Am 9. März 2022 veröffentliche JEFFREY D. SACHS folgenden Beitrag für “Project Syndikate”, um zu erläutern, warum im Atomzeitalter “der Kompromiss die einzige sichere Option” zur Beendigung von Konflikten mit einer Atommacht ist. Wir danken Jeffrey Sachs für die Erlaubnis, diesen Beitrag in deutscher Übersetzung zu veröffentlichen.
Obwohl Wladimir Putins perfider Krieg gegen die Ukraine Amerika und seine Verbündeten hinter dem Ziel vereint hat, die russische Wirtschaft zu zerschlagen, gibt es keinen guten Grund zu glauben, dass Gerechtigkeit dem Blutvergießen ein Ende bereiten wird. Die Geschichte der Konflikte im Atomzeitalter lehrt uns, dass der Kompromiss die einzige sichere Option ist.
NEW YORK – Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine ist grausam und barbarisch. Dennoch könnte er mit einer diplomatischen Lösung beendet werden, bei der Russland seine Streitkräfte im Gegenzug für die Neutralität der Ukraine abzieht. In seinem jüngsten Telefonat mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron signalisierte Putin seine Offenheit für diese Möglichkeit: “Es geht in erster Linie um die Entmilitarisierung und Neutralität der Ukraine, um sicherzustellen, dass die Ukraine niemals eine Bedrohung für Russland darstellen wird.” In die Tat umgesetzt könnte dies bedeuten, dass die NATO und die Ukraine auf die künftige Mitgliedschaft der Ukraine im Bündnis verzichten würden, wenn Russland sich sofort aus der Ukraine zurückzieht und auf künftige Angriffe verzichtet.
Bei einer diplomatischen Lösung bekommt keine Partei alles, was sie will. Putin würde das russische Imperium nicht wiederherstellen können, und die Ukraine würde nicht der NATO beitreten können. Die Vereinigten Staaten wären gezwungen, die Grenzen ihrer Macht in einer multipolaren Welt zu akzeptieren (eine Wahrheit, die auch für China gelten würde).
Sicherlich passt ein diplomatischer Kompromiss nicht zur derzeitigen Stimmung. Die Welt ist entsetzt über die Perfidie Russlands und beeindruckt vom heldenhaften Widerstand des ukrainischen Volkes. Doch das Überleben der Ukraine (und möglicherweise sogar der Welt) hängt letztlich davon ab, dass die Vorsicht vor dem redlichen Heldenmut die Oberhand gewinnt. Die Ukraine fordert mehr Kampfflugzeuge, mehr schwere Waffen und eine NATO-Flugverbotszone. Jeder dieser Schritte würde das Risiko einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der NATO erhöhen, die schnell zu einem nuklearen Showdown eskalieren könnte.
Der Instinkt der europäischen und US-amerikanischen Staats- und Regierungschefs scheint so als wollten sie Russland wirtschaftlich vernichten, um ganz entschieden zu beweisen, dass sich Barbarei nicht lohnt. Aus dieser Perspektive erscheint ein Kompromiss wie Appeasement, doch der Kompromiss würde darauf zielen, die Ukraine zu retten und nicht, sie abzutreten. Ein Wirtschaftskrieg birgt auch tiefgreifende Risiken. Die globalen Verwerfungen werden enorm sein, und die Forderungen, über die wirtschaftliche Kriegsführung hinaus zu einer militärischen Reaktion überzugehen, werden zwangsläufig zunehmen. In der Zwischenzeit werden die Kämpfe weitergehen, was zu massivem Blutvergießen und wahrscheinlich letztendlich zu einer russischen Besetzung führen wird.
Die Diplomatie kann selbst in den schärfsten Konfrontationen funktionieren. Tatsächlich ist die Diplomatie für die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Großmächten im Atomzeitalter unerlässlich. Die Kuba-Krise ist ein typisches Beispiel dafür. Unabhängig davon, ob man diesen Vorfall den USA vorwirft, weil sie 1961 eine Invasion Kubas unterstützten, oder der Sowjetunion, weil sie 1962 dort Atomwaffen stationiert hatte, brachte der Konflikt die Welt an den Rand eines nuklearen Armageddon.
Am Ende wurde die Krise durch Diplomatie und Kompromisse entschärft, nicht durch einen einseitigen Sieg. US-Präsident John F. Kennedy stimmte dem Abzug der US-Raketen aus der Türkei zu und verpflichtete sich, nie wieder in Kuba einzumarschieren, während der sowjetische Premierminister Nikita Chruschtschow dem Abzug der sowjetischen Raketen von der Insel zustimmte. Die Welt hatte Glück. Wie der Historiker Martin Sherwin später aufzeigte, wäre es fast zu einem Atomkrieg zwischen den beiden Mächten gekommen, obwohl Kennedy und Chruschtschow sich bemühten, ihn zu vermeiden.
