…unter diesem Titel hat Sverre Lodgaard, Rüstungskontrollexperte und ehemaliger Direktor des norwegischen außenpolitischen Forschungsinstituts NUPI, Putins Angriff auf die Ukraine analysiert:
Der Krieg in der Ukraine geht für die Russen sehr langsam voran. Nicht nur wegen des starken Widerstands der Ukrainer, sondern auch wegen der offenkundig großen Schwächen des russischen Militärs.
Der russische Feldzug korrigiert das Bild, das viele von Russlands Militärmacht gehabt haben. Russlands Verteidigungshaushalt betrug laut SIPRI-Jahrbuch im Jahr 2020 62 Milliarden US $. Ein Großteil davon fließt in Atomwaffen. Was für die konventionellen Streitkräfte übrig bleibt, ist daher bescheiden. Das russische Brutto-Sozialprodukt, das die Streitkräfte finanziert, ist ebenfalls bescheiden, auf gleicher Höhe wie Spanien. Der Krieg ist zu einem Belastungstest für die russische Verteidigung geworden, und es ist verlockend, dem Ergebnis die Note “nicht bestanden” zu geben. Aber vielleicht ist es genauer, zu sagen, dass die Schwächen die tatsächlich bereitgestellten Ressourcen widerspiegeln.
2020 hatte Deutschland (ohne eigene Atomwaffen) 53 Milliarden US $ Verteidigungsausgaben, und mit der nun angekündigten Aufstockung wird der deutsche Verteidigungshaushalt den russischen übersteigen. Großbritannien (mit seiner kleinen Atommacht) hatte 59 Milliarden US $ Verteidigungsausgaben. Auch dort wurden deutliche Erhöhungen angekündigt.
Gemessen an Kaufkraft bekommen die Russen zwar mehr für ihr Geld als ihre westlichen Gegner, aber die genauen Daten kennen wir nicht, weil alle Statistiken auf Wechselkursen basieren. Aber Auf der anderen Seite haben sie aber ein riesiges asiatisches Territorium zu verteidigen.
Inzwischen tut die westliche Welt noch mehr von dem, was sie seit vielen Jahren tut: Aufrüsten. Die NATO hat eine Zahl festgelegt – mindestens 2 Prozent des Bruttosozialprodukts –, nicht aber, wofür das Geld verwendet wird. Die Annexion der Krim 2014 war eine Triebkraft, und nun gibt der Krieg gegen die Ukraine einen kräftigen Schub nach oben.
Während des Kalten Krieges versuchten die Parteien, durch die Einführung neuer Waffensysteme Sicherheitsmargen zu erzielen, mussten aber registrieren, dass die andere Partei mit der gleichen Münze reagierte. Das Ergebnis war meist eine geringere Sicherheit für beide Seiten. Als der Kalte Krieg seinen Höhepunkt erreichte, versuchten sie, dieses Sicherheitsdilemma hinter sich zu lassen zugunsten einer gemeinsamen Sicherheit, also einer Zusammenarbeit bei Maßnahmen, die beiden Seiten zugute kamen. Sie erkannten, dass mehr Sicherheit nicht durch einseitige Aufrüstung erreicht werden konnte.
Heute ist die Situation anders. Ein aggressiver, aber relativ schwacher Gegner nimmt für sich in Anspruch, sich in der Nachbarschaft militärisch auszubreiten. Dann ist es logisch, der Aggression durch Aufrüstung und Wirtschaftskrieg entgegenzutreten, weil dann Russland weder in der Lage ist, auf die eine oder auf die andere Gegenmaßnahme zu reagieren.
In dieser neuen Welle des Kalten Krieges wird das Sicherheitsdilemma kaum beachtet.
Was ist das Ziel? Viele hoffen, dass das russische Regime auseinanderbricht und stürzt, oder dass die Wirtschaft zusammenbricht und das Regime mit sich reißt.
Der französische Finanzminister hat Russland den Wirtschafts- und Finanzkrieg mit dem Ziel des wirtschaftlichen Zusammenbruch erklärt, und der britische Außenminister hat sich ähnlich geäußert.
Das ist kaum Ergebnis einer nüchternen Analyse, sondern der Höhepunkt einer Stimmungswelle. Vieles geschieht als Ergebnis der berechtigten Empörung über die russische Missachtung des Völkerrechts.
