Zu diesem Thema lud der Verein Haus für die Vereinten Nationen in Berlin am 14. Februar 2025 zum Kamingespräch mit Oberst a.D. Wolfgang Richter ein.
Für seinen Vortrag stellte Wolfgang Richter den Gesprächsteilnehmern ein Handout zur Verfügung. Im folgenden der Wortlaut des Handouts mit einer Reihe von Fakten und Hintergründen zur Frage der Stationierung von Mittelstreckenraketen:
Kamingespräch HVN AK Friedenssicherung mit Wolfgang Richter
14. Februar 2025, 19:00 Uhr, Berlin Kultursalon am Preußenpark
Stationierung von U.S. Mittelstreckenraketen in Deutschland – Notwendige Abschreckung oder Gefährdung der europäischen Sicherheit?
- Die USA und DEU haben am 10. Juli 2024 in Washington die Absicht erklärt, ab 2026 Langstreckenraketen in Deutschland zu stationieren, die der 2. MDTF in Wiesbaden zugeordnet sind.
- Dass so das Commitment der USA für die NATO und die integrierte Verteidigung Europas demonstriert werden soll, steht seit der Wiederwahl von D. Trump zum Präsidenten in Zweifel.
- Die im Statement erwähnten bodengestützten ballistischen Raketen und Marschflugkörper vom Typ SM-6 (mit ca. 500 km Reichweite), Tomahawk (1.700 km) und die hypersonische Langstreckenrakete (HLRW) Dark Eagle (3.000 km) sind kein operatives Gegengewicht zu den 12 russischen Iskander-Systeme in Kaliningrad (mit 500 km Reichweite); vielmehr können sie Moskau in 10 Minuten erreichen und in 15 Minuten den Ural. Damit halten sie potentiell auch Ziele von strategischer Bedeutung im gesamten europäischen Teil Russlands unter Bedrohung.
- Dass dies nötig sei, um eine „Fähigkeitslücke“ der NATO zu schließen, überzeugt mich nicht; denn nicht jedes System des Gegners muss 1:1 gespiegelt werden, um operative Wirkung zu erzielen. Die NATO verfügt schon heute über mehr als 3.000 luft- und seegestützte Langstreckensysteme in Europa; die verbündeten See- und Luftstreitkräfte sind denen Russlands weit überlegen, sowohl qualitativ als auch quantitativ. Ihre (SEAD-)Eindringfähigkeit und ihre kombinierte Reichweite erlauben es, Ziele in die Tiefe Russlands mit Entfernungen über 1.500 km hinaus abzudecken. So können Truppenansammlungen, Führungszentren, Flugplätze, Luftverteidigung und Logistik in der Tiefe angegriffen und der Vormarsch zur Front abgeriegelt werden.
- Operative Zugewinne durch die Stationierung an Land ergeben sich aus der Fähigkeit, aus gedeckter Aufstellung mit geringer Aufklärungswahrscheinlichkeit durch den Gegner und fast ohne Warnzeit, also überraschend, Ziele in der Tiefe Russlands anzugreifen. Auch solche, die bisher nur durch strategische Waffen wie Interkontinentalraketen und SLBM erreichbar waren und durch Frühwarnsysteme erkannt werden konnten.
- Dies hat strategische Qualität und greift somit in die bilaterale nuklearstrategische Balance zwischen den USA und RUS ein. Dass in Deutschland keine Raketen mit Atomsprengköpfen stationiert werden sollen, ändert daran nichts: Denn anders als noch beim Doppelbeschluss der NATO von 1979 werden heute die wahrscheinlichen Zielabweichungen der Raketen vom geplanten Treffpunkt nicht mehr in Hunderten von Metern oder gar Kilometern gemessen, sondern in wenigen Metern. Reichweite, Präzision, Geschwindigkeit und Durchschlagskraft verschaffen auch solchen konventionellen Waffen strategische Wirkungen.
- Richtig ist, dass auch RUS über eine breite Palette von land-, luft- und seegestützten Raketen im Kurz- und Mittelstreckenbereich verfügt. Allerdings wird ihr Umfang im Ukrainekrieg ständig abgebaut. Richtig ist aber auch, dass wegen der geopolitischen Asymmetrie solche Waffen nicht gegen die USA wirken, solange RUS nicht versucht, sie etwa in Kuba oder Venezuela zu stationieren. Auf einen solchen Versuch haben die USA 1962 mit entschlossener Härte reagiert, bis zum Risiko eines Atomkriegs. Heute sieht sich RUS in einer „Kuba-Situation“.
- Nach wie vor spielen solche Fragen bei den bilateralen strategischen Stabilitätsgesprächen eine entscheidende Rolle, auch wenn sie nur noch informell stattfinden. Das vereinbarte strategische Gleichgewicht wurde zuletzt im New START-Vertrag von 2010 festgelegt. Er läuft 2026 aus, wenn keine neue Einigung gefunden wird. Dazu müssen Störfaktoren ausgeräumt werden, die das Gleichgewicht in Frage stellen. Für die USA sind das vor allem das Nuklearpotential Chinas, aber auch neuartige RUS Waffen, die die Raketenabwehr umgehen sollen und noch nicht in den New START-Definitionen erfasst sind. Für RUS sind destabilisierende Faktoren die U.S. Raketenabwehr und regional vorgeschobene LR-Systeme, die strategische Ziele auf RUS Territorium erreichen können, und ebenfalls noch nicht vom New START-Vertrag erfasst sind.
