Hans Dahlgren, bis Oktober 2022 Schwedens Minister für EU Angelegenheiten, war seit 1977 Mitarbeiter und außenpolitischer Berater von Olof Palme und arbeitete mit Egon Bahr eng zusammen bei der Gestaltung des 1982 der UNO übergebenen Berichts der Palme-Kommission „Gemeinsame Sicherheit – ein Programm für die Abrüstung – Bericht der unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheitsfragen. Seine Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit Egon Bahr und auch Schlussfolgerungen für die Lösung von Krisen und Konflikten heute beschreibt Hans Dahlgren in seinem Beitrag zum Buch »… aber eine Chance haben wir«:
Egon Bahr und die Idee der Gemeinsamen Sicherheit
Im September 1980 traf sich in der österreichischen Hauptstadt im Vienna Hilton eine ausgewählte Gruppe von hochrangigen Staats- und Regierungschefs aus allen Teilen der Welt, um über Friedens- und Abrüstungspolitik zu debattieren. Mit dem Treffen in Wien, das schon seit längerer Zeit vorbereitet worden war, begann die Arbeit der Kommission für Abrüstung und Sicherheit. Das Treffen bildete den Auftakt zu einer neuen mutigen Initiative; es fand zu einem Zeitpunkt statt, als der Kalte Krieg seinen langen dunklen Schatten auf die internationalen Beziehungen warf.
Die Zusammenkunft hatte Olof Palme vorgeschlagen, der ehemalige schwedische Premierminister, dessen Regierung 1976 die Wahlen knapp verloren hatte und der jetzt Oppositionsführer im schwedischen Parlament war. Er war auch mein Chef, für den ich seit vier Jahren als Pressesprecher arbeitete.
Genau genommen kam die Idee von Willy Brandt, dem Parteivorsitzenden der SPD. Seit 1978 war Brandt Vorsitzender der Unabhängigen Kommission für internationale Entwicklungsfragen (Nord-Süd-Kommission).
Olof Palme war Mitglied dieser Kommission. Als deren Arbeit abgeschlossen war, machte Brandt Palme den Vorschlag, an globalen politischen Themen weiterzuarbeiten und die gemeinsame Arbeit fortzusetzen und abzuschließen.
Die Idee war, sich auf Sicherheits- und Abrüstungsmaßnahmen zu konzentrieren, die in den 1980er-Jahren und darüber hinaus zum Frieden beitragen könnten. Dazu gehörte auch der Versuch, Ziele für Abrüstung und Rüstungskontrolle herauszuarbeiten, die nicht nur wünschenswert, sondern auch politisch durchsetzbar waren. Das alles sollte eingebettet werden in einen umfassenden Rahmen zur Gewährleistung von nationaler und internationaler Sicherheit.
Olof Palme entschied sich, den Vorschlag von Willy Brandt anzunehmen. Er hatte 1979 seine Wiederwahl für das Amt des schwedischen Ministerpräsidenten mit einem knappen Wahlergebnis (ihm fehlten 4.202 Stimmen) verpasst, was ihm die Übernahme dieser Aufgabe offenbar erleichterte.
Aber aus einer anderen Perspektive war der Zeitpunkt für die Aufnahme der Kommissionsarbeit schwierig: 1980 sank die Temperatur des Kalten Krieges auf einen eisigen Tiefpunkt. Leonid Breschnew regierte noch immer die Sowjetunion. Im Herbst sollte Ronald Reagan Jimmy Carter als Präsident der Vereinigten Staaten ablösen. Die USA waren nach der Besetzung der amerikanischen Botschaft in Teheran in eine erniedrigende Geiselnahme verwickelt, während die Sowjetunion einen neuen Krieg in Afghanistan führte. 1980 wurde auch das Wettrüsten kostspieliger und gefährlicher. Das SIPRI-Jahrbuch verzeichnete die weltweit höchsten Militärausgaben – erstmals mehr als 500 Milliarden US-Dollar im Jahr. Der US-Senat weigerte sich, das SALT-II-Abkommen zu ratifizieren. Die Weltuntergangsuhr des Bulletin of the Atomic Scientists rückte auf sieben Minuten vor zwölf vor.
