(Überarbeitete 10 Thesen zur Entwicklung der Entspannungspolitik für die Veranstaltung der Norwegisch-Deutschen Willy-Brandt-Stiftung am 13.06.2018: “Lessons Learned 1963 – 2018 – Was können wir heute aus Willy Brandts politischem Wirken lernen?“)
1.) 28.08.1962 – Ausgangspunkt Kuba-Krise: Rüstungskontrolle statt Krieg
Seit einigen Jahren warnen Experten in den USA vor einer neuen „Kuba-Krise“,[1] die zum Atomkrieg eskalieren könne, u.a. weil amerikanische und russische Atomraketen sich wieder in höchster Alarmstufe (hair-trigger alert) befinden, um sie bei Alarm sofort gegeneinander zu starten..[1]
Zum 55. Jahrestag der Kuba-Krise von 1962 warnte der ehemalige US-Verteidigungsminister William Perry, die Gefahren einer Atomkatastrophe seien „heute größer sind als während des Kalten Krieges. …Unsere derzeitige Politik ist völlig ungeeignet zum Umgang mit diesen existentiellen Gefahren.“[2]
Am 28. Oktober 1962 wurde die Eskalation zum Atomkrieg in letzter Minute durch die erste „Rüstungskontrollvereinbarung“ zwischen Washington und Moskau gestoppt: Nachdem alle Vorbereitungen für den Atomwaffeneinsatz getroffen waren, um Moskau zum Abzug seiner Atomraketen aus Kuba zu zwingen, vereinbarte John F. Kennedy (entgegen dem Rat seiner meisten Berater) mit Nikita Chruschtschow den Abzug der sowjetischen Atomraketen aus Kuba sowie der (damals offiziell verschwiegenen) amerikanischen Atomraketen aus der Türkei und Italien.
2.) 10. Juni 1963, Washington – von der ”Pax Americana” zur „Strategy for Peace“
Mit dieser Erfahrung, dass die Eskalation der Kuba-Krise zur „Vernichtung beider Länder binnen 24 Stunden hätte führen können“,[3]begründete Kennedy vor der American University am 10. Juni 1963 seinen Beschluss, für die USA eine „Strategy of Peace“ einzuleiten anstelle der „der Pax Americana, die der Welt durch amerikanische Kriegswaffen aufgezwungen wird“.
Als ersten Schritte nannte er Verhandlungen über einen Vertrag über das (auf Drängen der Militärs) begrenzte Atomtestverbot (LTBT), der von der UdSSR, UK und den USA im August 1963 unterzeichnet wurde.
Zwar wurde am 22. November 1963 Kennedy ermordet, 1964 Nikita Chruschtschow gestürzt.
Aber USA und UdSSR einigten sich in den folgenden Jahren auf eine Reihe von Rüstungskontrollabkommen zur Kriegsverhütung und Begrenzung des Wettrüstens mit Atomwaffen, Raketen und Raketenabwehrsystemen.
Die „Strategy for Peace“ war also ein erster Schritt zur „amerikanischen“ Entspannungspolitik– und Ausgangspunkt für die „deutsche“ Entspannungspolitik, die Willy Brandt und Egon Bahr einen Monat später in Tutzing vorstellten: „Wandel durch Annäherung“.
- Lessons Learned: Entspannungspolitik ist kein Appeasement — Entspannungspolitik betreibt man nicht mit Freunden, sondern mit potentiell gefährlichen Gegnern, um Spannungen und Kriegsgefahren zu reduzieren, menschliche Erleichterungen und kooperative Sicherheit zu schaffen…
3.) 15. Juli 1963 Tutzing – „Strategy for Peace“ auf deutsch: „Wandel durch Annäherung“
Am 15. Juli 1963 vor der Evangelischen Akademie in Tutzing erläuterte Egon Bahr, damals Pressesprecher des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt, dessen Überlegungen für eine „neue Ostpolitik“ als die „deutsche Version“ der Strategy for Peace. Bahr brachte sie mit der Formel „Wandel durch Annäherung“ auf den Punkt. Während die CDU/CSU diese Strategie als „Wandel durch Anbiederung“ zurückwies, beschimpfte die DDR-Führung sie als „Konterrevolution auf Filzlatschen“.
