Angesichts der sich zur Zeit gefährlich zuspitzenden neuen Ost-West-Konfrontation hat Hans-Jochen Luhmann für uns eine kritische Analyse der Entwicklung seit dem Fall der Mauer verfasst.
Er wertet dabei insbesondere zwei bisher kaum bekannte Dokumentationen aus: des National Security Archive der Georgetown University (“NATO-Ausweitung: Was Gorbatschow zu Hören bekam“) und des “OSCE Network of Think Tanks and Academic Institutions” (“Der Weg zur Charta von Paris – Historische Erzählungen und die Lehren für die OSZE heute”). Beide wurden Anfang Dezember 2017 veröffentlicht und geben tiefe Einblicke in viele bisher geheimgehaltene Dokumente und Handlungen der internationalen Akteure nach dem Fall der Mauer 1989.
Hans-Jochen Luhmann ist Emeritus am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Er ist zudem Mitglied im Vorstand der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW), deren Geschäftsführer er in den späten 1970er Jahren war. Auf Basis eines Studiums der Mathematik und der Ökonomie hat er intensiv über energiewirtschaftliche und sicherheitspolitische Fragen gearbeitet. Wir sind Hans-Jochen Luhmann sehr dankbar für seinen Beitrag für „Neue Entspannungspolitik JETZT!“ sehr dankbar. Der Text steht auch als PDF zur Verfügung.
Hans-Jochen Luhmann, März 2018:
Wann trat die nicht so neue Ost-West-Spaltung tatsächlich ein? – Ergebnisse einer methodischen Suche nach den Wurzeln des Konflikts
1. Das Phänomen
Zum Agieren Russlands im Februar/März 2014 hinsichtlich der Krim und des Donbas hat sich im Westen eine stereotype Sprechweise als Muster, teilweise auch mit der Funktion eines Schibboleth, etabliert. Dazu gehört die rechtliche Bewertung beider Vorgänge: Russland ist für den Westen ein Rechtsbrecher. Der als Rechtsbrecher gebrandmarkte Staat wird in der Kommunikation geschnitten, solange er sein damaliges Tun nicht als Unrecht bekennt und Schritte zur Korrektur und zum Ausgleich unternimmt. Schibboleth-Charakter hat das, sofern ein Bekenntnis-Zwang qua rechtlicher Bewertung besteht.
Gegen diese Sichtweise ist in der Sache nach meinem Urteil wenig einzuwenden: Russland hat offenkundig Recht gebrochen. Und doch gilt: Dieses im Westen übliche Urteil ist nach rechtsstaatlichem Maßstab dubios. Zum Rechtsstaat gehört nämlich die Form, dass nicht eine der streitenden Parteien über die Rechtsförmigkeit des Verhaltens des Gegners urteilt, sondern ein unabhängiger Dritter, das Rechtswesen. Den aber gibt es in diesem Falle nicht – da besteht ein institutioneller Mangel in der unvollständig globalisierten Welt.
Es wird qua Ersatzvornahme das Urteil vom Westen, vom Konfliktpartner, gefällt. Einzuwenden ist, dass die in einem Rechtsspruch erforderliche Abwägung, also das Urteil darüber, aus welchen Gründen der manifeste Rechtsbruch möglicherweise gerechtfertigt ist, nicht gemäß professionellen Maßstäben gefällt wurde – da besteht ein fachlicher Mangel.
Entscheidend ist meiner Meinung nach etwas anderes. Es fragt sich: Ist es wirklich klug, das gesamte Verhältnis des Westens zu Russland unter dieser formal eh problematischen rechtlichen Perspektive zu fassen? Nach allem, was wir über die Bedingungen gelingender Verhältnisse unter Partnern wissen, muss die Antwort lauten: Nein.
