Vorbemerkung: Am 28. Oktober 1962 wurde die Eskalation der Kuba-Krise zum Atomkrieg in letzter Minute durch die erste „Rüstungskontrollvereinbarung“ zwischen Washington und Moskau gestoppt: Damals vereinbarte John F. Kennedy (entgegen dem Rat seiner meisten Berater) mit Nikita Chruschtschow den Abzug der sowjetischen Atomraketen aus Kuba sowie der (damals offiziell verschwiegenen) amerikanischen Atomraketen aus der Türkei und Italien.
in seiner berühmten Rede am 10. Juni 1963 vor der American University begründete Kennedy mit dieser Erfahrung, dass die Eskalation der Kuba-Krise zur „binnen 24 Stunden zur Vernichtung beider Länder hätte führen können“, seinen Beschluss, dass die USA eine „Strategie des Friedens entwickeln müssten als Alternative zur „PaxAmericana , die der Welt durch amerikanische Kriegswaffen aufgezwungen wird: … Letzten Endes besteht unsere grundlegendste Gemeinsamkeit darin, dass wir alle auf diesem kleinen Planeten leben. …Vor allem müssen die Atommächte Konfrontationen abwenden, bei denen ein Gegner nur die Wahl zwischen demütigendem Rückzug und Atomkrieg hat…“
Am 13. Oktober 2022 appellierte Katrina vanden Heuvel in ihrer Kolumne für die Washington Post an die USA und Russland, endlich die Lehren aus der Kuba-Krise vor 60 Jahren anzuwenden, um die aktuelle Gefahr der Eskalation des Ukraine-Konflikts bis zu einem Atomkrieg zu bannen.
Wir danken Katrina vanden Heuvel für ihr OK zur Veröffentlichung der deutschen Version ihrer Kolumne auf unserer Website:
In der kommenden Woche jährt sich die Kubakrise vom Oktober 1962 – die 13-tägige Pattsituation zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, in der ihre Konfrontation erstmals kurz vor einem globalen Atomkrieg stand.
Heute, 60 Jahre danach, bewegen wir uns erneut erschreckend nahe am Rand von Armageddon; deshalb sollten wir genau auf die Kuba-Krise schauen, um daraus die notwendigen Lehren für die Lösung unserer gegenwärtigen Konfrontation zu ziehen.
Am letzten Freitag warnte Präsident Biden davor, dass im Ukraine-Krieg „zum ersten Mal seit der Kuba-Krise direkt der Einsatz von Atomwaffen droht“.
Diese Warnung ist sehr ernst zu nehmen. Der engste Kreml-Verbündete und Chef der Republik Tschetschenien Ramsan Kadyrow, schrieb kürzlich, Russland solle „den Einsatz von Atomwaffen mit geringer Sprengkraft“ erwägen. Das Russische Staatsfernsehen und russische Militärblogs haben mehrfach solche Vorschläge verbreitet.
Und Russlands Präsident Wladimir Putin bekräftigte wiederholt seine Bereitschaft, im Konflikt „alle Mittel“ einzusetzen.
Niemand kann wissen, ob Putin wirklich bereit ist, seine Drohung wahr zu machen. Matthew Bunn, Professor an der Harvard Kennedy School, schätzt die Wahrscheinlichkeit auf etwa 10 bis 20 Prozent ein.
Aber wir müssten wissen, wie wir das Katastrophenrisiko verringern können. Die Kuba-Krise hat bewiesen, dass selbst angesichts einer drohenden nuklearen Verwüstung Deeskalation möglich ist und Diplomatie sich durchsetzen kann.
Experten und Wissenschaftler haben jahrzehntelang wiederholt über die Krise geforscht. Das National Security Archive veröffentlichte bereits vor 20 Jahren viele der bis dahin geheimgehaltenen Dokumente der Kuba-Krise mit einem Vorwort von ex-Verteidigungsminister Robert S. McNamara. Auch das US-State Department veröffentlichte eine umfangreiche Darstellung zum 40. Jahrestag der Kuba-Krise.
Aber in den letzten Jahren wurden weitere Archive und Memoiren öffentlich zugänglich, die das Bild über die Ereignisse in den 13 Tagen nach dem 16. Oktober 1962 in allen Details vervollständigt haben. Die Rede ist vom 2020 erschienenen Buch des Pulitzer-Preisträgers Martin J. Sherwon, “Gambling With Armageddon“,das die New York Times das Buch mit der „vollständigen Darstellung“ der Ereignisse bezeichnete.
Sherwons Buch bietet zentrale Informationen – sowohl über die Umstände, die die Menschheit an den Rand der Vernichtung brachten, als auch über Wege, wie wir von diesem Abgrund zurücktreten können.
