Am 01.Mai 2022 veröffentlichten die Carl Friedrich von Weizsäcker-Gesellschaften ein Memorandum Angesichts des Krieges in der Ukraine und um die Ukraina: Eine Stimme für den Primat der Vernunft — u.a. mit einer Mahnung an die die “Pflicht der Politik”:
Krieg kann und darf Politik nicht ersetzen; die Politik ist in der Pflicht alle Möglichkeiten zu nutzen, den Krieg in der Ukraine und um die Ukraine nicht in einen dritten „Großen Krieg“ entgleiten oder treiben zu lassen…
Quelle: – Arbeitskreis Gemeinsames Haus Europa / C. F. v. Weizsäcker-Gesellschaften Deutschland, Österreich, Schweiz
Über den Hintergrund das Memorandums wurde General a.D. Harald Kujat am 05. Mai 2022 von Volker Resing (Cicero.de) befragt. Wir danken Harald Kujat für die Bereitstellung des Wortlauts seines Interviews.
Interview mit Harald Kujat:
USA, Europa und der Ukraine-Krieg – „Ich halte es für abwegig, von Sieg oder Niederlage zu sprechen“
Für den früheren deutschen General Harald Kujat muss es in der Ukraine dringend einen „Verhandlungsfrieden“ geben, um Leid und Zerstörung zu beenden. Auch die ukrainische Führung habe dies inzwischen erkannt. Gefährlich sei aber ein Strategiewechsel der USA, der auf einen großen Konflikt mit Russland hinauslaufen könnte.
Herr Kujat, in einem Memorandum, das Sie zusammen mit Justus Frantz, Bruno Redeker und Horst Teltschik veröffentlicht haben, fordern Sie die Politik auf, alle Möglichkeiten zu nutzen, um einen dritten „Großen Krieg“ zu verhindern. Was konkret sollte die Bundesregierung tun – und was unterlassen?
Wir appellieren an die Vernunft, das Leiden der Ukrainer und die Zerstörung des Landes zu beenden und die Ausweitung des Krieges in der Ukraine zu einem europäischen Krieg zu verhindern. Die Hauptakteure in diesem Krieg sind nicht die Ukraine und Russland, sondern Russland und die Vereinigten Staaten. Die Vereinigten Staaten haben den Schwerpunkt ihrer Strategie geändert: Center of Gravity ist nicht mehr Schutz und Beistand der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands, sondern Russland als geopolitischen Rivalen nachhaltig zu schwächen. Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin hat Ende April bei einem Besuch in Kiew erklärt, dass die Vereinigten Staaten „Russland so weit geschwächt sehen wollen, dass es die Dinge, die es beim Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr tun kann“. Dieses strategische Umdenken – wenn es denn überhaupt ein solches ist – macht eine Verhandlungslösung noch dringender.
Wie aber bewerten Sie das Handeln der Bundesregierung? Besonders Kanzler Olaf Scholz steht in der Kritik.
Bundeskanzler Scholz hat bisher unter sorgfältiger Berücksichtigung der deutschen Sicherheitsinteressen verantwortungsbewusst gehandelt. Besonnenheit und Verantwortungsbewusstsein als Unentschlossenheit und Führungsschwäche zu bezeichnen, ist ganz und gar unredlich. Der Bundeskanzler hat das Format, die amerikanische Regierung gemeinsam mit Präsident Macron zu einer Verhandlungslösung zu bewegen. So wie Helmut Schmidt gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Giscard d’Estaing und dem britischen Premier James Callaghan Anfang Januar 1979 Präsident Jimmy Carter überzeugte, die europäischen Sicherheitsinteressen bei der Rüstungskontrolle nuklearer Waffensysteme zu respektieren. Was die Bundesregierung in jedem Fall unterlassen sollte, ist jede Form verbaler Aufrüstung! Sie sollte das auch nicht dulden.
Sie fordern, es müsse Gespräche geben und „existenzielles Vertrauen“, aber lässt sich wirklich mit dem russischen Präsidenten noch ernsthaft verhandeln, wo er alle Vereinbarungen gebrochen hat? Und wer sollte Vermittler sein?
Nach dem Ende der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes gab es mehr als ein Jahrzehnt lang eine Phase der politischen Abstimmung und militärischen Zusammenarbeit zwischen Russland und der Nato. Die Schaffung militärischer Transparenz und politischer Berechenbarkeit haben in der Tat zu einem existenziellen Grundvertrauen beigetragen. Es ist hier nicht der Ort, zu erklären, wie und warum dieses beiderseitige Vertrauen verspielt wurde. Jedenfalls lässt es sich nicht ohne weiteres wieder herstellen. Aber es gibt offensichtlich ein Interesse der Vereinigten Staaten und Russlands, zu vermeiden, dass der Ukrainekrieg zum Katalysator einer direkten militärischen Konfrontation der beiden nuklearstrategischen Großmächte wird. Daraus müsste eigentlich die Einsicht erwachsen, dass dies in erster Linie durch Verhandlungen vermieden werden kann.