So gefährlich war die Lage, als sich der von Olof Palme ausgewählte Kreis im September 1980 in Wien traf. Durch seine vielen internationalen Kontakte war es ihm gelungen herausragende Politiker zu überzeugen, in der Unabhängigen Kommission für Abrüstungs- und Sicherheitsfragen mitzuarbeiten. Sie wurde bald danach bekannt als die Palme-Kommission.
Jedes Mitglied agierte in freier persönlicher Verantwortung. Die Gruppe umfasste Männer und Frauen mit enormer Erfahrung in der Regierungsarbeit, den ehemaligen US-amerikanischen Außenminister Cyrus Vance, den früheren britischen Außenminister David Owen, den ehemaligen nigerianischen Präsidenten Olusegun Obasanjo und den ehemaligen niederländischen Premierminister Joop den Uyl; es beteiligten sich auch der Friedensnobelpreisträger Alfonso Garcia Robles, die spätere norwegische Premierministerin Gro Harlem Brundtland und Salim Salim, damals Außenminister von Tansania. Besonders hervorzuheben sind der sowjetische Politologe Yuri Arbatov und Józef Cyrankiewicz, ehemaliger Ministerpräsident Polens. Andere Mitglieder der Kommission waren weniger bekannt, leisteten aber dennoch bedeutende Beiträge. Jemand war dabei, der das Denken von Olof Palme und der Kommission mehr beeinflusste als jeder andere: Egon Bahr aus Deutschland. Bahr war viele Jahre der engste Mitarbeiter von Willy Brandt gewesen. Die beiden waren die Architekten der Ostpolitik der 1960er- und 1970er-Jahre. Nachdem Brandt Kanzler geworden war, war sein Besuch beim DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph 1970 in Erfurt eines der ersten Beispiele für die neue Herangehensweise an die Beziehungen zwischen Ost und West.
Genau einen solchen kreativen Denker brauchte Olof Palme an seiner Seite, um nach Wegen zu suchen, die enormen Herausforderungen des Kalten Krieges zu bewältigen. Nach der Wiener Herbsttagung 1980 traf sich die Palme-Kommission bis zum Frühjahr 1982 Dutzende Male. Sie wurde sowohl nach Moskau wie auch nach New York eingeladen, ihre Mitglieder reisten nach Mexiko und Hiroshima und schließlich zur Abschlusssitzung in Stockholm.
Die Kommission hatte in Wien ein winziges Sekretariat unter Leitung von Anders Ferm, der mit Palme während seiner Amtszeit als Premierminister eng zusammengearbeitet hatte. Die meisten wesentlichen Vorbereitungen leisteten externe Experten, die Papiere verfassten oder zu Diskussionen mit den Mitgliedern der Kommission eingeladen wurden. Von allen 42 Hintergrundpapieren stammt aus meiner Sicht der wichtigste Text von Egon Bahr. Er trug den Titel »Gemeinsame Sicherheit«, der später auch als Überschrift für den Abschlussbericht der Kommission diente. Es besteht kein Zweifel, dass Bahrs Beitrag von historischer Bedeutung war, wie Olof Palme selbst in seiner Einleitung des Berichts den zentralen Stellenwert der gemeinsamen Sicherheit herausgearbeitet hatte:
»Wir sind uns völlig einig darin, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann. Ein totaler Krieg unter Einsatz von Kernwaffen würde Zerstörungen in bisher noch nie da gewesenem Ausmaß verursachen und vielleicht die Auslöschung des gesamten Menschengeschlechts bedeuten. Ein sogenannter begrenzter Atomkrieg würde sich fast unausweichlich zu einer weltumspannenden Katastrophe ausweiten. Die verschiedenen Doktrinen über die Führung eines Atomkrieges stellen daher eine ernst zu nehmende Bedrohung der Menschheit dar. Die Abschreckungsdoktrin bietet in der Tat einen sehr schwachen Schutz gegen die Schrecken eines Atomkriegs.