Trotzdem: der erste „Wandel durch Annäherung“ erfolgte nur wenige Monate später: Obwohl es weder zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der „SBZ“ noch zwischen West- und Ost-Berlin offizielle Beziehungen gab, verhandelte Bahrs Beauftragter Horst Korber nach wenigen Monaten mit Ost-Berlin das erste Berliner Passierscheinabkommen. Bahrs diplomatisches Meisterstück war die vereinbarte Formulierung der “salvatorischen Klausel”:
„Ungeachtet der unterschiedlichen politischen und rechtlichen Standpunkte ließen sich beide Seiten davon leiten, dass es möglich sein sollte, dieses humanitäre Anliegen zu verwirklichen…Beide Seiten stellen fest, dass eine Einigung über gemeinsame Orts-, Behörden- und Amtsbezeichnungen nicht erzielt werden konnte.“[4]
- Wandel durch Annäherung durch eine “salvatorischen Klausel”: Sie ermöglichte erstmals seit dem 13.08.1961 die Öffnung der Mauer für West-Berliner: Mit dem Passierscheinabkommen besuchten während der Weihnachtsferien 1963 über 700 000 West-Berliner erstmals seit dem Bau der Mauer ihre Familien in Ostberlin.
4.) 28. Oktober 1969: Amtsantritt von Bundeskanzler Willy Brandt
Von 1966 bis 1969, während der Amtszeit von Willy Brandt als Außenminister der Großen Koalition, war Egon Bahr Leiter des Politischen Planungsstabes im Auswärtigen Amt, wo er die „neue Ostpolitik“ im Detail vorbereitete. Am 28. Oktober 1969 begann die “heiße Phase” der Entspannungspolitik mit Willy Brandts Amtsantritt als Bundeskanzler. Bevor er Egon Bahr zu Verhandlungen nach Moskau schickte, räumte er zwei politische Steine aus dem Weg:
Am 28. November 1969 unterzeichnete Deutschland den Atomwaffensperrvertrag, den Willy Brandt als Bundesaußenminister der Großen Koalition 1967-1969 mit ausgehandelt hatte, aber dessen Unterzeichnung er nicht gegen den Widerstand des CDU/CSU durchsetzen konnte. Und der Bundeskanzler gab den Weg frei für die Unterzeichnung “Erdgas-Röhren-Vertrags” durch Vertreter der deutschen Wirtschaft und der UdSSR in Essen am 1. Februar 1970 – und hob damit die seit 1962 nach Beschluss des NATO-Rates verhängten Sanktionen gegen die UdSSR (“Röhren-Embargo”) auf. (Die damaligen Auseinandersetzungen über Sanktionen lesen sich nach Meinung von Mario Mehren, CEO von Wintershall/DEA, angesichts der heutigen Debatte über „Nord Stream 2“ wie ein „aktueller Wirtschaftskrimi“.)
Willy Brandt berief Egon Bahr als Staatssekretär ins Bundeskanzleramt und entsandte ihn als Bevollmächtigten der Bundesregierung Anfang 1970 nach Moskau. Er sollte als ersten Schritt zur Annäherung zunächst die Verständigung mit Moskau über die Überwindung unvereinbarer Rechtspositionen suchen, welche die Normalisierung der Beziehungen Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn seit Jahrzehnten blockierten:
Die Position der Bundesrepublik war, dass völkerrechtlich „Deutschland in den Grenzen von 1937“ bestehe. Darin sahen Moskau, Warschau, Prag und Ost-Berlin eine Bedrohung und forderten die völkerrechtliche Anerkennung der bestehenden Staatsgrenzen in Europa. Vergeblich hatte Präsident Kennedy früher versucht, Bundeskanzler Adenauer zur Anerkennung der Grenzen zu bewegen.[5]
In Moskau bestand Egon Bahr darauf, nicht eher nach Bonn zurückzureisen, bis er eine Lösung der offenen Fragen ausgehandelt hatte. Einer der Hintergründe: einen Vertrag über die „endgültige völkerrechtliche Anerkennung“ der Grenzen hätte die CDU/CSU den Vertrag vor dem Bundesverfassungsgericht zu Fall gebracht.
