Wird Moskau nach der Ukraine ‘nach Polen weiterziehen’, wie Biden sagt? – Nicht ganz…
sagt George Beebe (Direktor für Grand Strategy beim Quincy Institute. ehemals Chef für Russland-Analysen der CIA und Berater von Vizepräsident Cheney für Russlandfragen).
Beebe begründet seine Einschätzung Mitte Juli 2024 in einem Beitrag für die außenpolitische Website Responsible Statecraft. Hier seine in Absprache mit ihm ins Deutsche übertragene Analyse – auch als Anregung für die deutsche Diskussion.
Die Absichten eines potenziellen Gegners zu verstehen, ist eine der wichtigsten und zugleich schwierigsten Herausforderungen für jeden Staatsmann.
Die Unterschätzung der aggressiven Absichten eines Staates kann dazu beitragen, die vernünftigen Verteidigungsaufgaben zu vernachlässigen, die zur Abschreckung eines Krieges notwendig sind, wie es im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs geschah.
Die Überschätzung der Bedrohung kann zu einem Teufelskreis von immer bedrohlicheren militärischen Maßnahmen führen, der im Konflikt mündet, den keine der beiden Seiten angestrebt hat, wie es im Vorfeld des Ersten Weltkriegs geschah.
Die Überschätzung der Bedrohung kann zu einem Teufelskreis von immer bedrohlicheren militärischen Maßnahmen führen, der im Konflikt mündet, den keine der beiden Seiten angestrebt hat, wie es im Vorfeld des Ersten Weltkriegs geschah.
Daher kommt es entscheidend darauf an, den goldenen Mittelweg zwischen diesen beiden Polen zu finden, um realistisch einzuschätzen, welche Absichten Russlands gegenüber der NATO hat, die gerade mit einem Gipfeltreffen in Washington ihr 75-jähriges Bestehen feierte.
Das richtige Gleichgewicht von Abschreckung und Diplomatie zu finden, ist angesichts des massiven russischen Atomwaffenarsenals ganz entscheidend, weil ein direkter Konflikt zwischen Russland und der NATO potenziell bis zur Vernichtung beider Seiten eskalieren könnte.
Für die Rhetorik der NATO scheint eine solche Abwägung überhaupt nicht erforderlich zu sein:
Die Herausforderung durch Russland wird als eine moderne Art der Wiederholung der Aggression Nazi-Deutschlands betrachtet, und die größte Gefahr für das Bündnis wären Beschwichtigungsversuche, die zu weiteren russischen Eroberungen ermuntern.
Dem entspricht auch die Aussage von Präsident Biden, das russische Militär werde “nach Polen und an andere Orte weiterziehen, wenn es nicht in der Ukraine entschlossen gestoppt wird”.
Hat Russland tatsächlich militärische Eroberungsabsichten gegen NATO-Mitgliedstaaten?
Angesichts der Vorsicht, mit der Putin im Ukraine-Krieg bisher direkte Angriffe auf NATO-Mitglieder vermieden hat, lautet die Antwort: wahrscheinlich nein. Und es gibt einen sehr einleuchtenden Grund für diese Zurückhaltung.
Wie meine Kollegen Anatol Lieven und Mark Episkopos und ich im neuen Quincy Brief 60 „Right-Sizing the Russian Threat to Europe“ ausführlich darlegen, muss man nicht sehr tief über das konventionelle militärische Gleichgewicht zwischen Russland und der NATO forschen, um zu erkennen, dass das russische Militär in einem Krieg mit der NATO deutlich unterlegen wäre und es daher guten Grund zu der Annahme gäbe, dass ein Angriff auf ein einzelnes NATO-Mitglied sehr schnell zum bewaffneten Konflikt mit dem Bündnis als Ganzem führen würde.
Wie in dem Quincy-Briefing erläutert wird, “ist die NATO gegenüber Russland bei den aktiven Bodentruppen im Verhältnis von mehr als drei zu eins überlegen. … Das Bündnis hat einen Vorsprung von zehn zu eins bei den Militärflugzeugen und auch einen großen qualitativen Vorsprung, so dass die Möglichkeit einer totalen Luftüberlegenheit besteht.
Auf See wäre die NATO wahrscheinlich imstande, eine Seeblockade gegen den russischen Schiffsverkehr zu verhängen, deren Kosten für Russland die derzeitigen Wirtschaftssanktionen weit in den Schatten stellen würden.
Zwar ist Russland einzelnen NATO-Staaten, insbesondere im Baltikum, eindeutig überlegen, doch ist es extrem unwahrscheinlich, dass es diesen Vorteil nutzen könnte, ohne einen umfassenderen Krieg mit dem gesamten NATO-Bündnis auszulösen.”
Diese Einschätzung beruht auf mehr als einem einfachen Vergleich der Kampfstrukturen zwischen russischen und westlichen Streitkräften.
