Zu der Debatte über Nord Stream 2 hat sich Klaus Staeck in der Berliner Zeitung vom 30.09.2020 zu Wort gemeldet:
Es wird hoffentlich niemand auf die Idee kommen, mich für einen postumen Franz-Josef-Strauß-Verehrer zu halten, wenn ich mich auf seinen in markant bayerisch gefärbtem Latein gesprochenen Satz „pacta sunt servanda“ berufe. Verträge müssen eingehalten werden. Für jede Bundesregierung sind nicht nur die internationalen Abmachungen ihrer Vorgängerregierungen verbindlich, sondern natürlich auch Verträge, die zur Zeit der Merkel’schen Kanzlerschaft unterzeichnet wurden. Kurz vor dem Tag der deutschen Einheit haben die Ministerpräsidenten der seit 30 Jahren „neuen“ Bundesländer sowie Berlins Bürgermeister dazu aufgefordert, die letzten Kilometer einer Gasleitung vor der Ostseeküste zu verlegen. Allen Sanktionsdrohungen der US-Regierung und dem Wut-Brief dreier Senatoren, die „Sassnitz wirtschaftlich vernichten“ wollen, zum Trotz.
Manuela Schwesig kann man es nicht verdenken, dass sie sich vehement für die mecklenburg-vorpommerschen Wirtschaftsinteressen einsetzt. Dass auch die anderen ostdeutschen Ministerpräsidenten – gleich welcher Parteizugehörigkeit – sich dazu bekennen, ein einmal begonnenes und durch internationale Verträge abgesichertes Wirtschaftsprojekt zu Ende zu führen, spricht sowohl für ihren Realitätssinn als auch für ihre Verantwortung. Denn die beteiligten Firmen könnten für ihre entgangenen Investitionen auf milliardenschwere Rückzahlungen klagen. Zahlen müssten es die Bürger mit ihren Steuergeldern.
Ich weiß, dass diese Zeilen Widerspruch finden werden. Wir kennen die Gegenargumente: Die Gasröhre Nord Stream 2 füllt Putins Kassen, dessen Regime nun auch für die Vergiftung des Oppositionellen Nawalny verantwortlich gemacht wird. Der Ruf wurde zuletzt immer lauter, die EU müsse über Finanz-Sanktionen russischen Banken und Unternehmen den Geldhahn abdrehen. Kommentatoren großer Zeitungen schreiben die unsäglichen Worte, nun müsse man Russland einmal „richtig wehtun“, eine Grünen-Politikerin und Russlandexpertin bringt den Vertrag über die zweite Gasröhre argumentativ in die Nähe des Hitler-Stalin-Pakts „als abschreckendstes Beispiel für ein deutsch-russisches Bündnis auf Kosten unserer mitteleuropäischen Nachbarn“. Als ob die Bundesrepublik im dreißigsten Jahr nach der Wiedervereinigung zu einem Sicherheitsrisiko und mit dem historischen Gleichnis gar zu einer militärischen Bedrohung geworden wäre. Absurd.
Finanzminister Olaf Scholz bemüht sich mit aller diplomatischen Konzilianz, den osteuropäischen Partnerländern der EU und der Ukraine zu versichern, dass ihnen langfristig geschlossene Durchleitungsverträge finanzielle Einnahmen garantieren. Polen bot er Beistand an, eine weitere Gasleitung und auch den Bau eines polnischen Terminals für US-Flüssiggas mit EU-Finanzen zu unterstützen. Sogar in Deutschland sollen zwei Häfen für die Aufnahme von Flüssiggas made in USA zur Verfügung stehen, wenn sie von privater Hand finanziert werden. Dies hat Olaf Scholz in einem „informellen Regierungspapier“ dem US-Finanzminister Mnuchin übermittelt, darauf hoffend, die „Zerstörung“ von Sassnitz und aller an der Fertigstellung der Röhre beteiligten Firmen zu verhindern.
Wenn nur in allen Bereichen des internationalen Handels die moralischen Normen so hoch angesetzt würden wie im Gasgeschäft mit Russland. Dann würden wohl auch die gerade erst gestiegenen Rüstungswaffenexporte u. a. an den Nato-Partner Türkei zur Weiterverwendung in Syrien und zur Bedrohung Griechenlands in anderem Licht gesehen.
Quelle: 2020-09-30. — (Berliner Zeitung) — Klaus Staeck: Nord Stream 2: Pacta sunt servanda