Um eine Einigung über die Formulierung des Moskauer Vertrages zu erzielen, verhandelte Bahr zunächst rund 28 Stunden mit sowjetischen Verhandlungspartnern, danach mehrfach mit Außenminister Gromyko unter „vier Augen“ und zum Schluss in einem zweistündiges Gespräch mit Premierminister Kossygin.
Erst danach gelang es, einen Kompromiss über die völkerrechtlich verbindliche Formulierungen im Moskauer Vertrag zu vereinbaren, der auch in die anderen Ostverträge und die KSZE-Schlussakte vom 1. August 1975 aufgenommen wurden:
– Gewaltverzicht: Verzicht auf „Androhung oder Anwendung von Gewalt“,
– Unverletzlichkeit [6] (nicht „Endgültigkeit“)der Grenzen, die aber „im Konsens aller Beteiligten“ friedlich geändert werden könnten,
– „Respektierung“ (nicht „Anerkennung“) der DDR als gleichberechtigter souveräner Staat, auch die Aufnahme beider deutscher Staaten in die UNO.
- Lessons Learned? Egon Bahr schlug seit 2014 wiederholt einen ähnlichen Weg – “Respektierung statt Anerkennung” – gegenüber der Krim-Annektion durch Russland vor, um die Normalisierung der Beziehungen zur Verständigung über zahlreiche strittige Fragen zu erleichtern.[7]
5.) 11. Dezember 1971: Friedensnobelpreis – ”Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio“
Für seinen „hervorragenden Einsatz, um Voraussetzungen für den Frieden in Europa zu schaffen“ erhielt Willy Brandt 1971 den Friedensnobelpreis. In seiner Rede bei der Entgegennahme des Nobelpreises in Oslo am 11. Dezember brachte Willy Brandt das wirklich NEUE seiner Entspannungspolitik auf den Punkt:
„Der Krieg darf kein Mittel der Politik sein. Es geht darum, Kriege abzuschaffen, nicht nur, sie zu begrenzen… Krieg ist nicht mehr die ultima ratio, sondern die ultima irratio.…Ich begreife eine Politik für den Frieden als wahre Realpolitik dieser Epoche.“[8]
Niemand konnte damals ahnen, dass bereits 20 Jahre danach diese Friedens- und Entspannungspolitik entscheidend zum Ende des Kalten Krieges, zum Fall der Mauer und zur friedliche Vereinigung Deutschlands und Europas beitrug.
- Lessons Learned? Gilt Willy Brandts Formel vom Krieg als ultima IRRATIO – und nicht ultima „Ratio“ – seit dem Fall der Mauer nicht mehr? Gibt es empirische Belege, dass Interventionskriege die Lage der Menschen in der Regel verbessern oder noch mehr zu Tod, Zerstörung und Terrorismus beitragen?
6.) 1979 ff.: ”Zweite Phase der Entspannungspolitik” als Mittel gegen ”die zweite Phase des Kalten Krieges”
Während der 70er Jahre verschlechterten sich die Ost-West-Beziehungen dramatisch: Rüstungskontrollgespräche stagnierten, die Supermächte verhandelten primär über strategische Waffen, während in Europa ein neuer Rüstungswettlauf mit begrenzt einsetzbaren Atomwaffen begann (Stichworte: „Neutronenbombe“, SS 20, „Nachrüstung“)
Mit der sowjetischen Intervention in Afghanistan 1979, dem NATO-Doppelbeschluss vom Dezember 1979, dem Kriegsrecht in Polen kehrte der „neue“ Kalte Krieg nach Europa zurück.
Beide Supermächte waren davon überzeugt, dass sie sich jeweils militärisch im Rückstand befänden, und betrieben ein massives Wettrüsten mit qualitativ neuen Atomwaffen, Raketen mit immer kürzeren Vorwarnzeiten und mit der Verkündung des Raketenabwehrprogramms SDI durch Präsident Reagan, das, wie er selbst andeutete, gepaart mit Offensivwaffen eine Erstschlagsfähigkeit schaffen könnte[9].
Manöver beider Seiten wurden immer aggressiver. Aufgrund eines Fehl-Alarm über angeblich angreifende amerikanische Raketen, wurde in der Sowjetunion 1983 ein Gegenschlag vorbereitet und in letzter Minute gestoppt, als der mit dem „Gegenschlag“ beauftragte sowjetische Offizier Stanislaw Petrow den „Angriff“ als Computer-Fehler erkannte und den Befehl verweigerte[10].
