Zur Debatte über die Zukunft Europas hat Peter Brandt, Mitbegründer der „Initiative Neue Entspannungspolitik jetzt“, einen Diskussionsbeitrag verfasst, der auch in der Berliner Zeitung veröffentlicht wurde:
“Die EU muss ihre eigene Kraft entwickeln, auch als Juniorpartner der USA hat die Europäische Union keine Zukunft.”
Es ist offenkundig, dass die europäischen Länder, die sich von Portugal bis Estland und Polen, von Schweden bis Malta und Griechenland in der EU zusammengeschlossen haben, sich nur im Verbund miteinander in der Welt des 21. Jahrhunderts behaupten können. Die nächsten Jahrzehnte sind global durch die Koexistenz von Staaten und Staatengruppen mit sehr unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Ordnungen geprägt. Die kommende Supermacht neben den USA wird China sein, doch auch Russland wird wegen seines Atomwaffenarsenals, als Energielieferant und aufgrund schlichter Größe weiterhin eine bedeutende Rolle spielen, in anderer Weise Japan und perspektivisch zumindest Indien und Brasilien. Ferner ist eine ganze Reihe früherer Entwicklungsländer, vor allem in Ostasien, zu Schwellenländern und teilweise modernen Industriestaaten avanciert.
Aus den kaum noch bestrittenen existenziellen Krisen der Menschheit ergibt sich gebieterisch die Notwendigkeit, bei den globalen Problemen von Friedenssicherung bis Bekämpfung der Armut und ebenso gravierend auf dem breiten Feld der Ökologie, trotz aller Interessen- und Auffassungsunterschiede und obwohl die Beteiligten zugleich in Konkurrenz zueinander stehen, international eng zusammenzuarbeiten. Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten sind auf beides nur unzureichend vorbereitet. Weder gibt es ein klares gemeinsames Verständnis für diese Situation, noch existieren die Institutionen, um europäisch gemeinsame Ziele zusammen auch wirksam durchzusetzen.Ein weit entwickeltes übernationales Regelungsvermögen
Dabei hat die Europäische Union wichtige Voraussetzungen, um beispielhaft zu wirken. Sie verkörpert die Tradition der engen Verbindung von Menschenrechten, Demokratie und Sozialstaat. Die EU hat zum Frieden zwischen den Mitgliedsstaaten entscheidend beigetragen und relativ früh die ökologische Frage auf die Tagesordnung gesetzt. Und doch sind die Errungenschaften gefährdet oder erweisen sich als wirkungsschwach.
Was oft als Schwäche der EU erscheint, der Zwang, immer Kompromisse aushandeln zu müssen, ist im Kern – Verbesserungen sind nötig und möglich – die Kehrseite der Zukunftstauglichkeit des europäischen Modells: der mühsam erworbenen Fähigkeit zur friedlichen Lösung von Konflikten, zum Ausgleich unterschiedlicher Interessen. Nirgendwo auf der Welt findet sich ein dermaßen weit entwickeltes übernationales Regelungsvermögen, gegründet auf gemeinsam fixiertem Recht, das seinerseits auf der spezifischen Geschichte Europas, namentlich seiner Rechtskultur, beruht.
Weder ist die Auflösung der Nationalstaaten der EU in bloße Regionen (als ob diese „natürlicher“ wären als die tradierten Nationen) noch die Überführung dieser Staaten in einen klassischen Bundesstaat realistisch, sofern überhaupt wünschenswert. Die Verbindung von starken Nationalstaaten und einer starken EU kann zum Vorteil werden. In Europa entsteht ein historisch neuartiger Verbund, der mit den alten Kategorien Bundesstaat versus Staatenbund nicht zu erfassen ist.
Der Brexit muss kein Nachteil für die Zukunft des Vereinten Europa sein
Bei aller Kritik an den Schwächen und Webfehlern der EU sollte Folgendes nicht übersehen werden: Seit rund 70 Jahren haben wir es mit einem ganz neuartigen Ansatz zu tun, bei dem unabhängige Staaten in relativer Gleichberechtigung darangehen, eine übergeordnete institutionelle Ordnung zu schaffen, der sie Teile ihrer wesentlichen Kompetenzbereiche überlassen beziehungsweise bewusst abtreten. Obwohl hauptsächlich ein Projekt von Eliten, haben die Völker Europas die Einigung in der Grundtendenz mitgetragen. Gewiss geschahen die ersten Schritte dieses Prozesses unter dem Eindruck des gerade überstandenen Zweiten Weltkrieges und beeinflusst vom Kalten Krieg, doch zwingend war der Weg von der Montanunion über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft zur EU heutigen Zuschnitts nicht.
Schon die Römischen Verträge von 1957, die in der Nachfolge der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl von 1951 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, territorial das kontinentale Kerneuropa der sechs, begründeten, hatten eine wirtschaftsliberale Schlagseite, aber es gab bis in die 1980er-Jahre doch immer wieder Bestrebungen der EU-Kommission, den „Rheinischen Kapitalismus“ der Nachkriegsjahrzehnte zu einem eigenständigen Modell der gelenkten und gezähmten Marktwirtschaft auf (west-)europäischer Ebene auszugestalten.
