In einer Kolumne für die Washington Post plädiert Katrina vanden Heuvel, u.a. Mitglied des Council on Foreign Relations und Herausgeberin der “liberalen” US-Wochenzeitung The Nation, für eine Grundsatzdebatte in den USA über eine neue “Sicherheitsstrategie für das 21. Jahrhundert”.
Bereits im Sommer 2018 hatte sie mit einer Sonderausgabe von The Nation mit Beiträgen von Wissenschaftlern und Vertretern der US-Friedensbewegung versucht, insbesondere die Demokraten für die “breite außenpolitische Debatte” über eine neue Klima- und Friedenspolitik zu gewinnen. Aber eine Wende in der Außenpolitik der USA wurde seitdem bis auf wenige Ausnahmen und Initiativen von linken Demokraten im Kongress zur Rettung des INF-Vertrages oder zum Stopp des Jemen-Kriegs kein zentrales Thema der Demokraten.
Die leidvollen Erfahrungen mit der Corona-Pandemie in den USA sind für Katrina vanden Heuvel Anlass für ihren Appell, nach der Corona-Krise endlich mit der gründlichen Aufarbeitung und grundsätzlichen Korrektur der Innen- wie der der Außenpolitik zu beginnen. Deren “Folgen für die Sicherheit der AmerikanerInnen” seien verheerend gewesen: Wachsende Unsicherheit durch Abbau von Arbeitsplätzen, Stagnation der Löhne, geradezu groteske extreme Ungleichheit, Abbau der Lebenserwartung und Belastung einer ganze Generation mit hohen Schulden.
Um “nationale Sicherheit” real und erfahrbar für jeden Menschen in den USA zu machen, bedürfe es über Klima- und Friedenspolitik hinaus endlich den Aufbau grundlegender sozialer Sicherheit in den USA, wie sie in anderen entwickelten Industriestaaten normal sei. Für diese Debatte würden die Präsidentschaftswahlen kaum Gelegenheit bieten. Dafür bräuchten die USA eine selbstbewusste Änderung fordernde Zivilgesellschaft und eine parteiübergreifende Koalition von eigenständig handelnden Führungspersönlichkeiten im Kongress.
Mit ihrem Appell lädt Appell Katrina vanden Heuvel die Europäer geradezu ein, eine progressive “transatlantische Allianz mit dem anderen Amerika” zu schmieden, um nach der Korona-Krise die Erneuerung der Klima- und Entspannungspolitik sowie einer Politik des sozialen Ausgleichs durchzusetzen.
Wir danken Katrina vanden Heuvel für ihre Unterstützung bei der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe ihrer Kolumne in unserer Website:
Wenn diese Pandemie vorbei ist, ist eine grundlegende Auseinandersetzung fällig. Ich meine nicht über das miserable Krisenmanagement von Präsident Trump. Darüber werden die Bürger bei den Wahlen im November ihr Urteil abgeben.
Nein, es muss eine ernsthafte Auseinandersetzung über die Innen- und Außenpolitik der Vereinigten Staaten und ihre falschen Prioritäten geben, die schon lange erkennbar waren, bevor die Covid-19-Pandemie so dramatisch den Bankrott unserer nationalen Sicherheitsstrategie offenbarte.Vor knapp 30 Jahren übernahmen die Vereinigten Staaten mit dem Ende der Sowjetunion die Rolle der einzigen Supermacht der Welt. Im Establishment verfestigte sich schnell ein Konsens: Wissenschaftler verkündeten das “Ende der Geschichte” und proklamierten das US-Modell — liberale Demokratie und Marktfundamentalismus — als den ultimativen Endpunkt des menschlichen Fortschritts. Eine von Großkonzernen geprägte Globalisierung würde den Vereinigten Staaten unermesslichen Wohlstand bringen und ihn auf der ganzen Welt verbreiten. Ihre unübertroffene militärische Dominanz versetzten die USA in die Lage, eine widerspenstige Welt In Schach zu halten und den Segen der Demokratie zu verbreiten.
Obwohl es parteipolitische Unterschiede in Tonfall und Rhetorik gab, war der Konsens – und die überwältigende Arroganz – ungebrochen. Die Vereinigten Staaten, so Bill Clintons Außenministerin Madeleine Albright, seien die “unverzichtbare Nation”, und ein Berater von George W. Bush prahlte: “Wir sind jetzt ein Imperium, und wenn wir handeln, schaffen wir unsere eigene Realität.”
Das Ergebnis war für die Sicherheit vieler Amerikaner ruinös. Die Konzerne nutzten die maßgeblich von ihnen bestimmten Regeln der Globalisierung zur Verlagerung guter Arbeitsplätze ins Ausland, zur Schwächung der Rolle der Arbeitnehmer, zur Stagnation der Löhne, zur dramatischen Verstärkung der sozialen Unsicherheit und zu einer geradezu grotesk extremen Ungleichheit. Billionen von Dollar wurden für den Ausbau von militärischer Macht ausgegeben, die für die Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit immer weniger relevant wird — während die Bedrohungen durch katastrophalen Klimawandel, Pandemien, Massenmigration durch zerfallende Staaten und endlose Kriege – immer weiter anwachsen.