Jedenfalls ist es gegenwärtig so, wie es ist. Es herrscht die Strategie des Gesprächsabbruchs. So ist es vom Westen entschieden. „Vom Westen entschieden“ heißt dabei „von den USA entschieden“. Gemäß einer Meldung verschiedener Nachrichtenagenturen, hier in der Fassung des österreichischen „Standard“ bzw. des ZDF, wurde nach der Nato-Sitzung auf Ebene der Außenminister am 5./6. Dezember 2017 berichtet:
„Die USA blockieren regelmäßigere Treffen zwischen Vertretern der Nato und Russlands. “Wir unterstützen Gespräche, wenn es ein Ziel gibt”, sagte US-Außenminister Rex Tillerson am Mittwoch nach Beratungen mit Bündniskollegen in Brüssel. Eine Normalisierung des Dialogs und regelmäßige Treffen mit Russland seien aber nur denkbar, wenn es Fortschritte bei der Lösung des Ukrainekonflikts gebe.
Für einen intensiveren Dialog mit Russland hatte sich innerhalb der Nato zuletzt vor allem Deutschland eingesetzt. Dass die Bemühungen Erfolg haben, erscheint nach den jüngsten Äußerungen Tillersons allerdings unwahrscheinlich. Treffen mit Vertretern Russlands können bei der Nato nur dann angesetzt werden, wenn alle 29 Alliierten zustimmen.“
Aus der Bearbeitung vielfältigster Arten von Konflikten wissen wir, dass die Auflösung eines Konflikts ohne gegenseitiges Verständnis für dessen Ursachen so gut wie unmöglich ist. Dazu hat man aus der Rolle des Urteilens über den Gegner herauszutreten und in die Rolle des Zuhörens zu schlüpfen. Empathie ist gefragt. Das gilt nicht nur für Individuen, das gilt auch für Gruppen, sogar für Groß-Gruppen, d.i. Staaten. Eben deshalb, dieser Einsicht wegen, war der (in Deutschland verbreitete) Ansatz, mit dem Schlagwort „Putin-Versteher“ den Empathie-Ansatz zu diffamieren, so desaströs. Das Ziel, die Verfeindung auf Dauer zu stellen, war von Erfolg gekrönt, wie der Medienkonsum tagtäglich erweist.
Vor diesem Hintergrund ist nach meiner Einschätzung ein neuer Anlauf auf Ebene der OSZE vielversprechend. Empathie ist dort das methodische Schlüsselwort:
„Der Bericht fordert gegenseitige historische Empathie und eine offene … Diskussion divergierender Narrative europäischer Sicherheit seit 1990.“
2. Der Hintergrund
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist die Nachfolge-Organisation der KSZE, der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ – sie wurde 1995 auf Dauer gegründet. Die KSZE ist in Form von Gipfeltreffen (in der Phase des Kalten Kriegs) lediglich zweimal zusammengetreten, jedesmal aber in einem Höhepunkt der Geschichte der Überwindung des Kalten Krieges in Europa. Das eine Mal, von 1973 bis zur Annahme der Schlussakte am 1. August 1975 in Helsinki, wurden die berühmten vier Helsinki-Körbe mit beidseits, blockübergreifend anerkannten Werten sowie ein Prozess der Weiterarbeit beschlossen. Das zweite Mal am 19.-21. November 1990 beim Gipfel der KSZE-Mitgliedstaaten in Paris, wo die „Charta von Paris für ein neues Europa“ verabschiedet wurde. Auch hier wurde, wie weiland 1975, ein Prozess der Weiterarbeit beschlossen – im Gegensatz zum ersten aber wurde der nicht bzw. nur eklektisch realisiert. Blättert man das in Paris angenommene Dokument auch nur durch, insbesondere den Anhang, so ist sonnenklar, dass die beteiligten Mächte sich gegenseitig Etliches versprochen hatten, was in den Jahren danach nicht eingelöst wurde. Dass dadurch, wie immer bei uneingelösten Versprechungen, Enttäuschungen produziert wurden, liegt auf der Hand.
Zum Hintergrund des Berichts ist es zudem gut zu wissen, dass es zur formellen OSZE eine zweite Ebene gibt, darin führend eine Think-Tank Community aus etlichen Mitgliedstaaten der OSZE, das OSCE Network of Think Tanks and Academic Institutions. Der oben angezeigte Bericht wurde im Rahmen dieses Netzwerks erarbeitet, finanziert u.a. von Deutschland und der Schweiz, den Vorsitzländern in 2016 und in 2014, also in zwei Schlüsseljahren nach Ausbruch des Konflikts um die Ukraine und nach dem Manifest-Werden des völlig zerrütteten Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen. Der Projektleiter und führende Autor, Christian Nünlist, ist vom Center for Security Studies, ETH Zürich (CSS).