Aber es ist unklar, ob es den westlichen Ländern vor allem darum geht, Russland in die Knie zu zwingen oder darum, den Krieg zu beenden. Das ist nicht dasselbe.
Wenn man hauptsächlich an die Ukrainer denkt, ist man vielleicht zu Sanktionserleichterungen bereit, um eine politische Lösung für den Abzug der Russen und Ende des Krieges zu erzielen. Wenn es einem vor allem darum geht, die Russen zu bestrafen, werden die Sanktionen Bestand haben – für lange Zeit.
Beide Seiten, Russland wie auch der Westen, scheinen hinsichtlich einer politischen Lösung ambivalent zu sein. Wir wissen nicht, ob die Russen eine militärische Lösung einer politischen vorziehen. Sie sagen, sie würden nicht aufgeben, bis die Ziele ihrer Kampagne erreicht seien, aber solange wir nicht wissen, was die Kriegsziele sind, sind wir auch nicht klüger.
Sollte es zur Vereinbarung über das Ende des Krieges zu Bedingungen enden, die Präsident Wolodymyr Selenskyj andeutet, eventuell zu akzeptieren – darunter eine entmilitarisierte (neutrale??) Ukraine außerhalb der NATO –, könnte es in westlichen Kreisen schlecht ankommen, die glauben, dass die Russen dann zu billig davonkommen würden.
Die Allianz ist weit überlegen und wird noch stärker werden. Jetzt kommen außergewöhlich gute Zeiten sowohl für die Rüstungsindustrie als auch für andere verteidigungsbezogene Ziele. Wieviel ist genug? Die Antwort muss von politischen Zielen geprägt sein und ein einigermaßen klares internationales strategisches Ziel haben.
Die Vereinigten Staaten haben eine Tradition dafür, sind aber weitgehend unberechenbar. Es ist nicht selbstverständlich, dass sich eine neue US-Administration auf die NATO konzentrieren wird. Europa wird immer eine Rolle in der globalen Strategie der USA spielen – Norwegen nicht zuletzt wegen seiner Nähe zu den russischen Stützpunkten auf der Halbinsel Kola – aber mit einem geschwächten Russland und einem gestärkten Europa könnten den USA bilaterale Abkommen mit Ländern in vorne gelagerten Positionen ausreichen. Die amerikanischen Ressourcen sollen auf die Eindämmung Chinas konzentriert werden – das ist ein klares Ziel – und dann kann man Europa vorteilhafterweise mehr sich selbst überlassen.
Die EU verstärkt ihre verteidigungs- und sicherheitspolitische Zusammenarbeit und hat Ambitionen, ein geopolitischer Akteur zu werden. Bisher geschah das langsam, und angesichts des Krieges in der Ukraine wurde die NATO zum natürlichen Sammelpunkt. Kann sein, dass das so weitergeht, vielleicht will man aber, dass sich die EU aus eigener Initiative gegen den äußeren Druck zusammenschließt, zum Beispiel mit einem inneren Kern um Frankreich und Deutschland.
Russland hat sich weit über seiner Gewichtsklasse auf einen Boxkampf eingelassen, und wurde entlarvt, aber das Land bleibt neben den Vereinigten Staaten eine führende Atommacht. Beide sind an Vereinbarungen interessiert, die die Gefahr eines Kriegs durch einen Zwischenfall oder Missverständnisse verringern können: Gute Kommunikation, klare Verhaltensregeln und räumlich weiter auseinanderliegende Stationierung ihrer Streitkräfte. Das gilt am dringendsten für die Ostsee- und Schwarzmeerregionen und für die Atomwaffen in unseren nördlichen Regionen.
Gespräche über stabilisierende und risikomindernde Maßnahmen wurden bereits vor Beginn des Ukraine-Konflikts geführt und können wieder aufgenommen werden, sobald das Schlimmste überstanden ist.
Die norwegische Militärbasenpolitik sei „zur Politik geworden, die von der Regierung zu allen Zeiten verfolgt wird“, schreibt Aftenposten. Das ist weniger beruhigend und mehr abschreckend, aber hier müssen wir besonders vorsichtig sein, denn in diesem Bereich gilt immer noch das alte Sicherheitsdilemma.
Quelle: 2022-03-22. – (dagsavisen.no, kommentar) – Sverre Lodgaard: Russland har bokset over sin vektklasse og blitt avslørt , ins Deutsche übertragen von der Redaktion (wb)