Die heftigsten Gegner einer solchen Weiterentwicklung saßen in Großbritannien und dort vorwiegend, aber nicht nur in den von 1979 bis 1996 durchgehend konservativen Regierungen. Weil wichtige Teile der britischen Eliten weiterhin vorrangig auf das Commonwealth, das frühere Empire, und auf eine special relationship zu den USA orientiert sind und das Vereinigte Königreich deshalb stets mit einem Bein außerhalb der europäischen Gemeinschaft blieb und zu bleiben beanspruchte, müsste der Brexit kein Nachteil für die Zukunft des Vereinten Europa sein.
Fehlsteuerungen in den 90er-Jahren
Die hauptsächlichen Fehlsteuerungen, die zur heutigen Situation führten, geschahen 1990 und in den Jahren danach. Die rasche Erweiterung der EU nach Osten und Südosten auf heute 27 Staaten mit einem sehr ungleichen Entwicklungsniveau und teilweise prekärer geopolitischer Lage ging nicht mit den dafür notwendigen Reformen einher.
Erstens darf nicht übersehen werden, dass die EU ursprünglich auch Teil der Blockbildungsstrategie im Kalten Krieg und des engen Bündnisses mit der westlichen Hegemonialmacht USA gewesen war. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hätten die sicherheitspolitischen Interessen der europäischen Staaten grundlegend überdacht werden müssen. Die Unterordnung unter die USA war obsolet geworden. Die sicherheitspolitischen Interessen der EU und der USA haben sich auseinanderentwickelt, ohne völlig auseinanderzufallen. Die Formel von der „westlichen Wertegemeinschaft“ verweist auf gemeinsame geistige und Verfassungs-Traditionen, verschleiert jedoch zugleich die Differenzen, bestehend nicht nur auf der Ebene unterschiedlicher wirtschaftlicher und geopolitischer Interessen, sondern auch im Hinblick auf ein abweichendes Menschenrechts- und Demokratieverständnis.
Zukunft der Demokratie: Haben die liberalen Demokratien westlichen Zuschnitts noch eine Zukunft?
Die EU ist den Kriegen der USA in der näheren Nachbarschaft Europas (Irak, Afghanistan) und der Konfrontation mit dem Iran weitgehend gefolgt und hat keine eigene Sicherheitspolitik an der Südküste des Mittelmeeres umgesetzt. Sie hat nicht gemäß eigenen Interesses ihre geografischen Grenzen definiert und keine Antwort auf den Aufstieg der Türkei als regionale Militärmacht gefunden sowie überhaupt kein Sicherheitskonzept mit Russland, der Ukraine und anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, soweit sie nicht Teil von EU und Nato geworden sind oder werden möchten, entwickelt.
Die Kraft, ganz neue Wege zu gehen, altes Denken zu überwinden und die damit verbundenen gesellschaftlichen Kräfte, in erster Linie die des großen, global operierenden Kapitals, zurückzudrängen, wird Europa nicht als Juniorpartner in einer „Atlantischen Partnerschaft“ mit den USA aufbringen. Es ist unübersehbar, dass die USA mehr als jeder andere Staat den gegenwärtigen Zustand bewirken und von seiner Fortdauer profitieren.
Die Schutzkraft der EU ist viel zu schwach
Zweitens: Die Art der Ausweitung der Europäischen Union nach 1990 und die Einführung des Euro ohne gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik haben dazu beigetragen, dass die Integration vor allem durch Stärkung des wirtschaftlichen Wettbewerbs, durch Öffnung der Märkte und Privatisierung, durch Standortkonkurrenz erfolgte. Es war negative Integration durch Beseitigung von Barrieren für Unternehmen und Kapital, auch für Arbeitskräfte.
Die Mehrheit der Europäer vermisst seit geraumer Zeit nun aber offenbar, dass die EU dort die Schutzfunktion gegenüber den globalen Akteuren der internationalen Kapitalgruppen und den Märkten übernimmt, wo die Nationalstaaten dazu nicht mehr imstande sind. Die positive Integration durch eine starke Regionalpolitik, durch Ausbau übergreifender sozialstaatlicher und ökologischer Instrumente blieb aus.