In dieser Zeit entwickelten Willy Brandt mit Egon Bahr das Konzept einer “Zweiten Phase der Entspannungspolitik” – als Mittel gegen ”die zweite Phase des Kalten Krieges”. Im folgenden einige Beispiele:
a) Die Rolle der internationalen Kommissionen der UNO in der Zweiten Phase der Entspannungspolitik
Wichtiges Element von Willy Brandt und Egon Bahr waren (drei) internationale Kommissionen (Brandt-, Palme, und Brundtland-Kommission) im Rahmen der Vereinten Nationen. Ihnen war gemeinsam
- die Initiatoren- und Führungsrolle von Sozialdemokraten, und
- die Aufgabe, Experten aus den verfeindeten Lagern zusammen zu bringen, mit der Verpflichtung, gemeinsame Lösungsvorschläge zu erarbeiten, (also nicht nur zu Dialog oder „konstruktiven Monologen“ in Form von Positionspapieren)[11]
Der Bericht der Palme-Kommission (1982) über Gemeinsame Sicherheit hatte in den 80er Jahren eine hervorgehobene Rolle:
Der Bericht wurde auf der außerordentlichen UN-Vollversammlung über Abrüstung vorgestellt. Die „Gemeinsame Sicherheit“ und die Vorschläge zur Errichtung eines Atomwaffenfreien Korridors und von Chemiewaffenfreien Zonen in Europa wurden Thema in zahlreichen internationalen Gesprächen, z.B.
- in der so genannten „Nebenaußenpolitik der SPD“ (genauer gesagt: nicht der SPD als Partei, sondern von Mitgliedern der SPD Bundestagsfraktionen und der Friedrich Ebert Stiftung) in Ost- und Westeuropa wie in den USA,
- in Gesprächen mit Kirchen in der DDR, was die Legitimation unabhängiger Friedensarbeit im Rahmen der Kirchen, z.B. des Olof-Palme-Friedensmarschs, verbesserte,
- in der Sozialistischen Internationale,
- in Gesprächen von Egon Bahr mit europäischen Schwesterparteien (Skandilux),
- in zahlreichen ausführlichen Gesprächen Willy Brandt’s mit Michail Gorbatschow.
In den Gesprächen überzeugte Willy Brandt Michail Gorbatschow vom Konzept der Gemeinsamen Sicherheit und der „Doppelten Nulllösung“ für Mittelstreckenraketen in Europa. Das trug nicht unerheblich zum Ergebnis von Gorbatschows Treffens mit Präsident Reagan in Reykjavik 1987 bei. Dort einigten sich beide Präsidenten – gegen massiven Widerstand auf beiden Seiten – auf die „Doppelte Nulllösung“, das Verbot aller Kurz- und Mittelstreckenraketen im INF-Vertrag. Damit entfernten sie ein Schlüsselelement für den „begrenzten“ Atomwaffeneinsatz im Rahmen dernukleare Eskalationsstrategie als Teil der „glaubhaften“ Abschreckung.[12]
b) Rolle von Nichtregierungsorganisationen während der 2. Phase der Entspannungspolitik
Für Willy Brandt war die Einbeziehung von Vertretern der – meist kritischen – Zivilgesellschaft eine Selbstverständlichkeit, z.B. in der Mobilisierung in den Wahlkämpfen der 70er Jahre (Stichwort: Günter Grass).
Weniger bekannt ist die Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den 80er Jahren[13]]in die Gestaltung. und Erneuerung der Friedens- und Sicherheitspolitik:
– Im August 1981 organisierteSPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz gemeinsam mit Egon Bahreinen ersten Dialog und in den folgenden Jahren weitere Treffen mitVertretern der Friedensforschung, der Friedensbewegung, Kirchen. Bei der Auftaktveranstaltung diskutierten u.a. BundesverteidigungsministerHans Apel mit dem von ihm aus der Bundeswehr entlassenen General Gert Bastian, Petra Kelly und vielen anderen Kritiker derSPD-Sicherheitspolitik…...
