Wir dokumentieren Peter Brandts Rede zum Abschluss des Ostermarsches auf dem Römerberg in Frankfurt – weil sie nicht nur ein persönliches, sondern vor allem ein historisches Dokument ist:
Auf nur wenigen Seiten analysiert er die Entwicklung der Welt seit 1962, als sie während der der Kuba-Krise am Rande des Atomkriegs stand, über die Überwindung der Atomkriegsgefahren in den Jahren danach durch Vertrauensbildung, Rüstungskontrolle und Entspannungspolitik bis hin zur Politik der «Gemeinsamen Sicherheit», die seit 1990 immer mehr „vergessen“ wurde, die aber heute, 2022, wieder dringlicher denn je ist, um aus dem Teufelskreis von Russlands Krieg gegen die Ukraine, Wettrüsten und realer Atomkriegsgefahr herauszukommen. Wolfgang Biermann
Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde!
Das letzte Mal, da ich – noch ein Jugendlicher – bei der Abschlusskundgebung des Frankfurter Ostermarschs nicht weit von hier stand, damals natürlich als einfacher Teilnehmer, war 1966, vor 56 Jahren. Damals ging es neben dem aufkeimenden Protest gegen den Vietnamkrieg der USA um die stets latent vorhandene Atomkriegsgefahr zwischen den von den Supermächten geführten Militärblöcken, von denen die eine Seite behauptete, für die Freiheit zuständig zu sein, während die andere den sozialen Fortschritt für sich beanspruchte. Es war ein wichtiger Schritt der damaligen Friedensbewegung wie auch der viel breiteren Friedensbewegung der 80er Jahre, mit der Blocklogik, stets mit Aufrüstungslogik verbunden, zu brechen, sich prinzipiell davon frei zu machen. Das ist der Sinn des Begriffs „Äquidistanz“: die geistige, politische und organisatorische Eigenständigkeit, nicht die Selbstverpflichtung, in jeder konkreten Auseinandersetzung eine mittlere oder unparteiische Position einzunehmen.
Auch damals, 1966, war es ganz unwahrscheinlich, dass eine der Seiten es wagen würde, einen atomaren Großangriff auf den Gegner zu starten. Denn längst war die doppelseitige atomare Hochrüstung so weit gediehen, dass die Regel galt: Wer zuerst zündet, stirbt als Zweiter. Das hinderte Militärs nicht daran, stets darüber nachzudenken, sogar einen Atomkrieg gewinnbar zu machen. Die Gefahr lag nicht so sehr in dem Wahnsinnsakt eines unprovozierten Überfalls wie in der Eskalation eines lokalen Konflikts oder in einer wechselseitigen Fehlwahrnehmung.
Ich bin alt genug, um die Kuba-Krise von Oktober 1962 sehr bewusst erlebt zu haben. Damals stand die Welt tatsächlich für mehrere Tage am Rande eines Atomkriegs. Die Verantwortlichen behielten die Nerven, die Sowjets zogen ihre Mittelstreckenraketen aus Kuba ab, während die Amerikaner – damals aus US-innenpolitischen Gründen verheimlicht – folgten mit dem Abtransport ihrer Mittelstreckenraketen, die in der Türkei und in Italien stationiert waren. Erste Schritte in einem durchaus fragilen und widersprüchlichen, erst in den 70er Jahren vertieften Prozess der Vertrauensbildung und der Rüstungskontrolle wurden gegangen. Es ist allgemein bekannt, dass die sog. Neue Ostpolitik der bundesdeutschen sozial-liberalen Regierung seit Herbst 1969 in diesem Entspannungsprozess eine wesentliche Rolle spielte. Das einzige wirkliche Abrüstungsabkommen, die Abschaffung aller atomaren Kurz- und Mittelstreckenwaffen weltweit und damit einer ganzen Waffengattung, wurde erst Ende 1987 auf Initiative Michail Gorbatschows geschlossen. Inzwischen ist der betreffende Vertrag von den USA gekündigt worden; andere Verträge sind ausgelaufen und nicht verlängert worden.
Wir befinden uns längst wieder in einem Stadium des Wettrüstens auf allen Ebenen, namentlich in den Kategorien atomarer Waffen mit immer kürzeren Vorwarnzeiten. Die Gefahr eines Atomkriegs ist längst wieder real. Ein solcher würde die menschliche Zivilisation und möglicherweise das menschliche Leben überhaupt vernichten. Neben dieser Möglichkeit der Selbstvernichtung auf einen Schlag sind wir konfrontiert mit der keineswegs gestoppten, kaum gebremsten Zerstörung unserer natürlichen Umwelt mit den inzwischen nicht nur Experten bekannten Folgen.
In dieser welthistorischen Situation startet der in den vergangenen Jahren immer unverhohlener diktatorisch regierende Präsident Russlands einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Auch wenn die Vorgeschichte und der weltpolitische Zusammenhang komplizierter sind als die Einbahnstraßen-Version unserer selbst gleichgeschalteten Medien, darf es hier für uns keine Unklarheit geben. Für die sog. Spezialoperation Russlands gibt es keine akzeptable Rechtfertigung; und die Ukrainer haben ihrerseits ein Recht auf Selbstverteidigung. Wir fordern den Rückzug der russischen Truppen und die Untersuchung von Kriegsverbrechen durch eine unabhängige internationale Kommission!
