Der Leitartikel der Juniausgabe von “The Nation” The Perils of Wider War in Eastern Europe greift Diskussionen in den USA über “schicksalhafte Entscheidungen” zur stärkeren Beteiligung am Ukraine-Krieg bis hin zur Entsendung von Militärberatern auf, und berichtet auch über repräsentative Umfragen in der Ukraine, wonach mehr als 2/3 der ukrainischen Bevölkerung fordern, neben der Verteidigung “nach einem diplomatischen Weg zu suchen, um den Krieg mit Russland zu beenden, um menschliche Opfer zu minimieren“. Die Schlussfolgerung: Präsident Biden müsse endlich über Verhandlungsinitiativen “einen Ausweg aus der Konfrontation zu finden”. Wir veröffentlichen in Absprache mit den Autoren ihren ins Deutsche übertragenen Text:
Gefahren eines größeren Krieges in Osteuropa — Wir stehen vor der Wahl zwischen einer Verhandlungslösung in der Ukraine und der Möglichkeit eines katastrophalen Krieges.
von Katrina van den Heuvel und James W. Carden
Der Mordanschlag auf den slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico am 15. Mai ruft unweigerlich Erinnerungen an die Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo vor 110 Jahren wach, die Auslöser des Ersten Weltkrieg war.
Es ist eine Tragödie, dass man ohne Übertreibung sagen kann, Europa (und dieses Mal vor allem die Vereinigten Staaten) stünden erneut vor einer schicksalhaften Entscheidung — zwischen einer Verhandlungslösung in der Ukraine und der Möglichkeit eines dritten und vielleicht letzten Weltkriegs.
Glaubt man den jüngsten Äußerungen US-amerikanischer und europäischer Regierungsvertreter, wächst der Konsens in Erwartung eines Krieges.
Am 16. Mai berichtete die New York Times, der Vorsitzende der Vereinten Stabschefs habe zur Möglichkeit der Entsendung von NATO Militärausbildern in die Ukraine gesagt: „Wir werden da wohl irgendwann hinkommen.“ Im selben Artikel schreibt die Times, ein US-Beamter hätte die „Möglichkeit“ ins Spiel gebracht, dass NATO-Berater „ukrainische Truppen in Lviv ausbilden könnten“.
Wir haben mit der Biden-Administration erlebt, dass sie uns das eine erzählt und etwas anderes tut: zum Beispiel lieferte die Administration heimlich weitreichende ATACMS Raketen in die Ukraine, – was erst im Nachhinein bekannt wurde; daher könnte man auch vermuten, dass sich bereits US-Berater vor Ort befinden könnten.
In der Tat erzählte ein Pentagonbeamter , unter der Voraussetzung der Anonymität, im April 2022 gegenüber Asia Times, „dass wir wahrscheinlich in der Ukraine eine begrenzte Präsenz haben, eher unter der Zahl 50 als unter der Zahl 10“ – was eher auf US-Geheimdienstmitarbeiter oder Paramilitärs als auf Reservisten deutet.
Unterdessen fordern wichtige Regierungsvertreter – darunter der französische Präsident Emmanuel Macron, der britische Außenminister David Cameron und die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock – die Lieferung von Waffen mit noch größerer Reichweite.
Die New York Times schrieb am 16. Mai schrieb darüber hinaus, dass „Großbritannien, Deutschland und Frankreich daran arbeiten, Rüstungsunternehmen in der Ukraine anzusiedeln, um den Bau und die Reparatur von Waffensystemen näher am Kampfgebiet zu ermöglichen.“ ?
Russland hat auf diese Entwicklungen mit einer Reihe von eigenen Drohungen reagiert. Russland und der Westen haben den gefährlichen Pfad eines Ausbaus der gegenseitigen Kriegsführungsfähigkeit eingeschlagen.
Das russische Verteidigungsministerium gab eine Erklärung heraus, in der es behauptete, die russischen Streitkräfte würden „die Vorbereitung und den Einsatz nicht-strategischer Atomwaffen üben, um auf provokative Äußerungen und Drohungen bestimmter westlicher Politiker gegen die Russische Föderation zu reagieren“.
Die Frage bleibt: Sind dies die Anzeichen eines nahenden und tragischen „Wendepunkts“ – und wenn ja, kann dieser noch vermieden werden?
Um letzteres zu erreichen, sollte die Biden-Administration endlich einen nüchternen Realismus in der Ukraine entwickeln und verstehen, dass die Lage des ukrainischen Volkes zwar herzzerreißend ist, die humanere Option jedoch darin besteht, den Krieg nicht auszuweiten.
