Auf Initiative von Alice Schwarzer haben 28 Intellektuelle und KünstlerInnen am 29.04.2022 einen Offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz formuliert. Sie begrüßen seine Besonnenheit und warnen vor einem 3. Weltkrieg. Deshalb bitten sie ihn, nicht “weitere schwere Waffen an die Ukraine” zu liefern und “alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können.”.
Gegen die Initiative gab es viel Kritik, z.B. einen Aufruf “für eine kontinuierliche Lieferung von Waffen an die Ukraine“. Oder die Kritik der ukrainische Künstlerin Yevgenia Belorusets an der “politischen Logik des Briefes”: Sie verstehe nicht „diesen Wunsch nach mehr Zeit, um darüber zu entscheiden, ob man die Ukraine mit schweren Waffen unterstützen will. … Dieser Krieg wird nicht von selbst aufhören. .. Waffen setzen den Krieg nicht fort, sondern beenden ihn, indem sie seine Bewegung stoppen. Das zwingt den Aggressor zum Aufhören. Genau in solchen Momenten beginnen die Verhandlungen, wo man über die Rettung der Menschen und einen zukünftigen Frieden sprechen kann.”
Im Kern geht es um die Frage, ob mehr schwere Waffen oder stattdessen mehr Verhandlungsinitiativen “so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand und einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können“, beitragen.
Trotz aller Kritik erhielt der Offene Brief von Alice Schwarzer weiterhin zahlreiche Unterstützer: Am 06. Mai 2022 berichtete sie im SPIEGEL-Streitgespräch zur Ukrainepolitik, über 200.000 Bürgerinnen und Bürger hätten den Offenen Brief bisher unterzeichnet. Wenige Tage später, am 08. Mai, hatten über 250.000 unterzeichnet. Weitere Unterzeichnung ist bei “Change.org” möglich.
Der vollständige Brief hier hier im Wortlaut:
29. April 2022
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
wir begrüßen, dass Sie bisher so genau die Risiken bedacht hatten: das Risiko der Ausbreitung des Krieges innerhalb der Ukraine; das Risiko einer Ausweitung auf ganz Europa; ja, das Risiko eines 3. Weltkrieges. Wir hoffen darum, dass Sie sich auf Ihre ursprüngliche Position besinnen und nicht, weder direkt noch indirekt, weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern. Wir bitten Sie im Gegenteil dringlich, alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können.
Wir teilen das Urteil über die russische Aggression als Bruch der Grundnorm des Völkerrechts. Wir teilen auch die Überzeugung, dass es eine prinzipielle politisch-moralische Pflicht gibt, vor aggressiver Gewalt nicht ohne Gegenwehr zurückzuweichen. Doch alles, was sich daraus ableiten lässt, hat Grenzen in anderen Geboten der politischen Ethik.
Zwei solche Grenzlinien sind nach unserer Überzeugung jetzt erreicht: Erstens das kategorische Verbot, ein manifestes Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt in Kauf zu nehmen. Die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen allerdings könnte Deutschland selbst zur Kriegspartei machen. Und ein russischer Gegenschlag könnte so dann den Beistandsfall nach dem NATO-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen. Die zweite Grenzlinie ist das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung. Selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor steht dazu irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis.
Wir warnen vor einem zweifachen Irrtum: Zum einen, dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern. Und zum andern, dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren „Kosten“ an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle. Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur.
Die unter Druck stattfindende eskalierende Aufrüstung könnte der Beginn einer weltweiten Rüstungsspirale mit katastrophalen Konsequenzen sein, nicht zuletzt auch für die globale Gesundheit und den Klimawandel. Es gilt, bei allen Unterschieden, einen weltweiten Frieden anzustreben. Der europäische Ansatz der gemeinsamen Vielfalt ist hierfür ein Vorbild.