Wie kann es denn zu dieser von Ihnen favorisierten Verhandlungslösung kommen?
Eine Lösung können nur die beiden Hauptakteure in diesem Krieg finden – Russland und die Vereinigten Staaten. Verbale Entgleisungen sind da wenig hilfreich. Aber Europa könnte sehr wohl seine Sicherheitsinteressen klarer und deutlicher artikulieren, dort, wo es Einfluss hat.
Halten Sie Wladimir Putin für einen Kriegsverbrecher?
In diesem Krieg finden schreckliche Verbrechen statt, Butscha ist dafür ein Beispiel. Derjenige, der für diesen Krieg verantwortlich ist, trägt auch dafür die politische Verantwortung.
Die nukleare Abschreckung, die „Zweitschlagskapazität“, habe bisher einen Weltkrieg verhindert, aber dieses „Gleichgewicht des Schreckens“ sei „hochgradig instabil“, schreiben Sie. Worin besteht die Instabilität, und was muss also passieren?
Ich halte das nuklearstrategische Gleichgewicht zwischen Russland und den Vereinigten Staaten aufgrund der beiderseits gesicherten Zweitschlagsfähigkeit noch für stabil. Allerdings beruht dieses Gleichgewicht auf der Synergie aus offensiven und defensiven Waffensystemen in Verbindung mit stabilisierenden Rüstungskontrollvereinbarungen. Die einseitige Kündigung des ABM-Vertrages 2001 durch die Vereinigten Staaten, während gleichzeitig amerikanische Systeme im Rahmen des Nato-Abwehrsystems gegen ballistische Systeme in Europa stationiert wurden, betrachtet Russland als Veränderung des amerikanisch-russischen Gleichgewichts zu seinen Lasten. Ein weiteres Risiko ist die Entwicklung von Hyperschallwaffen, die die Zweitschlagsfähigkeit beider Staaten schwächen könnten. In grundsätzlicher Weise haben wir das in unserem Memorandum des Arbeitskreises der Weizsäcker-Gesellschaften formuliert.
Ist das nukleare Gleichgewicht so stabil, dass es eine große Eskalation vermeiden kann?
Stabilität zwischen den beiden großen Nuklearmächten bedeutet nicht, dass damit das Risiko eines auf Europa begrenzten Nukleareinsatzes ausgeschaltet ist. Im Gegenteil. Sollte Russland der Überzeugung sein, dass ein Einsatz russischer nuklearer Kurzstreckenraketen keine Reaktion der Vereinigten Staaten mit Interkontinentalraketen gegen Russland auslöst, wäre das Risiko eines nuklearen Ersteinsatzes für Russland begrenzbar.
Deshalb sollte es Anlass zu größter Besorgnis sein, dass der ehemalige Präsidentenberater Jelzins und Putins, Karaganow, kürzlich erklärte: „Ich weiß auch aus der Geschichte der amerikanischen Nuklearstrategie, dass die Vereinigten Staaten Europa wahrscheinlich nicht mit Nuklearwaffen verteidigen werden.“ Es liegt also essentiell im europäischen Interesse, eine Entwicklung des Ukrainekrieges zu verhindern, die uns dieser Gefahr aussetzt.
Ist es richtig, dass Deutschland – angesichts des Grauens in der Ukraine – auch schwere Waffen an die Ukraine liefert?
Deutschland hat vor dem Ukrainekrieg sehr viel für die Ukraine getan und steht dem Land auch jetzt nach besten Kräften bei. Der Begriff „schwere Waffen“ trifft nicht den Kern des Problems. Wir liefern Waffen, die sich für die Verteidigung der Ukraine eignen. Moderne Panzer und Schützenpanzer werden aus guten Gründen auch nicht von den Vereinigten Staaten geliefert. Das hängt damit zusammen, dass der optimale Einsatzwert nur durch eine längere Ausbildung der Besatzungen und des militärischen Führungspersonals erreicht wird.
Nur im Zusammenwirken von Waffensystemen, die die Schwächen eines Systems ausgleichen und Stärken zur Geltung bringen, wird ein sinnvoller Einsatzwert erreicht. Voraussetzung dafür sind moderne Kommunikationssysteme und eine längere gemeinsame Übungsphase, um ein sicheres und effektives Zusammenwirken im Kampf der verbundenen Waffen zu erzielen. Die modernen deutschen Waffensysteme sind bereits in der Entwicklung für den Verbundeinsatz optimiert. Man darf deshalb keine Erwartungen wecken, die weder von uns noch von den ukrainischen Streitkräften erfüllt werden können. Denn das Risiko, dass die Waffen in kurzer Zeit zerstört werden oder in russische Hände fallen, ist groß, insbesondere, wenn die genannten Voraussetzungen nicht gewährleistet sind. Ich gebe auch zu bedenken, dass Maßnahmen, die das Eskalationsrisiko erhöhen und zugleich unsere eigene Verteidigungsfähigkeit schwächen, ganz offensichtlich nicht im Einklang mit unseren nationalen Sicherheitsinteressen sind, sicherlich auch nicht im Interesse Europas.