Der Bericht ist zustande gekommen aufgrund eines Mandats. Der in der Moderation von Konflikten höchst erfahrene Auswärtige Dienst der Schweiz hat seinen OSZE-Vorsitz in 2014 dafür genutzt, eine Gruppe, genannt „Panel of Eminent Persons’ (PEP)“, einzusetzen. Die legte ihren Bericht gegen Ende des Jahres 2015 vor. Gestützt auf eine Anregung in diesem Bericht unternahm das OSCE Think Tanks Network den Versuch, die Debatten während der „formativen“ Periode für die heutige Europäische Sicherheits-Architektur zu rekonstruieren, d.h. vom Fall der Berliner Mauer im November 1989 bis zur Zeichnung der Charta von Paris im November 1990. Eingeladen wurden dazu, als Augenzeugen, zwölf ehemalige Diplomaten im Dienste der OSZE.
Zum Bericht gekommen ist es aber auch aufgrund der Überzeugung, welche die Initiatoren und Autoren leitet,
„dass die Ukraine-Krise nicht nur ein Symptom, sondern auch eine Folge der Entwicklung war, aber nicht die tiefere Ursache für den Rückzug Russlands von der gesamteuropäischen Sicherheitsordnung von 1990.“ (p. 8)
Zudem sahen sie, dass auf offizieller politischer Ebene ein Gespräch, das dieser Diagnose gerecht wird, blockiert wird:
“Obwohl es unter den OSZE-Teilnehmerstaaten derzeit keinen politischen Willen gibt, die historischen Ursachen der heutigen Probleme im Track 1 zu diskutieren, sind wir zuversichtlich, dass Track-2-Initiativen wie die unsere dazu beitragen können, Lehren aus der jüngsten Vergangenheit zu ziehen auf der Grundlage des historisches Wissens von zeitgenössischen Praktikern.” (p. 5)
Es wäre somit irrig zu meinen, die Top-Ebene der Politik wüsste nicht was sie täte im Hinblick auf die Verfeindungstendenzen gegenüber Russland.
3. Das Ergebnis
Das Ergebnis der Untersuchung, der Rekonstruktion, ist selektiv nicht wirklich angemessen zu präsentieren – es lohnt die Lektüre des ganzen Berichts, wenn man eine Anschauung davon erlangen will, was alles an Zusagen nicht eingehalten wurde.
Eines der eindrücklichsten Ergebnisse im Detail ist, dass man abrückt von der Einengung auf die Frage, ob der Führung der Sowjetunion eine Nicht-Ausdehnung der Nato gen Osten wirklich versprochen worden war. Konsensuales Ergebnis ist vielmehr, dass etwas weit Grundsätzlicheres versprochen worden war:
„Zeithistoriker sprechen zunehmend von einem “gebrochenen Geist der kooperativen Sicherheit”. Anstatt sich auf das angebliche “gebrochene Versprechen” einer Nicht-NATO-Erweiterung zu konzentrieren, stimmen westliche Historiker in der Einschätzung überein, dass der Sowjetunion 1990 eine inklusive und kooperative europäische Sicherheitsordnung versprochen wurde. Die europäische Sicherheit in den 1990er Jahren konzentrierte sich jedoch von Anfang an ausschließlich auf die NATO.“
Dort liegt vermutlich der zentrale Grund für die Enttäuschung. Dass dies in Historiker-Kreisen bekannt ist, zeigt der Bericht der Georgetown University zu den einschlägigen deklassifizierten Dokumenten zum Thema „NATO Expansion: What Gorbachev Heard“. Das Resümée der Autoren:
„Unser Argument ist, dass bereits im Verlauf des Jahres 1990 der Geist der Zusammenarbeit und des gemeinsamen Strebens nach umfassender und ungeteilter europäischen Sicherheit ernsthaft bedroht wurde. … Die Frage, ob es tatsächlich eine “Vereinbarung nach dem Ende des Kalten Krieges” gegeben hat, und wenn ja, welche Elemente sie hatte und wann sie erreicht werden sollte, ist Gegenstand von Interpretationen. Dies ist eine der Schlüsseldimensionen des heutigen Konflikts über die Darstellung der Entwicklung der europäischen Sicherheit nach 1990.“
4. Weitergedacht: Offene Fragen an die Entscheidung, die NATO zur Sicherheitsstruktur nach Ende des Kalten Krieges in Europa zu machen
Gekommen ist das alles, so kann man dem im Bericht der Georgetown University bestens kondensiert wiedergegebenen Ergebnis der Fachhistoriker zu dieser geschichtlichen Episode entnehmen, wie folgt:
Der Fall der Berliner Mauer, am 9. November 1989 brachte die strategischen Kalkulationen Gorbatschows durcheinander. Gorbatschow hatte eine ausgezeichnetes Verhältnis zu Reagan, auch zu Margret Thatcher, gesponnen – doch nach der Wahl von George H.W. Bush zum US-Präsidenten geriet der Prozess auf der Ebene der Großmächte ins Stocken: die US-Regierung unter George Bush war dem Gorbatschows Programm gegenüber skeptisch eingestellt und erlaubte sich erst einmal großzügig ein Jahr Pause, angeblich um die Politik gegenüber der Sowjetunion zu evaluieren:
„Nachdem Gorbatschow von 1985 bis 1988 Vertrauen zu Ronald Reagan entwickelt hatte, legte George Bush nach seiner Amtseinführung im Januar 1989 die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen auf Eis. Das Jahr 1989 war somit quasi “verloren”, während die Bush-Regierung intern die US-amerikanische Politik gegenüber der Sowjetunion überprüfte. Während dieser “Bush-Pause” ab Anfang 1989 blieben die meisten Initiativen Gorbatschows zur Rüstungskontrolle unbeantwortet.“
Gegen das Ende dieser „Pause“ brach das zentrale revolutionäre Ereignis auf regionaler Ebene ein: die Frage der deutsch-deutschen Vereinigung und damit etwas Blockgrenzen-Überschreitendes stand urplötzlich auf der Tagesordnung.
“… Gorbatschow spielte auf Zeit und wollte das Tempo der deutschen Vereinigung bremsen. Nach seinem Verständnis musste eine allgemeine Vereinbarung über das Ende des Kalten Krieges in Europa einem Abkommen über Deutschland vorausgehen. In den Jahren 1989 und 1990 wurde diese Sicht ursprünglich auch von Paris und London geteilt.”(p. 17)
In der Sache war Gorbatschow somit der Auffassung, dass zunächst die Sicherheitsstruktur der Nach-Kalte-Krieg-Ära in Europa zu konzipieren sei, erst dann sei die Lösung der deutschen Frage einbettbar und konzipierbar. Für Fragen der Sicherheitsarchitektur in Europa war die KSZE das angemessene Gremium – dessen nächste Sitzung war, auf Außenministerebene, für Frühling 1992 in Helsinki geplant. Gorbatschow regte eine Höherstufung auf die Ebene der Regierungschefs sowie eine Vorverlegung auf Ende 1990 an. Der Westen stimmte dem und damit Gorbatschows konzeptionellen Ansatz zu – so kam es zum Termin für die KSZE-Sitzung zur Verabschiedung der Charta von Paris vom 19. bis 21. November 1990.
Da der Prozess der deutsch-deutschen Vereinigung aber eine so nicht vorhergesehene Dynamik entwickelte, ging Gorbatschows Kalkül nicht auf. Zwischenzeitlich waren, aus Anlass des Prozesses der deutschen-deutschen Vereinigung, die strukturellen Fragen der Ordnung in Europa nach dem Kalten Krieg ad hoc zu entscheiden gewesen.
