Aus dem SPIEGEL-Gespräch von Melanie Amann und Martin Knobbe in DER SPIEGEL 17/2022:
SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, sind Sie ein Pazifist?
Scholz: Nein.
SPIEGEL: Warum nicht?
Scholz: In der Welt, in der wir leben, ist es notwendig, die eigene Sicherheit auch mit einer ausreichenden Verteidigungsfähigkeit zu gewährleisten. Als Abgeordneter und als Regierungsmitglied habe ich viele Male Einsätzen der Bundeswehr im Ausland zugestimmt. Das hätte ich als Pazifist nicht machen können. (…)
SPIEGEL: Wenn der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk deutsche Marder-Panzer fordert, hat er also nicht begriffen, dass seine Armee sie nicht bedienen kann?
Scholz: Noch mal: Wir helfen der ukrainischen Regierung jetzt dabei, Rüstungsgüter zu beschaffen, die dem vereinbarten Rahmen unserer Bündnispartner entsprechen. Und das so schnell wie möglich, um die massive Offensive Russlands im Osten aufzuhalten. Wenn ich mich in der Welt umschaue, sehe ich, dass alle Partner sich wie wir im Rahmen unserer Vereinbarungen bewegen. (…)
SPIEGEL: In Ihren Argumenten gegen die Lieferung schwerer Waffen schlagen Sie ständig Haken: Mal sind die Ukrainer nicht gut genug ausgebildet, mal sind die Waffen nicht startklar, mal können wir selbst nichts mehr abgeben. Merken Sie nicht, wie verwirrend diese wechselnden Botschaften sind?
Scholz: Für Deutschland war es ein tiefgreifender Kurswechsel, als ich angekündigt habe, Waffen in dieses Kriegsgebiet zu liefern. Das möchte ich festhalten. Viele, die diesen Schritt früher kategorisch abgelehnt haben, überbieten sich jetzt mit Forderungen, noch viel mehr zu liefern – ohne die genaue Sachlage zu kennen. Das nehme ich zur Kenntnis. Aber in dieser Lage braucht es einen kühlen Kopf und gut abgewogene Entscheidungen, denn unser Land trägt Verantwortung für Frieden und Sicherheit in ganz Europa. Ich halte es nicht für gerechtfertigt, dass Deutschland und die Nato Kriegsparteien in der Ukraine werden.
SPIEGEL: Das fordert Kiew gar nicht, man bittet verzweifelt um Waffen. Wovor haben Sie Angst?
Scholz: Noch mal: Wir liefern Waffen, und viele unserer Verbündeten tun es auch. Es geht doch nicht um Angst, sondern um politische Verantwortung. Eine Flugverbotszone einzuführen, wie gefordert wurde, hätte die Nato zur Kriegspartei gemacht. Ich habe einen Amtseid geschworen. Ich habe sehr früh gesagt, dass wir alles tun müssen, um eine direkte militärische Konfrontation zwischen der Nato und einer hochgerüsteten Supermacht wie Russland, einer Nuklearmacht, zu vermeiden. Ich tue alles, um eine Eskalation zu verhindern, die zu einem dritten Weltkrieg führt. Es darf keinen Atomkrieg geben.
SPIEGEL: Was lässt Sie denken, dass Panzerlieferungen aus Deutschland diese furchtbaren Konsequenzen hätten?
Scholz: Es gibt kein Lehrbuch für diese Situation, in dem man nachlesen könnte, ab welchem Punkt wir als Kriegspartei wahrgenommen werden. Das Buch wird täglich neu geschrieben, manche Lektionen liegen noch vor uns. Umso wichtiger ist es, dass wir jeden unserer Schritte genau überlegen und eng miteinander abstimmen. Eine Eskalation in Richtung Nato zu vermeiden, hat für mich höchste Priorität. Deshalb schiele ich nicht auf Umfragewerte oder lasse mich von schrillen Rufen irritieren. Die Konsequenzen eines Fehlers wären dramatisch. (…)
SPIEGEL: Muss die SPD ihre Russlandpolitik der letzten Jahre aufarbeiten?
Scholz: Seit Adenauers Zeiten gibt es diese verfälschenden und verleumderischen Darstellungen der Europa- und Russlandpolitik der SPD, das ärgert mich. Was die SPD auszeichnet, ist die klare Entspannungspolitik durch Brandt und Schmidt. Eine Politik, die möglich gemacht hat, dass der Eiserne Vorhang verschwindet, dass viele Länder Osteuropas die Demokratie gewinnen konnten und dass wir heute in der Europäischen Union vereint sind. Es war immer eine Politik, die auf eine starke Bundeswehr und die Eingebundenheit in den Westen gesetzt hat. Das ist die Tradition, für die ich stehe. (…)
Quelle: DER SPIEGEL 17/2022 – Bundeskanzler Scholz im SPIEGEL »Es darf keinen Atomkrieg geben« – SPIEGEL-Gespräch von Melanie Amann und Martin Knobbe – 22.04.2022, 16.59 Uhr