Aus Anlass des Jahrestags des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat die Redaktion der liberalen US-Zeitung The Nation folgenden Appell für einen Waffenstillstand formuliert. Wir veröffentlichen diese in Absprache mit The Nation ins Deutsche übertragene Fassung:
Mit der unheilvollen Wende der Kämpfe wird es nun Zeit, auf einen Waffenstillstand zu drängen.
Der 24. Februar markiert den ersten Jahrestag der völkerrechtswidrigen und brutalen Invasion Russlands in der Ukraine. Während wir den außergewöhnlichen Mut und Widerstand des ukrainischen Volkes würdigen, ist der Anlass ein trauriger, gekennzeichnet durch einen andauernden Krieg, zunehmende Todesopfer, verstümmelte Menschen, verwüstete Städte und Dörfer, vertriebene Familien.
Dies sollte auch eine Zeit für nüchternes Nachdenken in der Biden-Administration sein, die Möglichkeiten hatte, die Katastrophe abzuwenden, sich aber entschied, sie nicht zu nutzen.
Nach Schätzungen der US-Geheimdienste beläuft sich die Anzahl der getöteten oder verwundeten russischen und ukrainischen Soldaten auf zusammen weit über 200.000 – und die Vereinten Nationen berechneten die Zahl der getöteten ukrainischen Zivilisten auf mindestens 7.100. Die Zahl der Binnenvertriebenen in der Ukraine beläuft sich auf rund 6 Millionen. Weitere rund 8 Millionen ukrainische Flüchtlinge sind in andere Länder Europas geflohen – die größte Flüchtlingswelle auf dem Kontinent seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Die Euphorie, mit der die ersten ukrainischen Erfolge vor Ort begrüßt wurden, hat sowohl in Washington als auch in Brüssel zu dem Gefühl beigetragen, dass ein eindeutiger militärischer Sieg – oder sogar ein Regimewechsel in Moskau – realistische Ziele seien.
Doch während wir auf das zweite Jahr dieses Krieges zusteuern, scheinen die Kämpfe eine unheilvolle Wendung zu nehmen. Russland stellt jetzt eine Invasionstruppe auf, die fast dreimal so groß ist wie die am 24. Februar 2022. Zwischen 300.000 und 500.000 Soldaten sind an der Grenze zur Ukraine versammelt. Berichten zufolge sollen auch Tausende von Reservesoldaten darauf warten, sich der Front in Weißrussland anzuschließen.
George F. Kennan, der vielleicht prominenteste Diplomat seiner Zeit, schrieb über den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg: „Es schien uns damals, dass das größte Interesse, das wir an dem Krieg hatten, war nicht, ihn zu führen, sondern ihn so schnell wie möglich zu beenden.” Amerika sollte es vermeiden, diesen Fehler zu wiederholen.
Bis heute hat sich die Biden-Regierung gegen eine direkte Beteiligung der US-Streitkräfte ausgesprochen, das sie vernünftigerweise einen Krieg zwischen den zwei Atommächten befürchtet. Aber während die Kosten und der Umfang unseres Engagements steigen, wird es einen wachsenden Chor derer geben, die argumentieren, die USA könnten es sich nicht leisten, zu verlieren.
Wenn die USA bei der Zerstörung der Nord-Stream-Pipelines eine Rolle gespielt haben sollten – wie der jüngste Bericht von Seymour Hersh andeutet – dann hat die Biden-Admnistration bereits schicksalhafte Schritte unternommen, um die Ukraine als Russlands wichtigsten Gegner abzulösen.
Letzte Woche war durchgesickert, das Pentagon wolle ein streng geheimes Programm zur Entsendung von US-Kommandos in die Ukraine wiederbeleben. Wir können nur hoffen, dass die umsichtigen Einschätzungen des Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff, General Mark Milley, dass die Ukraine jetzt eine politische Lösung anstreben sollte, nicht ignoriert wird.
Doch bisher hat Biden den Forderungen Kiews nach mehr Waffen – und einer zunehmenden militärischen Verstrickung der USA – weitgehend nachgegeben. Die meisten Amerikaner wären sehr überrascht, wenn sie erführen, dass ukrainische Truppen auf einem Stützpunkt der US-Armee in Oklahoma trainieren. Sie wären ebenso überrascht zu erfahren, dass es in Europa 100.000 kampfbereite Soldaten gäbe – einschließlich Truppen der 101. Luftlandedivision, die nahe der ukrainischen Grenze in Rumänien stationiert sind. Die Begeisterung in den Vorstandsetagen der Konzerne und den Greenwoods am Beltway für eine Ausweitung dieses Krieges wird von der amerikanischen Öffentlichkeit nicht geteilt.
Eine diplomatische Lösung wird nicht leicht zu erreichen sein. Beide Seiten werden Zugeständnisse machen müssen. Die Ukraine braucht Sicherheitsgarantien, Ressourcen für den Wiederaufbau – und eine Zukunft in Europa.
Aber es wird die Hoffnungen aufgeben müssen, das gesamte Territorium, das es seit 2014 verloren hat, zurückzugewinnen. Russland wird einen Großteil der beanspruchten Gebiete aufgeben müssen, die es annektiert hat. Irgendwann wird es eine Befreiung von internationalen Sanktionen brauchen.
Jetzt ist der Moment, auf einen Waffenstillstand und anschließende Verhandlungen zu drängen!
Wir müssen den Sirenengesang derer ablehnen, die bis zum letzten Ukrainer kämpfen würden. Angesichts des erlittenen Leids zögern die Ukrainer verständlicherweise, eine Einigung zu akzeptieren. Aber die USA und ihre NATO-Partner wissen sicherlich, dass die Zeit nicht auf der Seite der Ukraine ist. Die westliche Einheit, die für die Verteidigung der Ukraine so wichtig ist, beginnt bereits zu bröckeln.
Auch Russland – und Putin – haben einen hohen Preis für seine Aggression bezahlt . Die Ukraine hat schreckliche Verluste erlitten, aber nationalen Zusammenhalt und Vertrauen gewonnen. Um die Ukraine zu retten – und um das Risiko eines wirklich katastrophalen, möglicherweise nuklearen Großmachtkonflikts zu vermeiden – ist es an der Zeit, ein Ende des Krieges anzustreben. Damit dies geschehen kann, müssen die USA und ihre Verbündeten jetzt den Frieden vorantreiben.
Die Zeitung The Nation ist die älteste Zeitung der USA. Sie wurde 1865 gegründet und berichtete seitdem über das politische und kulturelle Leben in den USA – als kritische, unabhängige und progressive Stimme im amerikanischen Journalismus. The Nation setzte sich schon 2018 “für eine grundlegende Wende in der US-Außenpolitik” in Richtung auf “Überwindung von Konfrontation, Wettrüsten und globaler Ungerechtigkeit” ein.
Quelle: 2023-02-16.- (The Nation) – To Save Ukraine, End the War! With the fighting poised to take an ominous turn, now is the time to push for a cease-fire – von der Redaktion (W. Biermann) ins Deutsche übertragene Fassung