Selbst die Unterstützer der Ukraine erkennen eine Ausweitung des Krieges als das, was sie ist: eine Gefahr für die Zukunft der Ukraine.
Der ehemalige Präsident des Council on Foreign Relations, Richard Haass schlägt vor, dass die Ukraine „einen vorläufigen Waffenstillstand entlang der bestehenden Linien vorschlagen” sollte. Seine Begründung: „Die Ukraine wäre mit einer militärischen UND diplomatischen Strategie besser dran, die den Kern des Landes schützt, seine Unabhängigkeit bewahrt und externe Unterstützung aufrechterhält.“
Die unangenehme Wahrheit ist, dass Russland heute über eine größere und leistungsfähigere Armee verfügt als zu Beginn des Krieges. Wie der Oberbefehlshaber der NATO in Europa in einer Aussage vor dem Streitkräfteausschuss des Senats im April erklärte, wird Russland bald „das größte Militär des Kontinents befehligen“.
Mit jedem Tag des Krieges gerät die Ukraine weiter an den Rand des Abgrunds. Die Internationale Organisation für Migration der Vereinten Nationen (IOM) amalysiert in einem Bericht, dass nach zwei Jahren Krieg „mehr als 14,6 Millionen Menschen – unglaubliche 40 Prozent der Gesamtbevölkerung der Ukraine – im Jahr 2024 weiterhin humanitäre Hilfe benötigen werden“.
Es ist daher auch keine Überraschung, dass Umfragen des Internationalen Instituts für Soziologie in Kiew zufolge Millionen Ukrainer die offizielle Linie ablehnen, der Krieg könne nur mit militärischen Mitteln beendet werden:
72% der gesamten ukrainischen Bevölkerung unterstützten in der Umfrage des Instituts die Forderung, “neben den militärischen Maßnahmen sollte die Ukraine auch nach einem diplomatischen Weg suchen, um den Krieg mit Russland zu beenden, um menschliche Opfer zu minimieren“
In der am meisten vom Krieg betroffenen östlichen Region der Ukraine wuchs die Unterstützung der Bevölkerung für den “diplomatic way to end the war” auf 82%.
Präsident Barack Obama erkannte schon vor Jahren, dass Russland in der Ukraine mit seiner „eskalierenden Dominanz“ besitzt – die Fähigkeit hat, den Einsatz laufend zu erhöhen: „Tatsache ist, dass die Ukraine … anfällig für eine militärische Dominanz Russlands sein wird, egal was wir tun“, sagte er. Präsident Obama hatte recht.
Nach Kündigung des INF-Vertrages sowie fast aller anderen Rüstungskontrollverträge war der Streit über die NATO-Erweiterung vor Russlands Haustür — ohne jegliche Verhandlungen über Rüstungskontrolle und Sicherheit — ein tragischer Fehler. Zum Wohle des ukrainischen Volkes muss die Biden-Administration einen Ausweg aus der Konfrontation finden, und zwar jetzt.
Quelle:
Leitartikel der Juniausgabe von The Nation : The Perils of Wider War in Eastern Europe | The Nation, ins Deutsche übertragen von Wolfgang Biernann
Über die Autoren:
Katrina vanden Heuvel ist Redaktionsleiterin und Herausgeberin von The Nation, Amerikas führender Quelle für progressive Politik und Kultur. Sie war von 1995 bis 2019 Herausgeberin des Magazins.
James W. Carden ist Redakteur für Außenpolitik bei The Nation. Er diente als politischer Berater des Sonderbeauftragten für zwischenstaatliche Angelegenheitensowie des Büros für Russlandangelegenheiten im US-State Department.
Über The Nation:
Die Zeitung The Nation wurde 1865 von Abolitionisten gegründet und hat eine große Breite und Tiefe des politischen und kulturellen Lebens dokumentiert, vom Debüt des Telegraph bis zum Aufstieg von Twitter. The Nation versteht sich als kritische, unabhängige und progressive Stimme im amerikanischen Journalismus.
Weitere Informationen:
05.06.2024 — Forum DL21: Stoppt das Spiel mit dem Feuer – wider die Militarisierung der Politik
16.05.2024 — New York Times: Seitdem Russland wieder vorrückt, erwägt die NATO die Entsendung von Ausbildern in die Ukraine” — “Die NATO-Verbündeten rücken näher an die Entsendung von Truppen in die Ukraine heran, um die ukrainischen Streitkräfte auszubilden. Dies würde eine weitere Verwischung der früheren roten Linie bedeuten und könnte die Vereinigten Staaten und Europa direkter in den Krieg hineinziehen“.
19.04.2024– NYT — Rechtsexperten sagen, USA seien “Kriegsbeteiligter” im Ukrainekrieg