Für die USA war der Weiterbestand der Nato essentiell, der Kernpfeiler dieser Sicherheitsarchitektur. Veranschaulicht wird das in dem „OSCE Network“-Bericht durch die folgenden Gesprächs-Anekdoten.
„Für Washington war die weitere Präsenz der USA in Europa von entscheidender Bedeutung. Die NATO blieb der entscheidende Anker für die amerikanische Präsenz und ihre Macht vor Ort in Europa. Ende 1989 (und während 1990) vermied es Bush, zu sagen, dass der Kalte Krieg vorbei sei. Auf einer Pressekonferenz in Brüssel erklärte er: “Wenn ich Ihnen signalisiere, dass es keinen Kalten Krieg gibt, dann heißt es “was machst du mit den Truppen in Europa? “Während eines wichtigen Gesprächs mit Kohl in Camp David am 24. Februar 1990, Präsident Bush versicherte dem westdeutschen Kanzler: “Wir haben keine Angst vor den Geistern der Vergangenheit; Margaret hat das”, womit er die Unterstützung der Vereinigten Staaten für die deutsche Einigung trotz der britischen (und französischen) Opposition deutlich machte. In derselben Sitzung unterstrich Bush auch die Priorität der NATO gegenüber der KSZE.“ (p. 17/18)
Präsident Bush’s Verweigerung, das Ende des Kalten Kriegs öffentlich zu akzeptieren, wird durch die Äußerung, an einer Pressekonferenz gemacht, höchst anschaulich unterstrichen. Und doch bleibt hier, und im gesamten Bericht, die Frage unbeantwortet, weshalb für die USA die militärische Präsenz in Europa mit der Nato als Anker als unverzichtbar galt. Der in dieser Passage in diesem Zusammmenhang kolportierte Satz “we don’t fear the ghosts of the past; Margaret does” verstärk das Rätselhafte eher. Der Satz wird von den Autoren des Berichts in seiner Bedeutung als selbstverständlich genommen, er spiele auf die Suprematie-Ambitionen Deutschlands unter preußischer Führung an – Bush wolle sagen, wir glauben an das Ende dieser einstmals deutschen militaristischen (Un-)Kultur; was historisch erstaunlich naiv wäre.
Es gab in 1989/90 eine intensive Diskussion darüber, ob ein vereinigtes Deutschland ohne Restriktionen nicht erneut zu dem führen mag, was in den gut 100 Jahren zuvor schon dreimal eingetreten war. Die zentrale Quelle für die Erinnerung an diese Diskussionen ist der US-Historiker Jeffrey A. Engel mit seinem Aufsatz „Bush, Germany, and the Power of Time: How History Makes History“ aus dem Jahre 2013. Er verweist auf zwei prägnante Zitate.
1.) das Lamento des Herausgebers der New York Times:
“Haben die beiden früheren deutschen Vereinigungen nicht zum Krieg geführt? Gibt es nicht das Grauen in Millionen von Köpfen und Herzen, mit der Angst, dass das Gesicht des Albtraums der Vergangenheit wieder das Gesicht der Zukunft werden könnte? “
Man erkennt, dass da die Gefahr psychologisch, im Volkscharakter, festgemacht wird – da sind Journalisten wohl eher Opfer des in ihrer Profession gepflegten Standard-Narrativs. Dann aber
2.) ein Zitat anderen Kalibers im historischen Zugriff: Der damalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse nutzte eine Sitzung im Nato-Hauptquartier Ende des Jahres 1989, also der Militärallianz zur Abwehr einer Aggression seitens der Sowjetunion, die Frage zu stellen, ob die Nato in Wahrheit in Zukunft nicht weit mehr eines ihrer Mitglieder zu fürchten habe:
“Wo sind die politischen, rechtlichen und materiellen Garantien, dass die deutsche Einheit auf lange Sicht keine Bedrohung für die nationale Sicherheit anderer Staaten und für den Frieden in Europa werden kann? Die Geschichte selbst,” warnte er vor einem künftigen Deutschland, frei von ausländischen Zwängen, „verlangt eine erhöhte Umsicht Europas.“ (p. 641)
Den einzigen Sinn, den ich im Insistieren auf der Nato als „Sicherheitsarchitektur“ zu sehen vermag, ist ebenfalls motiviert aus den „ghosts of the past“. Die Pointe des 20. Jahrhunderts ist doch, dass die Nationalstaaten Europas zweimal kriegerisch übereinander herfielen, weil sie ihre internen Machtkonkurrrenzen nicht anders in den Griff bekamen. Die Funktion der Nato ist die der Klammer, welche einen ja weiterhin jederzeit möglichen Rückfall in diese Konstellation verunmöglicht – siehe die Balkan-Kriege in den 1990er Jahren als Vorgang in nuce, als Modell dessen, was in Europa auch im Großen weiterhin möglich ist. In diesem Sinne, und nach meiner Vorstellungskraft nur in diesem Sinne, ist die Nato weiterhin „Sicherheitsgarant“ in Europa, auch wenn ihr der manifeste äußere Feind abhanden gekommen war. Diese Einsicht aber ist für die Nationalstaaten in Europa so schambesetzt, dass es nirgends formuliert wird. Auch nicht in der exquisiten Studie, von der hier berichtet wird.