Eine erschreckende wie beeindruckende Erinnerung daran, wie Krisen manchmal abgewendet werden können, wurde erstmals 1969 vom ehemaligen Außenminister Dean Acheson vorgebracht. Acheson, der Präsident John F. Kennedy während der Kuba-Krise beriet, rezensierte „Thirteen Days – die posthumen Memoiren von Robert F. Kennedy, die auf erschreckende Weise belegen, dass der Atomkrieg 1962 “ganz einfach nur durch dumpfes Glück“ abgewendet wurde.
Tatsächlich ist seitdem ans Licht gekommen, dass damals der Abschuss einer Atomrakete nicht nur einmal, sondern zweimal in letzter Sekunde verhindert wurde – einmal von der 498. Tactical Missile Group auf Okinawa/Japan, und einmal von einem sowjetischen U-Boot in kubanischen Gewässern.
In beiden Fällen verhinderte der Widerstand jeweils einer einzelnen Person den Abschuss. Natürlich kann sich die Welt nicht allein auf Glück verlassen, um eine nukleare Katastrophe zu verhindern.
1962 schätzte Kennedy die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs „zwischen 33 und 50 Prozent“. Nach Kennedys Beurteilung der damaligen Situation würden wir nach nur wenigen weiteren vergleichbaren Konfrontationen zwischen USA und Russland „der Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs sehr nahe kommen“.
Die Menschheit kann es sich nicht leisten, den Zylinder in diesem russischen Roulette mit Atomwaffen noch einmal weiter zu drehen: Wir müssen die Waffe entladen.
Unser einziger Ausweg nach vorne ist die Deeskalation. Und Deeskalation beginnt, wie Sherwin deutlich macht, mit Dialog: Während der Kubakrise argumentierten Leute wie General Curtis LeMay, Verhandlungen seien gleichbedeutend mit Appeasement. Aber nüchterne Gespräche sind unerlässlich, um den ohne sie sicheren Untergang zu vermeiden. Gespräche im Namen chauvinistischer Posen zu opfern, ist nicht nur absurd; das ist potenziell apokalyptisch.
Der sowjetische Führer Nikita Chruschtschow beschrieb das in seinen Erinnerungen so: „Die größte Tragödie war, dass [meine Militärberater] nicht sahen, dass unser Land verwüstet und alles verloren sein würde, sondern nur dass uns die Chinesen oder Albaner des Appeasement oder der Schwäche beschuldigen könnten. … Was hätte es mir in der letzten Stunde meines Lebens geholfen, zu wissen, dass die nationale Ehre der Sowjetunion intakt war, obwohl unsere große Nation und die Vereinigten Staaten in völligen Ruinen lagen?“
Heute, da die Welt erneut von der Auslöschung bedroht ist, fordern Persönlichkeiten aller politischen Richtungen den Dialog, um einen Weltuntergang zu verhindern.
Eine kleine, aber wachsende Gruppe progressiver Mitglieder des US-Kongresses koinzentrieren sich (gemeinsam mit mehreren Friedensorganisationen) zunehmend auf Argumente, wie Deeskalation und Dialog am besten gefördert werden können. Sie sind inspiriert von einer Wahrheit, die der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj selbst einmal ausgedrückt hatte: Dieser Krieg „wird letztlich nur durch Diplomatie beenden.“
Papst Franziskus gab eine starke Erklärung ab, in der er die Regierungschefs weltweit aufforderte, „alles zu tun, um den Krieg zu beenden“. Auch der ehemalige Außenminister Henry Kissinger erneuerte die Forderung nach Dialog: „Das hat nichts damit zu tun, ob man Putin mag oder nicht. … Das hat mit der historischen Veränderung des Weltsystems durch die Einführung von Atomwaffen zu tun. Deshalb ist ein Dialog zwischen Russland und dem Westen unumdingbar.“
Wir dürfen uns nicht von der Überzeugung abbringen lassen, dass Atomwaffen unter keinen Umständen wieder eingesetzt werden dürfen. Wir täten in diesem ernsten Moment gut daran, die Lehren der Geschichte zu erinnern, laut und deutlich immer wieder die gemeinsame Erklärung von Präsident Ronald Reagan und dem russischen Präsidenten Michail Gorbatschow vom November 1985 zu wiederholen, die erst im Januar 2022 von den Regierungschefs der fünf Atommächte bekräftigt wurde: „Ein Atomkrieg kann nicht gewonnen werden und darf niemals geführt werden.“
Katrina vanden Heuvel ist Redakteurin und Herausgeberin des Magazins Nation, schreibt eine wöchentliche Kolumne für die Washington Post. Sie hat auch mehrere Bücher herausgegeben oder mitherausgegeben, darunter „The Change I Believe In: Fighting for Progress in the Age of Obama“ (2011) und „Meltdown: How Greed and Corruption Shattered Our Financial System and How We Can Recover“ ( 2009).
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