Wir sind, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, überzeugt, dass gerade der Regierungschef von Deutschland entscheidend zu einer Lösung beitragen kann, die auch vor dem Urteil der Geschichte Bestand hat. Nicht nur mit Blick auf unsere heutige (Wirtschafts)Macht, sondern auch in Anbetracht unserer historischen Verantwortung – und in der Hoffnung auf eine gemeinsame friedliche Zukunft.
Wir hoffen und zählen auf Sie!
HochachtungsvollDIE ERSTUNTERZEICHNERiNNEN
Andreas Dresen, Filmemacher
Lars Eidinger, Schauspieler
Dr. Svenja Flaßpöhler, Philosophin
Prof. Dr. Elisa Hoven, Strafrechtlerin
Alexander Kluge, Intellektueller
Heinz Mack, Bildhauer
Gisela Marx, Filmproduzentin
Prof. Dr. Reinhard Merkel, Strafrechtler und Rechtsphilosoph
Prof. Dr. Wolfgang Merkel, Politikwissenschaftler
Reinhard Mey, Musiker
Dieter Nuhr, Kabarettist
Gerhard Polt, Kabarettist
Helke Sander, Filmemacherin
HA Schult, Künstler
Alice Schwarzer, Journalistin
Robert Seethaler, Schriftsteller
Edgar Selge, Schauspieler
Antje Vollmer, Theologin und grüne Politikerin
Franziska Walser, Schauspielerin
Martin Walser, Schriftsteller
Prof. Dr. Peter Weibel, Kunst- und Medientheoretiker
Christoph, Karl und Michael Well, Musiker
Prof. Dr. Harald Welzer, Sozialpsychologe
Ranga Yogeshwar, Wissenschaftsjournalist
Juli Zeh, Schriftstellerin
Prof. Dr. Siegfried Zielinski, MedientheoretikerQuelle: 2022-04-29. — (Emma.de) – Offener Brief an Olaf Scholz Text des Offenen Briefs auf Englisch und Französisch.
WEITERE UNTERZEICHNERiNNEN
Renate Schmidt, SPD-Bundesministerin.a.D.
Hasso von Henninges, Künstler
Katharina Fritsch, Künstlerin
Franziska Becker, Cartoonistin
Bettina Flitner, Fotografin und Autorin
Prof. Klaus Staeck, Grafiker, Heidelberg
Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin, Philosoph
Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma
Anna Maria Mühe, Schauspielerin
Nina Gummich, Schauspielerin
Prof. Anne-Kathrin Gummich, Schauspielprofessorin
Moritz Netenjakob, Kabarettist
Hülya Dogan-Netenjakob, Regisseurin
Prof. Yuji Takeoka, Künstler
Annegret Soltau, Bildende Künstlerin
Dilek Zaptcioglu, Historikerin und Schriftstellerin
Prof. Dr. Günter H. Seidler, Psychotraumatologe
Hannelore Hippe, Schriftstellerin und Autorin
Prof. Peter Bialobrzeski, Fotograf
Prof. Dr. Thomas Martin Buck, Mediävist
Milan Sladek, Pantomime
Emine Sevgi Özdamar, Schriftstellerin
Angelika Mallmann, EMMA-Redakteurin
Margitta Hösel, EMMA-Redakteurin
Anett Keller, EMMA-Verlagsleiterin
Chantal Louis, EMMA-Redakteurin
Annika Ross, EMMA-Redakteurin
Oliver Schnare, Angestellter
Brigitte Kamps-Kosfeld, Sozialwissenschaftlerin
Heide Schnitzer, Reutlingen
Axel Beck, Petershagen
Prof. Dr. Anne-Gret Luzens, Mathematikerin (im Ruhestand)
Günter Luzens, Dipl.-Ing. (im Ruhestand)