Trotz des Beharrens auf der Nato sagten (auch) die USA aber inklusive Formen der Sicherheitsgewährleistung in Europa zu.
Nimmt man diese beiden Positionierungen, Nato und Inklusivität, zusammen ernst, so ergeben sich zwei Fragen bzw. Problemkreise. Sie werden in der vorliegenden Studie nicht behandelt, nicht einmal als Frage erkannt:
- Was ist das Motiv, dass die USA auf der Nato bestehen, obwohl kein rechter äußerer Feind für die Mitgliedstaaten des „Verteidigungsbündnis Nato“ mehr in Sicht ist?
- Wenn denn die Entscheidung für die Nato feststand, dann implizerte die zugesagte inklusive Form der Sicherheitsarchitektur in Europa die Aufnahme der Sowjetunion (bzw. später Russlands) in die Nato. Die historisch-rückblickende Frage an den Westen ist: Weshalb war das für ihn undenkbar?
Mit Bezug auf die zweite offene Frage wird in dem Bericht immerhin etwas angedeutet. Diese Art Antwort soll hier abschließend unkommentiert zitiert sein:
“Als wir uns am 24. Februar 1990 in Camp David trafen, um die westlichen Bedingungen für eine deutsche Wiedervereinigung zu diskutieren, entschieden sich Bush und Kohl … für die volle deutsche Mitgliedschaft in der NATO. Bush behandelte Gorbatschow nicht als (künftigen) Partner, sondern als (geschlagenen) Feind. In Bezug auf die sowjetische Position gegenüber Deutschland in der NATO sagte er: “Zur Hölle damit. Wir haben uns durchgesetzt, nicht sie. Wir können nicht zulassen, dass die Sowjets einen Sieg aus den Klauen der Niederlage herausholen.” (p. 19/20)
Zur Vorbereitung dieses Treffens in Camp David hatte der US-Sicherheitsberater Brent Scowcroft einen Vermerk angefertigt über die Bedeutung der anstehenden Entscheidung für die zukünftigen Beziehungen zwischen den USA und der Sowjetunion:
“Wir stehen kurz vor dem Eintritt in die kritischste Phase der amerikanischen Diplomatie gegenüber Europa seit der Gründung der NATO im Jahr 1949”, riet er. “Indem die Vereinigung immer mehr ‚westlich’ erscheint, betont er, würde dies’einen wahrscheinlichen Kollisionskurs mit den Sowjets’ zur Folge haben“. (p. 20)
So ist es gekommen. Man hat in Scowcrofts Satz lediglich „Sowjets“ durch „Russen“ zu ersetzen; und zu bedenken, dass, militärisch gesehen, der Kollisionskurs Europa ganz anders zu treffen vermag als die fernen USA. Für die USA geht es um Raketen, für Europa um konventionelle Landstreitkräfte.
Weitere Informationen:
Erklärung zum 08. Mai 2017: Neuen Kalten Krieg durch neue Entspannungspolitik verhindern!