Es ist folglich von allergrößter Bedeutung, daß an die Stelle der Doktrin von der gegenseitigen Abschreckung etwas anderes tritt. Unsere Alternative lautet: gemeinsame Sicherheit. In einem Atom- krieg besteht keinerlei Aussicht auf einen Sieg, beide Seiten würden gleichermaßen von Leid und Zerstörung betroffen. Sie können nur gemeinsam überleben. Beide Seiten müssen Sicherheit erlangen nicht vor dem Gegner, sondern gemeinsam mit ihm. Internationale Sicherheit muss von der Verpflichtung zu gemeinsamem Überleben getragen sein, nicht von der Androhung gegenseitiger Vernichtung. Auf der Grundlage dieser Strategie gemeinsamer Sicherheit er- örtern wir praktische Vorschläge, wie Rüstungsbegrenzungen und Abrüstung zu erreichen seien. Das langfristige Ziel der Friedens- bemühungen muss eine allgemeine und vollständige Abrüstung sein. Doch sah es die Kommission als ihre Aufgabe an, allmähliche Fortschritte in dieser Richtung anzustreben, das Wettrüsten unter Kontrolle zu bringen und eine rückläufige Tendenz einzuleiten. Wir schlagen keine einseitige Aktion irgendeines Landes vor. Wir erkennen klar und deutlich, dass eine ausgewogene, durch Verhandlungen zustande gekommene Rüstungsbeschränkung dringend geboten ist.«
Der Palme-Bericht, Bericht der Unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheit, »Common Security«, Berlin 1982, S. 12
Zu den konkreten Vorschlägen der Kommission gehörten eine nuklearwaffenfreie Zone zunächst in Mitteleuropa sowie eine chemiewaffenfreie Zone in ganz Europa. Diese und andere Ideen wurden von Olof Palme weiterentwickelt, als er einige Monate später – im Oktober 1982 – erneut schwedischer Premierminister wurde. Erneut suchte Palme den Rat von Egon Bahr, wie man am besten vorgehen sollte, um aus den gemeinsamen Ideen praktische Politik zu machen. Leider führte dies in Schweden zu einer feindseligen innenpolitischen Auseinandersetzung, in der Palme von der konservativen Opposition beschuldigt wurde, ausländische Einflussnahme auf die schwedische Außenpolitik zu akzeptieren.
Wie immer die einzelnen Vorschläge zu bewerten sind, auf jeden Fall wurde die Idee der Gemeinsamen Sicherheit zu einem grund- legenden Eckpfeiler in der Debatte über die internationalen Bezie- hungen – insbesondere als sich der Kalte Krieg dem Ende näherte.
Leider konnte Olof Palme das nicht mehr persönlich erleben. 1986, drei Jahre vor dem Fall der Berliner Mauer, wurde er von einem Attentäter im Zentrum von Stockholm ermordet.
Aber Palmes und Bahrs Ideen hatten überlebt. Michail Gorbatschow nahm explizit Bezug auf ihre Überlegungen, als er über Palme nach seiner Ermordung 1986 sprach. Und Präsident Reagan äußerte sich nach seinem historischen Treffen mit dem sowjetischen Führer in Reykjavik im selben Jahr in ähnlichen Worten.
Heute wünsche ich mir, dass sich mehr Führungspersonen auf der ganzen Welt die Zeit nehmen, die Ideen von Palme und Bahr zu lesen und über ihre Anwendung nachzudenken, selbst wenn sie vor vierzig Jahren entwickelt wurden.
Wir leben heute in einer Welt mit mehr Fingern am nuklearen Abzug als je zuvor. Ein Krieg mit Atomwaffen kann nicht mehr ausgeschlossen werden, zumal viele Atomwaffenstaaten dabei sind, ihre Atombombenarsenale zu »modernisieren«. Und das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit lässt sich auch auf die andere existenzielle Bedrohung anwenden, mit der wir alle heute konfrontiert sind – auf die Klimakrise. Wie Greta Thunberg und andere uns so deutlich erklärt haben: Wir sind gemeinsam betroffen und müssen das Blatt wenden, bevor es zu spät ist. Das Überleben unseres Planeten hängt davon ab, was wir jetzt – gemeinsam – tun. Deshalb ist auch das eine Frage der Gemeinsamen Sicherheit.
Für mich als junger Mann war es zu Beginn meines Berufslebens ein Privileg, mit Männern wie Olof Palme und Egon Bahr zusammenzuarbeiten. Allein mit ihnen im selben Raum zu sein – im Hotel in Wien oder in einem Besprechungsraum in Hiroshima – und ihren Diskussionen und Analysen, ihren Ängsten und Träumen zu lauschen, das war eine Erfahrung, die ich nie vergessen werde.
Hans Dahlgren