– Im September 1983 reiste Willy Brandt auf Einladung der amerikanischen Friedensbewegung (Freeze Campaign) zu einer Anhörung im parteiübergreifenden (regierungskritischen) Arms Control Caucus des US-Kongresses. Er beriet mit Vertretern der Friedensbewegung und Kritikern des atomaren Rüstungswettlaufs aus dem US Kongress Strategien zur Überwindung der Konfrontation.[14]
Eines der Ergebnisse dieser Diskussion war eine internationale Unterschriftenaktion der Freeze Campaign (“Bevor es zu spät ist”) zur Unterstützung des von Willy Brandt vorgeschlagenen “Vier-Punkte-Abrüstungsplans” sowie seine Unterstützung der internationalen Kampagne für den Stopp von Atomwaffentests.
– Ein anderes Beispiel für die Einbeziehung von NGO: Ende September 1990 hatte eine Bürgerinitiative von Frauen der Entwicklungsexperten, die nach Beginn des Krieges gegen Kuwait vom Irak als Geiseln festgehalten worden waren, Willy Brandt gebeten, als Friedensnobelpreisträger in den Irak zu fliegen, um von Saddam Hussein die Befreiung der Geiseln zu erwirken.
– Bei der Klärung der Erfolgsaussichten trugen „NGO-Kontakte“ mit der irakischen Frauenorganisation ebenso wie europäisch-irakische parlamentarische Kontakte im Vorfeld dazu bei, den Boden für die Freilassung der Geiseln im Irak zu ebnen.
– Auch nach dem Fall der Mauer blieb Willy Brandt weiterhin im Gespräch mit Gruppen der friedenspolitisch engagierten Zivilgesellschaft. Z.B. sprach er auf dem Kongress der IPPNW 1992 in Berlin[15] über Gemeinsame Sicherheit….
c) Rolle der Wirtschaft: Wandel durch Handel…
Darüberhinaus solltedie Pionierarbeit der Wirtschaft erwähnt werden– genannt seien hier z.B. Wolf von Amerongen, der Ostausschuss der Wirtschaft und das Stichwort „Erdgas-Röhrengeschäft“ –die durch ihre Arbeit Wirtschaftsbeziehungen und Verständigung selbst in Zeiten des Kalten Krieges geschaffen haben.
Ähnliches gilt für die Kirchen, die z.B. mit dem Tübinger Memorandum (1961), ihrer Ostdenkschrift (1965), dem Bensberger Kreis erheblich zur Verständigung beitrugen.[16]
7.) Ergebnis von 20 Jahre Entspannungspolitik: Fall der Mauer und „Wunder der Rüstungskontrolle“
1989/1990 vollzogen sich drei friedliche Revolutionen, die völlig neue Voraussetzungen für eine gesamteuropäische Friedensordnung schufen. Das alles hatte sich friedlich vollzogen:
– Deutschland wurde geeint— mit Zustimmung aller vier Siegermächte und aller Nachbarstaaten.. Die Oder – Neiße – Grenze wurde als endgültig anerkannt. Deutschland erhielt seine volle Souveränität zugesichert.
- Europa wurde geeint. Der Kalte Krieg war zu Ende. Der Warschauer Pakt löste sich fast lautlos auf.
- 500.000 sowjetische Truppen kehrten aus Mitteleuropa nach Russland zurück. Zigtausende Panzer und tausende von Atomwaffen wurden aus Europa entfernt und vertraglich vernichtet. 1991 löste sich die UdSSR auf.
- Im November 1990 unterschrieben alle 35 Staats- und Regierungschefs der KSZE-Staaten in Paris die „Charta für ein neues Europa“. Erklärtes gemeinsames Ziel war eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok.
- 1995 wurde der Atomwaffensperrvertrag (NPT) unbefristet verlängert und von fast allen Staaten der Erde (188) ratifiziert – nachdem sich die Atommächte verpflichtet hatten, das vollständige Atomtestverbot (CTBT) auszuhandeln zu ratifizieren und schrittweise sämtliche Atomwaffen abzurüsten.
8.) Seit 2000 neue Spannungen durch Missachtung von Rüstungskontrolle und Abrüstung
Aber kurz danach zeichnete sich eine Abkehr von den Prinzipien der Entspannungspolitik ab, die Europa seit 1969 geprägt und verändert hatten. Die Welt wurde erneut und wiederholt von Krisen, Terroranschlägen und Kriegen erschüttert.
