in eine Krise von noch größerem Ausmaß schlafwandeln als jene, die wir in diesem Jahr bereits erlebt haben.
Es ist nicht schwer vorauszusehen, wie kriegerische Rhetorik und schlechtes Urteilsvermögen von Politikern in nuklear bewaffneten Nationen zu einem Unglück führen könnten, das alle Länder und Völker in Mitleidenschaft zieht. Als frühere Regierungschefs, Außenminister und Verteidigungsminister von Albanien, Belgien, Kanada, Kroatien, der Tschechischen Republik, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Ungarn, Island, Italien, Japan, Lettland, den Niederlanden, Norwegen, Polen, Portugal, der Slowakei, Slowenien , Südkorea, Spanien und der Türkei — alles Länder, die den Schutz der Atomwaffen eines Verbündeten in Anspruch nehmen — appellieren wir an die derzeitigen Staats- und Regierungschefs, die nukleare Abrüstung voranzutreiben, bevor es zu spät ist. Ein offensichtlicher Ausgangspunkt wäre die uneingeschränkte Erklärung, dass Atomwaffen angesichts der katastrophalen Folgen ihres Einsatzes für Mensch und Umwelt keinen legitimen militärischen oder strategischen Zweck erfüllen. Mit anderen Worten, unsere Länder sollten jede Rolle von Atomwaffen in unserer Verteidigung ablehnen.
Indem wir den Schutz vor Atomwaffen in Anspruch nehmen, fördern wir den gefährlichen Irrglauben, dass Atomwaffen Sicherheit bringen. Anstatt Fortschritte in Richtung einer Welt ohne Atomwaffen zu ermöglichen, behindern wir sie und verstetigen nukleare Gefahren – alles aus der Angst heraus, unsere Verbündeten, die an diesen Massenvernichtungswaffen festhalten, zu kränken. Aber in einer Freundschaft können und müssen wir unsere Stimme erheben, wenn Freunde rücksichtsloses Verhalten an den Tag legen, das unsere und ihre eigenen Leben gefährdet.
Ohne Zweifel ist ein neues nukleares Wettrüsten im Gange, obwohl ein Wettlauf um Abrüstung dringend erforderlich wäre. Es ist Zeit, die Ära unserer Abhängigkeit von Atomwaffen endgültig zu beenden. Im Jahr 2017 haben 122 Länder einen mutigen, aber längst überfälligen Schritt in diese Richtung getan, indem sie den Vertrag über das Verbot von Kernwaffen verabschiedet haben – ein wegweisendes globales Abkommen, das Atomwaffen auf die gleiche rechtliche Grundlage stellt wie chemische und biologische Massenvernichtungswaffen und einen Rahmen dafür schafft, sie nachweislich und unwiderruflich abzurüsten. Mit seinem baldigen Inkrafttreten wird das Atomwaffenverbot verbindliches Völkerrecht.
Bisher haben unsere Länder entschieden, sich nicht dieser weltweiten Mehrheit anzuschließen, die diesen Vertrag unterstützt. Aber unsere Entscheidungsträger sollten ihre Positionen überdenken. Wir können es uns nicht leisten, angesichts dieser existenziellen Bedrohung für die Menschheit zu zögern. Wir müssen Mut zeigen – und uns dem Vertrag anschließen. Als Vertragsstaaten können wir in Allianzen mit nuklear bewaffneten Staaten verbleiben, da dies weder im Vertrag selbst noch in unseren jeweiligen Verteidigungsbündnissen ausgeschlossen ist. Aber wir wären rechtlich verpflichtet, unseren Verbündeten nicht dabei zu helfen oder sie zu ermutigen, Atomwaffen einzusetzen, ihren Einsatz anzudrohen oder sie zu besitzen. Angesichts der überwältigenden Unterstützung der Bevölkerung für nukleare Abrüstung wäre dies ein unumstrittener und vielgelobter Schritt.
Der Verbotsvertrag ist eine wichtige Stärkung des vor einem halben Jahrhundert angenommenen Nichtverbreitungsvertrags (NVV), der die Verbreitung von Atomwaffen zwar bemerkenswert erfolgreich eindämmt, jedoch kein universelles Tabu gegen den Besitz von Atomwaffen etabliert hat. Die fünf Atomwaffenstaaten, die zum Zeitpunkt der Verhandlungen über den NVV über Atomwaffen verfügten – die Vereinigten Staaten, Russland, Großbritannien, Frankreich und China – sehen dies offenbar als Lizenz an, ihre Massenvernichtungswaffen auf Ewig zu behalten. Anstatt abzurüsten, investieren sie massiv in die Modernisierung ihrer Arsenale. Dies ist offenkundig inakzeptabel.
Der 2017 verabschiedete Verbotsvertrag kann dazu beitragen, Jahrzehnte der Kähmung in der Abrüstung zu beenden. Er ist ein Hoffnungsschimmer in einer dunklen Zeit. Er ermöglicht den Ländern, sich einer unmissverständlichen multilateralen Norm gegen Atomwaffen anzuschließen und internationalen Handlungsdruck aufzubauen. Wie die Präambel anerkennt, „überschreiten die Auswirkungen von Atomwaffen nationale Grenzen, haben gravierende Auswirkungen auf den Fortbestand der Menschheit, die Umwelt, die sozioökonomische Entwicklung, die Weltwirtschaft, die Ernährungssicherheit und die Gesundheit heutiger und künftiger Generationen und wirken sich unverhältnismäßig stark auf Frauen und Mädchen aus, auch infolge ionisierender Strahlung “.