Als Reaktion auf Putins Krieg setzten die USA und Europa rasch eine beeindruckende Palette wirtschaftlicher Maßnahmen ein, um Russland vom globalen Handel und Finanzwesen abzuschneiden. Dazu gehörten das Einfrieren der russischen Zentralbankreserven und anderer privater Vermögenskonten, die Beschlagnahmung von Jachten, die Unterbindung von Technologieströmen, die Beendigung des Versicherungsschutzes und die Streichung russischer Wertpapiere von der Liste.
Aber solche Sanktionen schrecken selten ab, geschweige denn bringen sie ein rücksichtsloses Regime zu Fall. Die USA haben mit ähnlichen Maßnahmen versucht, den venezolanischen Präsidenten Nicolás Maduro zu stürzen, konnten aber nur die Wirtschaft lahmlegen. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds ist das Pro-Kopf-BIP Venezuelas zwischen 2017 und 2021 um mehr als 60 % gesunken, doch Maduro bleibt an der Macht (und wird nun von den USA umworben, damit Venezuela mehr Öl fördert). Auch die US-Sanktionen haben die Regime im Iran und in Nordkorea nicht gestürzt.
Darüber hinaus werden die Russland-Sanktionen mit der Zeit wahrscheinlich an Wirkung verlieren. Nachdem sie kurzfristig weltweit enormen Schaden angerichtet haben – die Ölpreise sind in die Höhe geschnellt und wichtige Rohstoffversorgungsketten wurden unterbrochen -, werden sie Russland zahllose Arbitragemöglichkeiten eröffnen, um seine wertvollen Rohstoffe an Unternehmen zu verkaufen, die nicht unter die US-Sanktionen fallen. China und andere Länder werden nicht daran interessiert sein, ein Sanktionssystem durchzusetzen, das als nächstes gegen sie selbst angewendet werden könnte. Russland wird also nicht so isoliert sein, wie die USA und Europa zu glauben scheinen. Nach dem anfänglichen Schock der neuen Sanktionen werden sich seine Handelsmöglichkeiten wahrscheinlich vergrößern, nicht verkleinern.
Zusätzlich zu den Wirtschaftssanktionen lassen die USA und Europa auch Waffen in die Ukraine einfließen. Auch hier ist es sehr unwahrscheinlich, dass dies eine russische Besetzung verhindern kann, aber es macht es wahrscheinlicher, dass die Ukraine zu einem weiteren ewigen Schlachtfeld wird, wie Afghanistan, Libyen und Syrien vor ihr. Noch bedrohlicher ist, dass der Zustrom von Waffen in die Ukraine zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen Russland und der NATO führen kann. Während Afghanistan, Libyen und Syrien keine Atomwaffen besaßen, verfügt Russland über fast 6.000, von denen schätzungsweise 1.600 aktiv und im Einsatz sind.
Die Diplomatie könnte durchaus scheitern. Das heißt aber nicht, dass sie nicht einen Versuch wert ist. Wie Kennedy bekanntlich erklärte: “Wir sollten niemals aus Angst verhandeln. Aber lasst uns niemals Angst davor haben, zu verhandeln“. Dieses Gefühl hat die Welt 1962 gerettet, und es könnte die Welt auch jetzt wieder retten.
Russlandbeobachter sind sich uneis über Putins wahre Motive. Viele glauben, dass er vor nichts zurückschrecken wird, um das Russische Reich wiederherzustellen. Wenn dem so ist, dann möge Gott uns helfen. Andere glauben, dass er darauf abzielt, die Demokratie in der Ukraine zu zerstören und ihre Wirtschaft zu ersticken, damit sie nicht zu einem Leuchtturm für das russische Volk werden kann. Wieder andere argumentieren, dass Putins lautstarker Widerstand gegen die NATO-Erweiterung – und gegen die politische Einmischung der USA in der Ukraine (einschließlich ihrer Unterstützung des Aufstands gegen den prorussischen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch im Jahr 2014) – ernst ist.
Es ist an der Zeit, diese Behauptungen zu überprüfen. Was, wenn die ukrainische Neutralität wirklich der Schlüssel zum Frieden ist? Diplomatie ist keine Beschwichtigung, sondern Klugheit, und sie könnte die Ukraine und die Welt vor einer unabwendbaren Katastrophe bewahren.
Quelle: 2022-03-09.– (project-syndicate.org) — Jeffrey Sachs: Diplomacy Remains the Only Option in Ukraine, ins Deutsche übertragen von der Redaktion (wb).
Jeffrey D. Sachs ist Universitätsprofessor an der Columbia University und Direktor des Center for Sustainable Development an der Columbia University sowie Präsident des UN Sustainable Development Solutions Network. Er war Berater von drei UN-Generalsekretären und ist derzeit SDG Verantwortlicher unter Generalsekretär António Guterres. Er schrieb zahlreiche Bücher, u.a. “The End of Poverty”, “Common Wealth”, “The Age of Sustainable Development”, “Building the New American Economy”, “A New Foreign Policy: Beyond American Exceptionalism” und zuletzt “The Ages of Globalization”.