Der gegenwärtige Krieg hat zugleich das Potential, zu einem direkten Zusammenstoß der NATO mit Russland, der zweitgrößten Atommacht der Welt, zu führen, dessen Dimension unabsehbar und kaum kontrollierbar wäre. Die immer unverhohlener verkündete Parole eines vollständigen militärischen Sieges der Ukraine ist aber ebenso unrealistisch, zerstörerisch und gefährlich wie das offenkundige Ziel Putins, die Ukraine gegen den Willen des größtem Teils der Bewohner (denn die prorussische Orientierung hat im letzten Jahrzehnt deutlich an Boden verloren) kontrollieren zu können. Die internationale Staatenwelt und nicht zuletzt Deutschland muss deshalb zu allererst auf einen sofortigen Waffenstillstand und ernsthafte Friedensverhandlungen dringen.
Es ist nicht wahr, dass parlamentarisch bzw. repräsentativ-demokratische Staaten automatisch friedlicher agieren als autoritär geführte. Die gesamte Geschichte der USA bietet reichlich Widerlegung, ebenso die anderer kapitalistischer Länder. Die Ideologisierung des amerikanischen Interessenkonflikts mit der Supermacht Russland und der neuen Supermacht China hat vor allem die Funktion, den sog. Westen wieder als festen Block zu formieren, nach innen wie nach außen. Putin scheint sich große Mühe zu geben, dabei behilflich zu sein…
Wir waren schon weiter, vor allem konzeptionell. Vor ziemlich genau 40 Jahren, am 21. April 1982, inmitten einer Phase erneuter Zuspitzung des Ost-West-Gegensatzes mit massiver Aufrüstung, legte die Unabhängige Kommission der Vereinten Nationen „Common Security“, die vom damaligen schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme geleitet wurde, ihren Bericht „Unsere Gemeinsame Sicherheit“ vor, kurz Palme-Bericht genannt. Er war ein Meilenstein in der Sicherheits- und Friedenspolitik, die vor allem in Europa Spuren hinterlassen hat.
Der Bericht zeigte ein neues Denken auf, das mit dazu beitrug, dass um 1990 die deutsche und europäische Teilung überwunden werden konnte. Inhaltlich damit verbunden waren die Berichte zweier weiterer UN-Kommissionen. Der Nord-Süd-Bericht „Das Überleben sichern“ unter Vorsitz von Willy Brandt, in dem die Notwendigkeit einer sozial gerechten Weltwirtschaftsordnung und der gleichberechtigten Einbeziehung der Länder des globalen Südens beschrieben wird, erschien 1980. 1987 schließlich stellte die norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland den Bericht „Unsere Gemeinsame Zukunft“ zu Umwelt und Entwicklung vor. Seine Leitidee war die Forderung einer nachhaltigen Entwicklung, die 1992 auf dem Erdgipfel in Rio des Janeiro zur Agenda in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft ausgerufen wurde. Gemeinsam ist den drei Berichten die Forderung nach Partnerschaft und Zusammenarbeit in einer Welt, die immer enger zusammenwächst und essentiell auf eine „Weltinnenpolitik“ angewiesen ist. Sicherheit ist von daher nicht nur eine Frage der Abrüstung und Rüstungsbegrenzung, sondern auch der sozialen und ökologischen Gestaltung der Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft, während die reale Entwicklung heutzutage vor allem von den globalen Märkten vorangetrieben wird.
Statt nach 1990 die Idee der gemeinsame Sicherheit mit neuem Leben zu erfüllen und sie um die sozialen und ökologischen Herausforderungen zu erweitern, wurde die NATO-Osterweiterung gegen alle Warnungen, die Russlands Sicherheitsinteressen missachtet sahen, auch von völlig unverdächtiger amerikanischer Seite, auf den Weg gebracht. Angesichts des schrecklichen Krieges in der Ukraine macht sich in Politik und Öffentlichkeit eine Stimmung für Aufrüstung breit, als sei die Lieferung immer schwererer Waffen nach Kiew das Gebot der Stunde und die Lösung. Nein, das Gebot der Stunde ist, die Spirale der Gewalt zu stoppen, einen Waffenstillstand durchzusetzen und mit allen direkt und indirekt Beteiligten über eine europäische Friedensordnung im Sinne der gemeinsamen Sicherheit zu verhandeln, anknüpfend an den Helsinki-Prozess seit den 1970er Jahren. Das Atomzeitalter hat auch das Wesen des Krieges selbst verändert: in ihm, so die entscheidende Schlussfolgerung der Palme-Kommission aus 17 hochrangigen Experten und einst führenden Politikern, kann Sicherheit nicht mehr gegeneinander, sondern nur noch miteinander erreicht werden.
Erneut stehen wir an einem Wendepunkt, nicht allein wegen des Ukraine-Krieges. Weltweit beschleunigt sich die Aufrüstung, spitzt sich die Klimakrise zu, werden die ungelösten Verteilungskonflikte zu Brandbeschleunigern für Armut und Ungleichheit – national und international. Die vorherrschende Antwort in der internationalen Politik heißt Abschottung und Militarisierung statt gemeinsamer Sicherheit, die unsere Welt dringend braucht.
Der Palme Report 2, der in einigen Tagen in Stockholm vorgestellt wird, ist ein Plädoyer für die gemeinsame Sicherheit und versucht dafür auch eine globale Perspektive zu entwickeln. Er bezieht die neuen Bedrohungen, so die Klimakrise und die Herausforderungen aus den sozialen Polarisierungen, ein. Es gibteine Alternative zu Abschreckung durch Aufrüstung, aber eben nur dann, wenn das Konzept der gemeinsamen Sicherheit weltweit aufgegriffen und umgesetzt wird.