Mit fast 14.000 Atomwaffen an Dutzenden von Orten weltweit und U-Booten, die zu jeder Zeit die Ozeane patrouillieren, ist das Zerstörungspotential weit jenseits unserer Vorstellungskraft. Alle verantwortlichen Entscheidungsträger müssen jetzt handeln, um sicherzustellen, dass sich die Schrecken von 1945 niemals wiederholen. Früher oder später wird unser Glück uns verlassen – wenn wir nicht handeln. Der Vertrag über das Verbot von Atomwaffen bildet die Grundlage für eine sicherere Welt, die frei von dieser ultimativen Bedrohung ist. Wir müssen uns für das Verbot einsetzen und daran arbeiten, andere dafür zu gewinnen. Es gibt keine Heilung für den Atomkrieg. Prävention ist unsere einzige Chance.
Unterzeichnet von:
- Lloyd Axworthy, ehemaliger Außenminister, Kanada
- Ban Ki-moon, ehemaliger UN-Generalsekretär und Außenminister, Südkorea
- Jean-Jacques Blais, ehemaliger Verteidigungsminister, Kanada
- Kjell Magne Bondevik, ehemaliger Premierminister und Außenminister, Norwegen
- Ylli Bufi, ehemaliger Premierminister, Albanien
- Jean Chrétien, ehemaliger Premierminister, Kanada
- Willy Claes, ehemaliger NATO-Generalsekretär und Außenminister, Belgien
- Erik Derycke, ehemaliger Außenminister, Belgien
- Joschka Fischer, ehemaliger Außenminister, Deutschland
- Franco Frattini, ehemaliger Außenminister, Italien
- Ingibjörg Sólrún Gísladóttir, ehemalige Außenministerin, Island
- Bjørn Tore Godal, ehemaliger Außenminister und Verteidigungsminister, Norwegen
- Bill Graham, ehemaliger Außenminister und Verteidigungsminister, Kanada
- Hatoyama Yukio, ehemaliger Premierminister, Japan
- Thorbjørn Jagland, ehemaliger Premierminister und Außenminister, Norwegen
- Ljubica Jelušič, ehemalige Verteidigungsministerin, Slowenien
- Tālavs Jundzis, ehemaliger Verteidigungsminister, Lettland
- Jan Kavan, ehemaliger Außenminister, Tschechien
- Alojz Krapež, ehemaliger Verteidigungsminister, Slowenien
- Ģirts Valdis Kristovskis, ehemaliger Außenminister und Verteidigungsminister, Lettland
- Aleksander Kwaśniewski, ehemaliger Präsident, Polen
- Yves Leterme, ehemaliger Premierminister und Außenminister, Belgien
- Enrico Letta, ehemaliger Premierminister, Italien
- Eldbjørg Løwer, ehemalige Verteidigungsministerin, Norwegen
- Mogens Lykketoft, ehemaliger Außenminister, Dänemark
- John Mccallum, ehemaliger Verteidigungsminister, Kanada
- John Manley, ehemaliger Außenminister, Kanada
- Rexhep Meidani, ehemaliger Präsident, Albanien
- Zdravko Mršić, ehemaliger Außenminister, Kroatien
- Linda Mūrniece, ehemalige Verteidigungsministerin, Lettland
- Fatos Nano, ehemaliger Premierminister, Albanien
- Holger K. Nielsen, ehemaliger Außenminister, Dänemark
- Andrzej Olechowski, ehemaliger Außenminister, Polen
- Kjeld Olesen, ehemaliger Außenminister und Verteidigungsminister, Dänemark
- Ana Palacio, ehemalige Außenministerin, Spanien
- Theodoros Pangalos, ehemaliger Außenminister, Griechenland
- Jan Pronk, ehemaliger Verteidigungsminister (ad interim), Niederlande
- Vesna Pusić, ehemalige Außenministerin, Kroatien
- Dariusz Rosati, ehemaliger Außenminister, Polen
- Rudolf Scharping, ehemaliger Verteidigungsminister, Deutschland
- Juraj Schenk, ehemaliger Außenminister, Slowakei
- Nuno Severiano Teixeira, ehemaliger Verteidigungsminister, Portugal
- Jóhanna Sigurðardóttir, ehemalige Premierministerin, Island
- Össur Skarphéðinsson, ehemaliger Außenminister, Island
- Javier Solana, ehemaliger NATO-Generalsekretär und Außenminister, Spanien
- Anne-Grete Strøm-Erichsen, ehemalige Verteidigungsministerin, Norwegen
- Hanna Suchocka, ehemalige Premierministerin, Polen
- Szekeres Imre, ehemaliger Verteidigungsminister, Ungarn
- Tanaka Makiko, ehemaliger Außenminister, Japan
- Tanaka Naoki, ehemaliger Verteidigungsminister, Japan
- Danilo Türk, ehemaliger Präsident, Slowenien
- Hikmet Sami Türk, ehemaliger Verteidigungsminister, Türkei
- John N. Turner, ehemaliger Premierminister, Kanada
- Guy Verhofstadt, ehemaliger Premierminister, Belgien
- Knut Vollebæk, ehemaliger Außenminister, Norwegen
- Carlos Westendorp y Cabeza, ehemaliger Außenminister, Spanien
Weitere Info:
- Originalfassung: Open Letter in Support of the
2017 Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, – Under embargo until 21 September 2020, 00:00 UTC - 21.09.2020 — (Aftenposten) — Åpent brev til støtte for FN-traktaten som forbyr atomvåpen
- 20.09.2020 — (New York Times) — Former World Leaders Urge Ratification of Nuclear Arms Ban Treaty
- 21.09.2020 — ICAN begrüßt den 100. deutschen Beitritt zum ICAN-Städteappell am heutigen Weltfriedenstag durch die Stadt Dresden.