Steven Pifer schrieb im Bulletin of Atomic Scientists am 14. März 2022 u.a.:
Während sich die Vereinigten Staaten und die NATO eindeutig auf die Seite der Ukraine als Opfer einer unprovozierten Invasion Russlands gestellt haben, erklärten US- und NATO-Beamte auch ihren klaren Wunsch, einen direkten militärischen Zusammenstoß mit Russland zu vermeiden. Auch der Kreml will trotz seines Geschwätzes wohl auch einen Krieg mit der Nato vermeiden, zumal rund 70 Prozent seiner Bodentruppen in der Ukraine im Einsatz sind.
Es scheint sich stillschweigend ein Regelwerk zu entwickeln, um die Wahrscheinlichkeit eines NATO-Russland-Konflikts zu verringern — auch wenn die Regeln und roten Linien möglicherweise nicht ganz klar sind.
Erstens haben Präsident Biden, NATO-Generalsekretär Stoltenberg und die Sprecher der NATO-Mitgliedstaaten betont, dass sie das NATO-Territorium verteidigen und dass NATO-Streitkräfte nicht gegen russische Streitkräfte antreten würden, um die Ukraine zu verteidigen. Biden bekräftigte diesen Punkt am 11. März, während er die Aussetzung des Meistbegünstigungsstatus für Russland ankündigte: „Wir werden jeden einzelnen Zentimeter des NATO-Territoriums mit der vollen Kraft einer geeinten und gefestigten NATO verteidigen. Wir werden in der Ukraine keinen Krieg gegen Russland führen. Eine direkte Konfrontation zwischen der NATO und Russland ist der Dritte Weltkrieg, etwas, das wir zu verhindern versuchen müssen.“
Bisher scheint dies eine klare rote Linie zu sein. Das erklärt die Entscheidung der NATO, keine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten – was von der NATO erfordern würde, russische Flugzeuge abzuschießen und bodengestützte russische Luftverteidigungssysteme anzugreifen, nicht nur solche mit russischen Streitkräften in der Ukraine, sondern auch in Weißrussland und vielleicht in Russland selbst. Solche Aktionen würden sehr wahrscheinlich zu einem ausgewachsenen Krieg führen. Wladimir Putin hatte dies am 5. März angedeutet und erklärt, dass die Teilnahme von Drittstaaten an einer Flugverbotszone als „Beteiligung am bewaffneten Konflikt“ angesehen würde.
Zweitens scheint der Austausch von Geheimdienstinformationen der USA und der NATO mit der Ukraine nach den bisherigen Regeln akzeptiert zu werden. Geheimdienstler sammeln Informationen über russische Streitkräfte aus verschiedenen Quellen, einschließlich aus Satellitenbildern und abgefangener Kommunikation, und können diese schnell an das ukrainische Militär weitergeben.
Den Russen gefällt das sicherlich nicht, denn sie wissen nicht genau, was mitgeteilt wird. Bisherhabedn die Russen haben nicht gehandelt, um das Sammeln oder den Informationsfluss an die Ukrainer zu stören. Zum Beispiel haben sie US-, britische und NATO-Flugzeuge, die Geheimdienst- und Luftüberwachungsmissionen das russische Militär in, in der Nähe und über der Ukraine bisher nicht daran gehindert. Allerdings fliegen US-amerikanische und britische Flugzeuge seit Beginn der Invasion nicht mehr im ukrainischen Luftraum und sind bei Flügen über dem Schwarzen Meer vorsichtiger.
Drittens erlauben die Regeln zumindest einige westliche Waffenlieferungen in die Ukraine. In den Wochen vor und kurz nach dem Angriff der russischen Streitkräfte haben die Vereinigten Staaten, NATO-Mitgliedstaaten und andere der Ukraine einen Waffenstrom geliefert, einschließlich tragbarer Flugabwehrraketen und Panzerabwehrraketen wie Stinger und Javelin. Während viele Waffen vor dem 24. Februar direkt in die Ukraine geflogen wurden, gelangen sie nun offenbar über Landwege in die Ukraine.
Genauso wie den Austausch von Geheimdienstinformationen mögen die Russen die Waffenlieferungen nicht, aber sie haben bisher nichts unternommen, um sie zu unterbinden.
Am 12. März bezeichnete jedoch ein stellvertretender russischer Außenminister die Waffenlieferungen als „gefährlich“ und warnte davor, dass die Landkonvois „legitime Ziele“ werden könnten. Vermutlich meinte er, dass Konvois innerhalb der Ukraine angegriffen werden könnten.
Es ist unklar, wie diese Regeln auch auf komplexere Waffen angewendet würde, zum Beispiel beim Vorschlag, polnische Mig-29 an die ukrainische Luftwaffe zu übergeben. Die polnische Regierung wollte die Flugzeuge offenbar nicht direkt an die Ukrainer übergeben, aber Washington fand das polnische Angebot, die Migs über die USA / Ramstein zu übergeben als nicht „haltbar“, u.a. weil die Lieferung der Jets zu eskalierend wirken könnte. Niemand in der NATO glaubte, dass sich die russische “Nachsicht” bei Waffenlieferungen auch auf die Migs erstrecken würde. …