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts wurden viele dieser wichtigen Abrüstungsvereinbarungen gekündigt, außer Kraft gesetztoder nicht ratifiziert:
Zum Beispiel der ABM-Vertrag zur Begrenzung der Raketenabwehr (viele Jahre der “Eckpfeiler der strategischen Stabilität”) wurde 2001 von Präsident Bush gekündigt. Der AKSE-Vertrag wurde von NATO-Mitgliedern nicht ratifiziert, der KSE-Vertragwurde von Russland ausgesetzt, Der Umfassende Atomteststopp-Vertrag (CTBT) bis heute nicht ratifiziert.
Im Dezember 2011 erinnerten Egon Bahr, Hans-Dietrich Genscher, Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker die deutsche Außenpolitik an „Kriegsverhütung durch Rüstungskontrolle“ als einen Grundpfeiler der Entspannungspolitik Willy Brandts an.[17]
Frank Walter Steinmeier ergriff im August 2016 die Initiative für einen umfassenden „Neustart der Rüstungskontrolle“, weil das Fehlen der konventionellen Rüstungskontrolle „zu einer Katastrophe beitragen kann“[18]. Diese Initiative wurde von den USA und baltischen Ländern abgelehnt. Immerhin kam es auf Initiative Deutschlands als OSZE-Vorsitzende im Dezember 2016 zu einem „strukturierten Dialog“ im Rahmen der OSZE, aber zu keinerlei Vereinbarungen über Rüstungskontrolle.
Rolf Mützenich, MdB, forderte im Juni 2018 angesichts des Stillstands der Rüstungskontrolle „eine Politik, die mit neuen Initiativen und Formaten dazu beiträgt, Blockaden aufzubrechen und aus Sackgassen herauszukommen.“[19]
9.) Rolle der Zivilgesellschaft in der Friedenspolitik heute
Meines Erachtens ist eine der Ursachen für den friedenspolitischen Stillstand nicht nur die Schweigsamkeit der politischen Parteien, sondern auch die mangelnde Einbeziehungder Zivilgesellschaft und ihrer Expertise in dieKommunikation und Entscheidungsfindung der politischen Parteien.
Es sei daran erinnert: Erst durch die breite Mobilisierung der Zivilgesellschaft und ihre aktive Mitwirkung wurden – gegen den Widerstand der vorherrschenden Sicherheitspolitik – völkerrechtliche Verbote von besonders menschenfeindlichen Waffen erarbeitet und durchgesetzt. Dafür erhielten Organisationen der Zivilgesellschaft Friedensnobelpreise:
- Die internationaler Konvention zum Verbot von Landminen vom 03. Dezember 1997,
- die internationale Konvention zum Verbot von Streubomben vom 17.10.2010, und
- die mit 123 Stimmen Mehrheit von der UN-Generalversammlung im Herbst 2017 beschlossene internationale Konvention zum Verbot von Atomwaffen.
- Der Friedensnobelpreis für die Anti-Atomwaffen Kampagne ICAN im Dezember 2017 ist sichtbarer Ausdruck des potentiellen Gewichts von Nichtregierungsorganisationen in der internationalen Politik, um „Blockaden aufzubrechen und aus Sackgassen herauszukommen“...
Erst aufgrund des jahrelangen Drucks der Zivilgesellschaft hatte die norwegische Regierung die Initiative für die Konvention zum Verbot Streubomben ergriffen und u.a. den deutsche Außenminister geworben und damit auch den Weg eröffnet für andere Regierungen der NATO, sich der Ausarbeitung dieser anzuschließen.
(Die Wahlanalyse der SPD kam vor kurzem zum Schluss: „Über Jahre hat es die SPD versäumt, sich in verschiedenen gesellschaftlichen Milieus … NGOs…– einen soliden Rückhalt zu verschaffen.“)
- Lessons Learned? Eine Lehre aus dem Wirken Willy Brandts ist auch, dass die Politik Dialog und Kompetenz der Zivilgesellschaft benötigt: Beratung der politischen Parteien mit Vertretern von NGO, Friedensforschung, Friedensgutachten, Ostausschuss der Wirtschaft, Kirchen etc., um ihre Expertise für die Erneuerung der Friedenspolitik zu nutzen…
10.) Wie können wir das Vermächtnis von Willy Brandts Entspannungspolitik heute anwenden?