Das Leben ist für die Amerikaner immer unsicherer geworden, die Lebenserwartung ist gesunken und eine ganze Generation wird mit riesigen Schulden allein gelassen. Heute sind die Vereinigten Staaten nach wie vor der Außenseiter unter den Industriestaaten, der keine grundlegende solidarische Sicherheit bietet – keine allgemeine Gesundheitsversorgung, keine angemessenen Löhne, bei Krankheit weder Lohnfortzahlung noch Krankengeld, keine erstklassige öffentliche Bildung und so weiter.
Die Amerikaner hatten unter anderem deshalb Barack Obama und Trump gewählt, weil sie hofften, dass die als Außenseiter diesen Kurs ändern könnten. Beide enttäuschten. Obama hat den Krieg gegen den Terror verfeinert und verlängert. Trump versprach, die Kriege für immer zu beenden, aber hat uns tiefer in sie hineingezogen und gleichzeitig noch mehr Geld in unseren aufgeblähten Militärapparat geworfen.
Von der Nationalen Sicherheitsstrategie 2017 der Trump-Administration, verfasst von „Erwachsenen im Zimmer“, erhofften die Stimmen des Establishments, sie würden Trump davon abhalten, Amerikas Platz in der Welt zu untergraben. Das Strategiedokument kündigte eine grundlegende Kurskorrektur an: Die Hauptbedrohung für die Vereinigten Staaten sei nicht mehr der Terrorismus. Die Hauptbedrohung seien die “revisionistischen Mächte” China und Russland. Der neue Kalter Krieg brachte die fest verwurzelten Interessen und erfahrenen Strategen in Hochstimmung: Das war die Rechtfertigung für eine neue Runde der Aufrüstung, für neue Einsätze in Asien und im Nahen Osten, für die Ausweitung der Aktivitäten der NATO an den Grenzen Russlands und vieles mehr.
Die Bedrohungen durch den katastrophalen Klimawandel und durch „Biothreats“, Pandemien und zerfallende Staaten wurden zwar erwähnt, aber bestenfalls als Nebensache behandelt.
In der Diskussion zwischen den Parteien im Kongress spielten die existenziellen Bedrohungen durch den Klimawandel so gut wie keine Rolle. Die Bedrohungen durch Pandemien, durch Massenvertreibung von Flüchtlingen und durch zerfallende Staaten wurden im Kampf um Geld, Verträge und Prestige aufs Abstellgleis geschoben.
Trump hat mit seiner Reaktion auf das Coronavirus zwar katastrophal versagt, was die Amerikaner wertvolle Zeit und viele Menschenleben gekostet hat. Aber dieses Versagen ist auch das Ergebnis eines irreführenden “Sicherheitskonsenses” im Establishment beider Parteien.Mehr als je zuvor brauchen wir die grundlegende Debatte über die Sicherheitsstrategie für das 21. Jahrhundert. Wir brauchen eine globale Wirtschaftsstrategie, die die Interessen der arbeitenden Bevölkerung der USA ernst nimmt und dafür sorgt, dass die Vereinigten Staaten ein Zentrum der Innovation und Industrie bleiben.
Wir sollten nicht noch einmal aufwachen um zu entdecken, dass die Vereinigten Staaten sich nicht um solche wesentlichen Dinge wie unsere persönliche Gesundheit und Sicherheit kümmern. Wir brauchen eine Sicherheitspolitik, die sich auf die Bewältigung der wachsenden existenziellen Bedrohungen konzentriert: auf den katastrophalen Klimawandel, globale Pandemien, das durch kein Rüstungskontrollabkommen mehr begrenzte Wettrüsten mit Atom- und Cyberwaffen. Wir brauchen mehr Investitionen in und Aufmerksamkeit für die Handlungskraft unserer öffentlichen Institutionen – und mehr Kontrolle und Rechenschaftspflicht der privaten Großkonzerne.
Die Präsidentschaftswahlen werden kaum Gelegenheit für diese grundlegende Auseinandersetzung bieten. Trump wird sich schamlos als siegreicher “Kriegspräsident” verkaufen. Der frühere Vizepräsident Joe Biden wird Trump zu Recht wegen des katastrophalen Versagens mit seiner korrupten und chaotischen Regierung anprangern, aber die fundamentalen Fehler in Strategie und Prioritäten der USA werden in den Wahlkampfgefechten wahrscheinlich keine Rolle spielen.
Unser Land braucht dringend selbstbewusste Bewegungen der Zivilgesellschaft – eine neuen Generation, die Veränderungen verlangt – und einen eigenständigen Kongress, der von einer Koalition von fortschrittlichen und parteiübergreifend handelnden Führungspersönlichkeiten geführt wird, die die dringend notwendige Debatte vorantreiben.
Quelle: Katrina vanden Heuvels Kolumne in der Washington Post After this pandemic passes, America needs a reckoning with its national security, ins Deutsche übertragen von W. Biermann.
Das schreckliche menschliche Leid, das durch die Pandemie und den wirtschaftlichen Niedergang verursacht wurde, führt uns vor Augen, wie dringend diese grundlegende Debatte für die zukünftige Sicherheit eines jeden Amerikaners ist.
Weitere Infos:
- 03. März 2020 — SPD-Fraktion beschließt Positionspapier zur Abrüstung
- 22. Juni 2019 — Bernie Sanders fordert grundlegende Wende in der US-Außenpolitik