In der bisherigen Debatte über die Folgen eines endgültigen Ausstiegs von USA und Russland aus dem INF-Vertrag stand meistens die Sorge im Mittelpunkt, dass damit das Tor für ein hemmungsloses atomares Wettrüsten zwischen USA und Russland mit nuklearen Mittelstreckenraketen geöffnet würde …
Aber dabei wurde offenbar vergessen, dass auch weitere 11 Nachfolgestaaten der Sowjetunion von den Fesseln des INF-Vertrages „befreit“ würden – und dass der INF-Vertrag auch landgestützte konventionelle Mittelstreckenraketen verbietet.
Nur wenige Medien haben das Problem aufgegriffen, etwa die Washington Post Ende Februar mit einem Bericht über „Gewinner“ nach dem Ende des INF-Vertrages: “Ohne den INF-Vertrag könnte in Europa eine neue Raketenmacht entstehen: Es ist nicht Russland“. Es gebe die “Besorgnis über die negativen Folgen einer erneuten Stationierung von im INF-Vertrag verbotenen Raketen in Europa durch NATO und Russland. Aber es gibt noch ein weiteres Problem – Der INF-Vertrag ist mehr als eine bilaterale Vereinbarung, er hat auch die Raketenprogramme in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, auch in der Ukraine, begrenzt. Der Tod des INF-Vertrags könnte auch das Raketenprogramm der Ukraine wiederbeleben..”
Ende März versprach der inzwischen abgewählte Präsident Poroschenko auf einer Regierungshomepage, die Vorteile der Beendigung des INF-Vertrages für ein neues Raketenprogramm der Ukraine zu nutzen. Und Anfang April griff die „Kyiev Times“ das Thema auf :„Die Beseitigung des INF-Vertrags gibt der Ukraine die Chance, ihre Raketenmacht wiederherzustellen“.
Bleibt nun die Hoffnung, dass der neu gewählte Präsident der Ukraine mit seinem Erneuerungskurs auch in der Frage „Raketenmacht“ einen Kurs der Erneuerung der „Rüstungskontrolle“ statt der „Raketenmacht“ fährt.
Die Zeit bis zum Ablauf der INF-Kündigungsfrist am 01.08.2019 ist knapp für eine energische – europäische – Rettungsaktion. Auch wenn die Verhinderung des endgültigen Endes des INF-Vertrages nach Meinung des Chefs der Arms Control Association, Daryl Komball, „an ein Wunder grenzen würde“, bemühen sich viele Persönlichkeiten (z.B. Gorbatschow, William Perry) und auch ein gemeinsamer Gesetzentwurf im US-Senat (S.312 – Prevention of Arms Race Act of 2019) und US-Repräsentantenhaus (H.R.1231 — 116th Congress (2019-2020) darum, um diese katastrophale Entwicklung aufzuhalten.
Mit dem Aus des INF-Vertrages droht also in Europa nicht nur ein Wettrüsten mit neuen (bisher auch verbotenen) landgestützten konventionellen Mittelstreckenraketen (vom Typ „Conventional Global Prompt , CGPS) der USA und Russlands, die durch ihre Präzision durchaus als konventionelle „Erstschlagswaffen“ angesehen werden können. Denn auch konventionelle Mittelstreckenraketen vom Typ CGPS erhöhen die Gefahr einer nuklearen Eskalation: “Ein Staat könnte irrtümlich glauben, dass seine Atomwaffen angegriffen wurden, selbst wenn seine konventionellen Streitkräfte das Ziel wären. Das global prompt strike System ist nicht-nuklear und soll nach nur sehr kurzer Vorwarnzeit Ziele ausschalten, die mehrere Tausende von Kilometern entfernt sind.“ (The Diplomat, 19.12.2013: US Prompt Global Strike Missiles Prompt Russian Rail-Mounted ICBMs). Diese Warnung kam bereits im Jahre 2013.
Die von vielen geforderte „Rettung des INF-Vertrages“ ist also im höchsten Interesse aller Europäer – und das erfordert energischen politischen und diplomatischen Druck auf die Totengräber des INF-Vertrages, vor allem aus Europa. Die Homepage des Auswärtigen Amtes gibt gibt auf die Frage “Warum steht das Abkommen vor dem Aus?” eine “klare” Antwort: Russland habe “nichts unternommen, um die Vertragsverletzung rückgängig zu machen.” Über deutsche Initiativen zur Problemlösung geben auch die „Fünf Initiativen für weltweite Abrüstung“ bisher leider keine konkrete Auskunft.
Wie wäre es, wenn die deutsche Politik mal “ausnahmsweise” amerikanische Bemühungen um Rettung des INF-Vertrages unterstützt?
Das in US-Senat und Repräsentantenhaus eingebrachte “Gesetz zur Verhinderung eines neuen nuklearen Wettrüstens” ist da erheblich klarer: “Anstatt der Russischen Föderation formell die Absicht der Vereinigten Staaten zum Rückzug vom Vertrag mitzuteilen, sollten die Vereinigten Staaten andere diplomatische, wirtschaftliche und militärische Maßnahmen weiter voranbringen, wie sie in der „Integrierten Strategie der Trump-Administration zum INF-Vertrag“ dargelegt sind, um die Sorgen in Bezug auf die Vertragsverletzung der Russischen Föderation anzupacken, und eine Einigung über Maßnahmen zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit des Vertrags zu erzielen.”
Quellen:
- 2019-02-26. – Washington Post: Without the INF Treaty, Europe could see a new missile power. (Spoiler: It’s not Russia.)
- 2019-03-25. — (Jamestown Foundation) – Liquidation of the INF Treaty and Ukraine’s Prospects
- 2019-02-11. — (Obosrevatel, Kiev) — ”Долетять до Москви”: Україна створює потужне ракетне озброєння