Als Antwort möchte ich einen langjährigen Freund von Willy Brandt zitieren, den ehemaligen norwegischen Außen- und Verteidigungsminister Thorvald Stoltenberg (und Vater des NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg), der mir in einem Gespräch am 15. April 2013 über seine Erfahrungen mit Willy Brandt auf die Frage nach seinen “Lehren aus Brandts Entspannungspolitik für heute” antwortete:
„Aus heutiger Sicht erwies sich Willy Brandts Entspannungspolitik als die bestmögliche und erfolgreiche Anwendung der Charta der Vereinten Nationen zur Überwindung der im Kalten Krieg festgefahrenen Spannungen in Europa.
Ich persönlich möchte drei Ergänzungen zur Verwirklichung von Willy Brandts Vermächtnis nach dem Ende des Kalten Krieges formulieren.
Erstens: Mehr Offenheit und Demokratie! Man sollte dem Terror mit mehr Offenheit und Demokratie (d.h. nicht „Naivität“!) begegnen, und nicht mit mehr Verschlossenheit und weniger Demokratie! Als wir in Norwegen am 22. Juli 2012 dem Terror und Massenmord durch eine Person ausgesetzt waren, haben wir zu Tausenden mit mehr Offenheit und mehr Demokratie geantwortet.
Das Ergebnis war breiteste Solidarität und Unterstützung aus allen Strömungen unserer Gesellschaft. Und der vom Gericht verurteilte Terrorist und seine Ideologie waren grenzenlos isoliert, trotz oder gar wegen aller Offenheit. Diese Reaktion war anders als die Reaktion von Präsident Bush auf den 11. September 2001.
Zweitens: Dynamik von Konflikten nur durch Dialog zu lösen! Wir können KRIEG nicht „weg“erfinden, und alle Konflikte sind verschieden. Aber wir müssen lernen, anders mit der Dynamik von Konflikten umzugehen! –
Man kann die Dynamik von Konflikten nur dann deeskalieren, wenn man mit ALLEN spricht, die im Konflikt Macht haben. Wenn man nicht direkt mit einer Konfliktpartei redet, kann man auch keine Vereinbarung erzielen! Das heißt Kommunikation zwischen und mit Konfliktparteien ist Voraussetzung für jede tragfähige Konfliktlösung.
Drittens: Den Kompromiss aufwerten, denn ohne Kompromisse keine Problemlösung! Kompromisse und Kompromissbereitschaft sind Voraussetzung für JEDE Problemlösung – ob in der Familie, in der Gesellschaft, lokal oder international.
Wir sollten aufhören, den Kompromiss nur als „notwendiges Übel“ oder als etwas darzustellen, was wir unter „anderen“ Bedingungen wieder in Frage stellen. Nur die Bereitschaft zum Kompromiss, zum Interessenausgleich und zur Respektierung des Anderen und seiner Andersartigkeit kann in der globalisierten Welt den Weg zum Zusammenleben und zur friedlichen Veränderung eröffnen.