Letztlich reiht sich Deutschland ein in das westliche Bündnis. Halten Sie die massive Unterstützung der Ukraine durch die USA für falsch?
Ich finde die Unterstützung der Ukraine in ihrem Abwehrkampf richtig. Aber sie darf kein Alibi für mangelnde Verhandlungsbereitschaft sein. Die Verhandlungsmöglichkeiten, die wahrscheinlich den Krieg verhindert hätten, wurden nicht ausgeschöpft. Auch die Chance, die sich aus dem militärischen Patt und durch die Aufgabe der Umklammerung Kiews ergab, wurde nicht für konstruktive Gespräche genutzt. Für falsch und gefährlich halte ich den Strategiewechsel der Vereinigten Staaten, gefährlich für Europa, nicht für die Vereinigten Staaten. Ich will hinsichtlich möglicher Motive nicht spekulieren. Aber der Strategiewechsel der Vereinigten Staaten ist ein großer Schritt hin zu einer Verlängerung und weiteren Eskalation des Krieges.
Wie genau interpretieren Sie den Strategiewechsel?
Es stellt sich für mich die Frage nach der Logik dahinter: Wie weit wollen die Vereinigten Staaten gehen, um Russland nachhaltig zu schwächen? Aus der Erklärung des amerikanischen Verteidigungsministers ist zu schließen, dass der Ukrainekrieg Anlass für eine wesentlich weiter gehende Auseinandersetzung im Rahmen der geopolitischen Rivalität der großen Mächte – USA, Russland und China – ist. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle über die wirtschaftlichen, sicherheitspolitischen und militärischen Konsequenzen für Europa zu sprechen. Was das für die Ukraine bedeutet, ist allerdings offensichtlich.
Sie kennen die Ukraine gut. Ist es möglich, dass die ukrainischen Streitkräfte die russischen Invasoren besiegen?
Der Berater des ukrainischen Präsidenten, Serhij Leschtschenko, hat kürzlich in einem Interview erklärt: „Von einem Sieg der Ukraine zu sprechen, entspricht nicht der Realität.“ Angesichts der enormen Verluste und Zerstörungen, die die Ukraine erlitten hat und weiter erleiden wird, halte ich es auch für abwegig, von Sieg oder Niederlage zu sprechen. Ich glaube, dass beide Seiten Ihre Ziele nicht erreichen können. Ich habe deshalb den Eindruck, dass die ukrainische Führung erkannt hat, wie unausweichlich ein Verhandlungsfrieden ist. Sobald beide Seiten bereit sind, dies anzuerkennen, entsteht eine neue Chance für Verhandlungen.
Welcher Kompromiss wäre für beide Seiten tragbar?
Ein Kompromiss müsste festlegen, welchen Platz die Ukraine in einer künftigen europäischen Sicherheitsarchitektur einnehmen soll. Kompromissfähig wäre wohl eine konsolidierte Neutralität, die wir bereits 2015 in unserer Denkschrift in Anlehnung an Henry Kissinger angeregt haben, eine Regelung, dass die Ukraine weder zu einem Vorposten der Vereinigten Staaten gegen Russland wird, noch umgekehrt. Die ukrainische Regierung hat mehrfach ihre Bereitschaft erklärt, über einen neutralen Status zu verhandeln. Darüber hinaus müsste eine Autonomie für den Donbass vereinbart werden, so, wie es im Minsk-II-Abkommen geregelt ist.
So in etwa hat auch der erwähnte Selenskyj- Berater argumentiert: „Wir sind bereit, die Neutralität mit Garantien – nicht mit Zusicherungen, solche hatten wir im Budapester Memorandum – zu erklären. Wir sind bereit, über einen Sonderstatus für die Krim und für die vor diesem Krieg besetzten Gebiete zu diskutieren. Das bedeutet, dass wir bereit sind, diese Angelegenheit auf diplomatischem Wege zu regeln.“
Die Fragen stellte Volker Resing.
Interview mit HARALD KUJAT – Erstveröffentlichung in Cicero.de am 05.05.2022
Zur Person: Harald Kujat (Jg. 1942) war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des Nato-Militärausschusses sowie Vorsitzender des NATO-Russland-Rates und der NATO-Ukraine-Kommission der Generalstabschefs.
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