Katharina Rinn, Human. Mother. Civil Engineer. Yogini. Tattooista. Gießen
Manfred Prantner, MAS, Wirtschafts-, Trauma- und Medienpädagoge, Landeck/Österreich
Dagmar Priepke, Frankfurt/Main
Andrea Köhrer
Barbara Gorel
Sonja Schönherr
Volker Groß, Hamburg
Corinna Behrens, Verwaltungsbetriebswirtin, Autorin, München
Mathias Liebig
Richard Wichmann, Studiendirektor a.D., Wallenhorst
Claudia Bittkowski
Klaus Keller, ehem. Krankenpfleger und Zeitsoldat, Gelnhausen
Dagmar Willhalm, Selbstständige
Silke Hillebrecht
Dieter Tackmann, Pensionär, Schwerin
Siegfried Niemeyer, Sonderschullehrer a.D., Osnabrück
Valerie Jacob, Köln
Dr. Franz Schötz
Albrecht Hahn, Kleinmachnow
Klaus Maisch, Ettlingen
Doris Dauber
Ralf Schönwald, Zossen
Oliver Tabillion
Daniel Berger, Historiker
Karl-Heinz Deubner, Techniker
Stefanie Tyrach
Dr. Jörg Tyrach
Artur Born
Ralf Wirtz, EWI Erftland
Uwe Weller
Monika Baumann
Rupert Wille, Harsum
Thomas Sonntag, Kaarst
Annette Brückner
Martin Dörnhöfer
Axel Reinert, Angestellter
Benjamin Mayr, Rain am Lech
Fred Eric Schmitt, Journalist, Überherrn
Jessica Franck
Monika Anna Seeckts, Berlin, Rentnerin
Katja Fischer, Ärztin
Tilo und Inka Voigt
Katja Rebner
Heinz-Bernd Dannhüser, Beamter
Kerstin Knuth-Foltyn
Susanne Harbach
Prof.em.Dr.Dr.h.c. Hans-Peter Schwarz, Kunsthistoriker
Gertrud Peters, Kuratorin
Dr. Andrea Gleiniger, Architekturhistorikerin und Autorin
Ina Kohnle
Iris Zyngier
Peter Goebel, Bickenbach
Bernhard Alberts, Wiesbaden
Dr. Alexander Grau, Publizist, Journalist, Philosoph
Hiltrud Hamer
Daniela Schlarb
Thomas Härtel, Arzt
Ulrike Schaller-Scholz-Koenen, Sozialarbeiterin, Kunsttherapeutin, Bildende Künstlerin
Margit Reiner, Dipl.-Ing. Techn. Umweltschutz
Dr. Joachim Langstein, Bayreuth
Peter Krieger, Künster
Jürgen Weiß, Zwickau
Claudia Thirolf, Lehrerin a.D., Pädagogin, Lübeck
Ulrich Knak
Maria Rasche, Berlin
Renate Habeck, besorgte Bürgerin, geb. 1959
Frank Fuchs, Friedrichshafen
Harry Karpfinger
Gerd Bauz
Florian Mayr, Trostberg
Andreas Eichhorn
Ursula Morgenstern, Magdeburg
Matthias Keilwerth
Jan Heitmann, Dudeistischer Priester
Heike Orthen
Kalle Witzel, OStR im Ruhestand
Volker Gericke
Dorothea Kraus
Sven Respondek (Dj Spikee), Künstler
Griseldis Wilsdorf, Ärztin
Marco Böse, Techn. Angestellter Forschung und Entwicklung
Stephanie Frfr. von Liebenstein, freie Wissenschaftlerin
Bärbel Hirsschmann, Graal-Müritz, Rentnerin
Katrin Klincker-Kroth
Klaus und Marlies Thormann, Rentner
Ulrike Kraus, Rudolstadt
Matthias Lessig, Frankfurt am Main
Annett Markert, Niedernberg
Prof. Dr. Ingo Juchler, Politikwissenschaftler
Elke Fasler, ZittauWeitere Unterzeichnungen: Seite 1 – Seite 2/
Quelle: 2022-04-29. — (Emma.de) – Offener Brief an Olaf Scholz
Text des Offenen Briefs auf Englisch und Französisch