- Wenn wir nun genau diese Systeme stationieren wollen, greifen wir nicht nur in die strategische Balance ein, sondern torpedieren auch die ohnehin schon geringen Aussichten, zu einer neuen Übereinkunft zu kommen. Dann droht uns ab 2026 eine Welt, in der dem nuklearen Wettrüsten keine rechtsverbindlichen Schranken mehr gesetzt sind. Das widerspricht unseren nationalen Interessen und den Zielen, die in der Nationalen Sicherheitsstrategie festgelegt wurden.
- Mich erstaunt, dass diese strategischen Zusammenhänge und die Folgen für die Rüstungskontrolle in der öffentlichen Debatte in Deutschland ignoriert oder in Abrede gestellt werden. Ganz im Gegenteil, die Fähigkeit, als Erster zu schießen, wird nun als Abschreckungsgewinn bezeichnet. Das passt in kein plausibles politisches Szenario. Es ist zu befürchten, dass Moskau diese Fähigkeit zum ersten Schuss nicht als Abschreckungspotential beurteilt, sondern als Fähigkeit zum Überraschungsangriff auch gegen vitale strategische Ziele. Die militärische Logik zwingt dann dazu, in der Krise ein solches Gefährdungspotential präemptiv auszuschalten.
- Damit geht Deutschland das Risiko ein, schon zu Beginn einer Krise angegriffen zu werden, sollte Moskau zum Schluss kommen, dass ein Krieg unvermeidlich ist. Das Szenario unterscheidet sich fundamental von der allgemeinen Bedrohungslage, der Deutschland als logistische Drehscheibe der NATO für die Verteidigung der Ostflanke ohnehin ausgesetzt wäre. Denn es würde nicht mehr nur um schrittweise defensive Truppenbewegungen gehen, sondern um die Fähigkeit zum Überraschungsangriff gegen strategische Ziele. Die konventionelle Unterlegenheit Russlands könnte zudem eine frühe nukleare Eskalation nahelegen. Anders als 1979 fehlt der Stationierungsabsicht jedoch ein Angebot, die Risiken durch Dialog abzuwenden.
- Angesichts ihrer Tragweite verwundert es, dass die Stationierungsabsicht weder national im Vorfeld diskutiert wurde, noch sich in der gleichzeitigen NATO-Gipfelerklärung wiederfindet. Die Risiken der Stationierung trägt Deutschland allein. Damit weichen wir von der bewährten Politik der Risiko- und Lastenteilung im Bündnis ab – und vom Harmel-Doppelansatz der NATO.
- Das ELSA-Projekt ändert an dieser Feststellung nichts. Dort haben sich einige europäische Staaten verpflichtet, die Reichweiten eigener luftgestützter Marschflugkörper auszudehnen und auch Bodenstartsysteme zu entwickeln. ELSA trägt eine französisch-deutsche Handschrift. Es greift nicht in das strategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland ein. Zudem verfolgt FRA eine völlig eigenständige Nuklearstrategie. Das Projekt ist erst in der Definitionsphase, wird noch viele Jahre brauchen. Kein anderer Staat wird US-Raketen stationieren.
Weitere Informationen von Wolfgang Richter u.a. auf der Website des Erhard-Eppler-Kreises:
Das FES Regionalbüro für Zusammenarbeit und Frieden in Europa hat eine Publikation von Wolfgang Richter veröffentlicht, die sich mit den Hintergründen der geplanten Stationierung amerikanischer landgestützter Raketen mittlerer Reichweite in Deutschland im Jahr 2026 befasst. Das Dokument behandelt die geplante Stationierung von US-amerikanischen Mittelstreckenraketen in Deutschland ab 2026, eine Entscheidung, die während des NATO-Gipfels in Washington im Juli 2024 bekannt gegeben wurde. Diese Maßnahme, die auf die sicherheitspolitische Lage in Europa, insbesondere auf die Bedrohung durch Russland, reagiert, hat das Potenzial, das strategische Gleichgewicht zwischen den USA und Russland zu verändern. Die Entscheidung könnte die Spannungen zwischen NATO und Russland weiter verschärfen und Auswirkungen auf die nukleare Rüstungskontrolle und die Sicherheit Deutschlands haben. Es werden verschiedene technische, militärische, bündnispolitische und innenpolitische Aspekte sowie mögliche Konsequenzen für die europäische Sicherheit beleuchtet.
Wolfgang Richter ist Oberst a. D., war Leitender Militärberater in den deutschen VN- und OSZE-Vertretungen und arbeitet jetzt als Associate Fellow beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP). Er beschäftigt sich u. a. mit der Europäischen Sicherheitsordnung und der stabilisierenden Rolle der Rüstungskontrolle.