Gerade dies war das Geheimnis des Erfolges der Politik Willy Brandts, die zur friedlichen Öffnung und Vereinigung Europas geführt hatte.“
Ich fragte ihn Ende Dezember 2017 in Oslo, ob er seine anlässlich des Geburtstags von Willy Brandt getroffene Aussage heute uneingeschränkt wiederholen würde. Er bejahte das und ergänzte mit einem Zitat aus seiner Antwort auf die Frage der norwegischen Zeitung VG vom Oktober 2017, was er von den Drohgebärden von Präsident Trumps gegenüber Nord-Korea halte: „Ich hätte wahrscheinlich Kim Jong-un zum Frühstück eingeladen“.[20]
Anmerkungen:
[1]Die vom früheren Senator Sam Nunn geleitete Initiative gegen nukleare Bedrohung, Nuclear Threat Initiative (NTI), erklärte 50 Jahre nach der Kuba-Krise:
„Ein halbes Jahrhundert nach der kubanischen Raketenkrise halten die Vereinigten Staaten und Russland immer noch Tausende von Atomwaffen bereit, um bei Alarm sofort gegeneinander gestartet zu werden. Dieser Alarmzustand erhöht das Risiko eines versehentlichen oder unbefugten Starts von nuklearen ballistischen Raketen – entweder durch technisches Versagen, menschliches Versagen oder Fehlverhalten.” übersetzt aus: http://www.nti.org/newsroom/news/fifty-years-after-cuban-missile-crisis-nuclear-threat-still-looms/
[2] https://neue-entspannungspolitik.berlin/william-j-perry-haben-wir-den-kalten-krieg-vergessen-die-atomkriegsgefahr-ist-heute-groesser-als-je-zuvor/
[3] Übersetzung: Rede auf der Abschlussfeier der American University / – https://www.jfklibrary.org/JFK/Historic-Speeches/Multilingual-American-University-Commencement-Address/Multilingual-American-University-Commencement-Address-in-German.aspx
2007-10-08. — A Look Back … Remembering the Cuban Missile Crisis – — Central Intelligence Agency, in: https://www.cia.gov/news-information/featured-story-archive/2007-featured-story-archive/a-look-back-remembering-the-cuban-missile-crisis.html
[4] Anlage I zum Passierscheinabkommen 12/1963, Protokollnotiz von Horst Korber, in: https://www.hdg.de/lemo/bestand/objekt/dokument-erklaerung-passierscheinabkommen.html
[5] Klaus Rehbein, Die westdeutsche Oder/Neiße-Debatte, Hintergründe, Prozeß und das Ende des Bonner Tabus, LIT Verlag, 2005, S. 54 / https://de.wikipedia.org/wiki/Oder-Neiße-Grenze
[6] d.h. nicht ”Endgültigkeit” der Grenzen….
[7]Vgl: Egon Bahrs Wandel durch Annäherung 1963: Vorbild für Ukraine-Konflikt?
[8] www.nobelprize.org/nobel_prizes/peace/laureates/1971/brandt‐lecture‐t.html?print=1
[9] ”… Wenn sie mit Angriffssystemen gekoppelt sind, können sie als Nährboden einer aggressiven Politik angesehen werden,…” (Präsident Reagan in seiner Fernsehansprache am 23. März 1983)
[10] 2015-08-04. — (Handelsblatt) — Stanislaw Petrow ist tot: Der Mann, der die Welt rettete
[11] ➢ Die Nord-Süd-Kommission (Brandt-Kommission),
➢ die Palme-Kommission über Gemeinsame Sicherheit und
➢ die Brundtland Kommission gegen die wachsenden Umweltgefahren.
[12] W. Biermann: „’Nachrüstung’ als Übergang von der Strategie der atomaren Abschreckung zur Strategie der Führbarkeit des Atomkrieges“, in: Neue Gesellschaft, Heft 05-1981, S. 63 ff
[13] vgl.: Jan Hansen, Zwischen Staat und Straße – Der Nachrüstungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie (1979-1983), in: Archiv für Sozialgeschichte 52, 2012, S. 517 – 553
[14]26.–30. September 1983 USA: Vortrag vor dem World Affairs Council of Philadelphia, Entgegennahme der Ehrendoktorwürde des Walsh College in Canton (Ohio) sowie Teilnahme an einer Anhörung des Kongresses in Washington D.C. zur geplanten Stationierung von atomaren Mittelstreckenwaffen der USA in Westeuropa. (https://www.willy-brandt-biografie.de/reisen/1983-1992)
[15]Vgl.: https://www.willy-brandt-biografie.de/reisen/1983-1992/
[16] Boll, Wysocki, Ziemer (Hrsg.) Versöhnung und Politik, Polnisch-deutsche Versöhnungsinitiativen der 1960er Jahre und die Entspannungspolitik, Dietzverlag, Bonn 2009.
[17] Egon Bahr, Hans-Dietrich Genscher, Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker am 11.12.2011 in ihrer ” Stellungnahme aus Anlass des 40. Jahrestages der Osloer Rede Willy Brandts bei der Übergabe des Friedensnobelpreises 1971 am 11.12.1971”
[18] Frank-Walter Steinmeier fordert Neustart der Rüstungskontrolle,
[19] Rolf Mützenich, Neue Wege in der Russland-Politik
[20] ”Jeg kunne godt invitert Kim Jong-un på frokost”, Interview von Kari Aarstad mit Thorvald Stoltenberg in VG (Verdens Gang), 27.10.2017