Der Willy-Brandt-Kreis hat in einem Brief den SPD-Parteivorstand aufgefordert, dafür zu sorgen, dass die im Koalitionsvertrag vereinbarte “Einbeziehung Russlands und der Erhalt von Abrüstung und Rüstungskontrolle ebenso unerlässlich wie die Zusammenarbeit mit unseren Partnern im Rahmen von EU, OSZE, Vereinten Nationen und NATO” eingehalten wird.
Stattdessen aber weise der “aktuelle Trend in eine andere Richtung: Die Gefahren eines neuen atomaren Wettrüstens und konventioneller Aufrüstung werden immer deutlicher und haben auch einen enormen Einfluss auf Europa. Eine neue Nachrüstungsdebatte im Falle eines Kollapses des INF-Vertrages würde sicher ein weiteres Mal das Ziel einer europäischen Friedensordnung entscheidend schwächen…” In ihrem Brief appellieren die Unterzeichner an den SPD-Parteivorstand:
Wir wenden uns an Euch, weil wir erkennen, dass nicht nur die Hoffnungen auf die mit der „Charta von Paris für ein neues Europa“ (1990) angestrebte gesamteuropäische Friedensordnung auf Basis gemeinsamer liberaler Prinzipien schwinden, sondern zunehmend auch das Vertrauen in die Erreichbarkeit einer dauerhaften friedlichen Zusammenarbeit mit Russland. Inzwischen brechen sogar die als überwunden geglaubten Sprachstereotypen des Kalten Krieges aufs Neue hervor.
Wir beobachten deshalb mit Sorge die sich immer schneller drehende Spirale der Eskalation von Spannungen in Europa. Sie droht die durch sozialdemokratisch geprägte Politik errichteten Stützpfeiler der europäischen Sicherheit zu zerstören. Das betrifft seit einiger Zeit nun auch die im Zuge der Neuen Ostpolitik Willy Brandts errichteten Brücken für eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland.
Die erkennbare Abwärtsspirale wird durch außen- und sicherheitspolitische Aktions-Reaktionsmuster im Verhältnis zu Russland zusätzlich befeuert. Spannungen im Ost-West- Verhältnis haben für Europa immer nur Eines bewirkt: Misstrauen und die Sorge vor neuer Kriegsgefahr. Wer sich aber auf die Sprache und Verhaltensweisen eines Kalten Krieges einlässt und Feindbilder beschwört, übernimmt Mitverantwortung für deren Folgen. Dies wurde von großen Sozialdemokraten wie Willy Brandt und Egon Bahr früh erkannt. Amerika sei für Deutschland unverzichtbar, Russland aber ist unverrückbar – dieses Diktum von Egon Bahr beschrieb bereits vor Jahren pointiert wichtige Koordinaten für die deutsche und europäische Außenpolitik. …
Wir wollen Euch heute deshalb eindringlich daran erinnern: Es waren Willy Brandt und Egon Bahr, die seinerzeit mit persönlichem Mut gegen den Zeitgeist und auch manch skeptische Stimmen in der Sozialdemokratie den Weg zur Beendigung des Kalten Krieges einschlugen. Dies geschah durch die aktive Hinwendung zu vertrauensbildender Zusammenarbeit in Feldern gemeinsamer Interessen. Dadurch wurde der Weg für die späteren friedlichen Transformationen in Mittel- und Osteuropa bereitet. Niemand kann bestreiten, dass ihre Politik des Wandels durch Annäherung maßgeblich zur Beendigung des Kalten Krieges beigetragen hat. …
Was 1990 für unmöglich gehalten wurde, steht 2018 offen im Raum: ein neuerlicher, möglicherweise noch gefährlicherer Kalter Krieg. Der Westen hat sich nach dem Ende des Ost-West-Konflikts für die Festigung einer gesamteuropäischen Friedensordnung gemeinsam mit Russland zu keinem Zeitpunkt entschieden genug eingesetzt. Russland hat durch die Besetzung der Krim und den Bruch des Budapester Abkommens die Prinzipien einer gesamteuropäischen Friedensordnung in Frage gestellt. Frieden und Sicherheit in Europa sind ernsthaft gefährdet….
Der Streit zwischen den USA und Russland um die Vertragseinhaltung des INF-Abkommens, einem zentralen Pfeiler auch der europäischen Sicherheit, hält an – der Vertrag könnte in kurzer Zeit gekündigt werden. Der Neue START-Vertrag von 2010 läuft 2021 aus, ohne dass Gespräche zu seiner Verlängerung oder Weiterentwicklung stattfinden. Ohne den Erhalt und die Fortschreibung beider Abrüstungsprozesse gäbe es erstmalig seit 1972 keine rechtlich-bindenden Begrenzungen der strategischen Nuklearmächte mehr, die ohnehin schon über 90 Prozent aller Nukleararsenale weltweit verfügen. Diese Entwicklung hätte unübersehbare Konsequenzen für das weltweite Nichtverbreitungsregime und würde die nukleare Weiterverbreitung in anderen Regionen vorantreiben…..
Zu der Debatte über die Forderung nach Erhöhung des Rüstungsetats auf 2% des Bruttonationalprodukts schreibt der Willy-Brandt-Kreis an die SPD:
… Dass die Erfüllung des sogenannten 2-Prozent Ziels allein für Deutschland eine Verdoppelung der militärischen Ausgaben bedeutete, wisst Ihr wie wir. Welche Fähigkeiten erfordern diesen unverhältnismäßigen Aufwand? Hinzu tritt die militärtechnologische Rüstungsdynamik im Bereich konventioneller, zielgenauer Präzisionswaffen, bei Cybertechnologien, autonomen Waffensystemen oder der Weltraumrüstung. Eine neue Rüstungskonkurrenz im Bereich künstlicher Intelligenz kündigt sich zudem zwischen den USA, Russland, China und Europa an, die wie die gerade genannten rüstungsrelevanten Technologien nicht durch Rüstungskontrolle begrenzt oder verboten sind. Wenn Rüstungskontrolle versagt, wird die Verfügbarkeit dieser Technologien künftiges strategisches Denken dominieren und politisches Handeln beeinflussen!
Die politischen Versäumnisse der Vergangenheit durch den Rückgriff auf neue alte Feindbilder wettmachen zu wollen, wird sich auf keinen Fall positiv auszahlen, weder für Europa und die USA, noch für Russland, und schon gar nicht für Deutschland. …
…Es gibt auch in Ländern mit autokratischer Herrschaft viele Menschen, die eine friedliche und freiheitliche Zukunft Europas erhoffen und sozialdemokratisch geprägter Außen- und Friedenspolitik vertrauen.
Schließlich, wir sind gewiss, dass Ihr das entspannungspolitische Erbe Willy Brandts und Egon Bahrs bewahrt und Euch als ebenso mutig und entschlossen erweist, in ihrem Sinne ein neues außen- und friedenspolitisches Leitbild für die Sozialdemokratie auch unter heutigen Bedingungen zu gestalten.