Auch heute umfasst der Haushalt der EU nur gut ein Prozent des Bruttosozialprodukts. In der Finanzkrise von 2009 und jetzt in der Pandemie zeigen sich die Grenzen. Die Schutzkraft der EU ist viel zu schwach. Auch die Umsetzung der Klimaziele ist so unrealistisch. Die Folge ist, dass die Zentrifugalkräfte wachsen, wie nicht nur der Austritt Großbritannien zeigte. Der Umgang mit Griechenland war eine Schande. Der vielfach durch Abschreckung geprägte Umgang mit Flüchtlingen aus den Krisenregionen und Bürgerkriegsländern ist uneinheitlich und konzeptionslos. Die Europäische Union muss sich nicht neu erfinden und wird sich wohl auch nicht neu gründen lassen. Aber sie muss Wege finden, sich positiv weiterzuentwickeln. Der erste Schritt dafür wäre, dass die EU ihre Mündigkeit nicht nur erklärt, sondern auch realisiert. Als Juniorpartner der USA hat sie keine Zukunft.
Dies bedeutet auch, dass sie sich jeder Blockbildung gegen Russland und China verweigern muss. In einer Reihe von Bereichen hat die EU mehr gemeinsame Interessen mit den USA als mit anderen Staaten. Aber es gibt auch Bereiche, wo die Interessen mit China, Russland und mittelasiatischen Ländern größer sind. Dies gilt vor allem in den Bereichen von Sicherheit auf dem eurasischen Kontinent und Entwicklung eines gemeinsamen Wirtschaftsraums. Dabei ist der Blick auch darauf zu richten, dass Nordafrika und der Nahe Osten das „nahe Ausland“ der EU bilden.
Ferner muss die EU die positive Integration im Rahmen der EU und mit dem „nahen Ausland“ im Süden und Osten vorantreiben. Dazu gehören unter anderem eigene Infrastrukturprojekte wie die Kooperation mit Projekten der Neuen Seidenstraße Chinas und anderer Akteure. Die EU oder zumindest jene Mitgliedsstaaten, die dafür im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit gewonnen werden können, sollten die Entwicklung eigener Finanzierungsquellen für integrative Projekte schaffen. Der Volksmund weiß es: Ohne Moos nichts los, sprich: Ohne eigene Finanzquellen ist die EU nicht fähig, sich als eigener Akteur in Stellung zu bringen und positiv zu behaupten.
Die Vorteile paneuropäischen Zusammenwirkens
Es geht angesichts der existenziellen globalen Gefahren für die Menschheit nicht darum, Europa als eine Insel der Seligen zu imaginieren, die sich vom Unheil im Rest der Welt abkoppelt. Europa könnte und müsste aber – etwas pathetisch formuliert, wäre das seine welthistorische Mission – ein Beispiel setzen für einen konstruktiven Umgang mit Konflikten, für gemeinsame Sicherheit und eine immer engere Kooperation sowie unterschiedliche Formen und Dichtegrade von Integration.
Es gibt dafür neben der EU Institutionen wie die OSZE, den Europarat sowie die Eurasische Wirtschaftsunion. Würde ihr Zusammenwirken ausgebaut, dann würde dies auch partizipatorische und sozialemanzipatorische Tendenzen im Innern der Staaten, auch im östlichen Europa einschließlich Russlands, ermutigen und stärken. Sie würden nicht mehr so leicht einem äußeren Gegner zugerechnet werden können. Ganz offenkundig wären die ökonomischen Vorteile eines solchen institutionalisierten paneuropäischen Zusammenwirkens „von Lissabon bis Wladiwostok“, handelt es sich bei der EU und Russland doch um geradezu komplementäre Wirtschaftszonen.
Zum eurasischen Großkontinent gehören aber auch China und Japan sowie andere Staaten Ost-, Süd- und Südostasiens. Wo ist die Straße der Kooperation, die von West nach Ost führt, wenn China gerade eine Seidenstraße in umgekehrter Richtung entwickelt? Zweifellos ist Letztere auf chinesische Vorteile ausgerichtet, aber das heißt nicht automatisch, dass andere davon nicht profitieren oder profitieren könnten.
Die EU sollte anstelle drohender Blockbildung und eines neuen Kalten Krieges – dieses Mal mit China – erkennen, dass ihre eigene Doppelstruktur als Zusammenschluss von Nationalstaaten und als supranationale Union mit einer globalen Perspektive des kooperativen Multilateralismus harmoniert. In einem solchen Konzert unterschiedlicher Weltregionen kann die EU ihre eigenen Potenziale am ehesten entfalten. Sie muss sich nur ihre spezifischen Werte, Interessen und Eigenarten vor Augen führen und den Willen entwickeln, diese nach innen politisch progressiv weiterzugestalten wie nach außen selbstbewusst zur Geltung zu bringen.
Peter Brandt, Univ.-Prof. Dr. phil. habil., Historiker und Publizist, hat neben seinem Lehrgebiet Neuere deutsche und europäische Geschichte (bis 2014) bis 2017 das interdisziplinäre Dimitris-Tsatsos-Institut für Europäische Verfassungswissenschaften der FernUniversität in Hagen geleitet. Er gehört zusammen mit anderen in den vergangenen Wochen an dieser Stelle hervorgetretenen Intellektuellen zur Gruppe Neubeginn.
Weitere Info: Peter Brandt: Das Verhältnis zu Russland, Schicksalsfrage Europas