In der realen militärischen Auseinandersetzung hatten die Russen große Mühe, im Kampf gegen das weit weniger starke ukrainische Militär, und das unter für die russischen Streitkräfte weit günstigeren Bedingungen, als sie sie in einem Krieg mit der NATO hätten: mit längeren Versorgungswegen, wenigeru Erfahrung mit Gelände und den örtlichen Gegebenheiten und einem deutlichen Nachteil in der Militärtechnologie, insbesondere bei den Luft- und Seestreitkräften.
Die Annahme, dass Russland einen Krieg mit der NATO beginnen würde, obwohl es kaum die Fähigkeit gezeigt hat, den Großteil des ukrainischen Territoriums zu erobern, geschweige denn zu besetzen und zu regieren, bedeutet in der Konsequenz, dem Kreml ein Maß an Irrationalität zu unterstellen, das weit über das hinausgeht, was er bisher gezeigt hat.
Diese Analyse betrifft im wesentlichen auch die russischen Rhetorik.
Moskau hat wiederholt bestritten, es habe Pläne, NATO-Territorium anzugreifen; es habe auch keinen irgendwie denkbaren Grund dafür — ganz im Gegensatz zur Ukraine, die Russland seit langem als zentral für die russische Geschichte und Kultur betrachtet und in der es seit langem die Möglichkeit der militärischen Präsenz der NATO befürchtet.
“Russland hat keinen Grund, kein Interesse – kein geopolitisches Interesse, weder wirtschaftlich, politisch noch militärisch – mit NATO-Ländern zu kämpfen“, sagte Putin Ende 2023. “Eure Aussagen über unsere angebliche Absicht, Europa nach der Ukraine anzugreifen, sind blanker Unsinn“, behauptete er Anfang 2024.
Die Einschätzung, dass Russland wahrscheinlich weder einen Grund noch die Fähigkeit hat, in einen NATO-Staat einzumarschieren, bedeutet jedoch keinesfalls, dass die Gefahr eines Krieges zwischen Russland und dem Westen gering ist. Im Gegenteil:
Russlands konventionelle militärische Unterlegenheit trägt offenbar dazu bei, dass es sich stärker auf sein Nukleararsenal verlässt, um der wahrgenommenen Bedrohung durch die NATO zu begegnen, wodurch die Sicherheit des Kontinents zum ersten Mal seit Inkrafttreten des Vertrags über nukleare Mittelstreckenwaffen Mitte der 80er Jahre wieder auf der Kippe steht.
Darüber hinaus gibt es in Europa eine Reihe von potenziellen Kriegsschauplätzen, an denen eine neue Krise zwischen Russland und dem Westen ausbrechen könnte, darunter Belarus, die Republik Moldau, der Balkan, Georgien und Kaliningrad.
Die mächtige militärische Abschreckung der NATO kann Europa nur dann Stabilität bringen, wenn sie mit ernsthaften diplomatischen Anstrengungen einhergeht, um eine für beide Seiten annehmbare Lösung in der Ukraine zu finden und Regeln zu vereinbaren, die dazu beitragen, neue Krisen zu vermeiden oder zu bewältigen und zu verhindern, dass Spannungen zwischen Russland und der NATO außer Kontrolle geraten.
Andernfalls steuern wir weder auf eine stabile Teilung Europas noch auf eine vorsätzliche russische Invasion in einen NATO-Staat zu – sondern auf eine neue Zeit prekärer europäischer Instabilität, wie wir in unserem Bericht darlegen:
“Eine renuklearisierte und unberechenbare hybride Konfrontation zwischen einem Westen, der weniger geeint und selbstbewusst ist, als es den Anschein hat, und einem Russland, das seine Interessen in dieser Konfrontation als existenziell gefährdet sieht und daher Anreize haben wird, die internen Schwachstellen des Westens auszunutzen und zu verschärfen“.
Um eine solche Entwicklung zu vermeiden, sollten sich die Staats- und Regierungschefs der NATO weniger Gedanken darüber machen, ob sie die Fehler von Neville Chamberlain wiederholen, sondern vielmehr darüber nachdenken, warum die europäischen Staats- und Regierungschefs einst 1914 schlafwandlerisch in den Ersten Weltkrieg hineingezogen wurden.
George Beebe
Zur Person: George Beebe ist Direktor des Grand Strategy Programms am Quincy Institute. Er arbeitete mehr als zwei Jahrzehnte in der Regierung der USA als Geheimdienstanalyst, Diplomat und politischer Berater, u.a. als Leiter der Russland-Analysen der CIA und als Berater von Vizepräsident Cheney in Russlandfragen. Er ist der Autor des Buches “The Russia Trap: How Our Shadow War with Russia Could Spiral into Nuclear Catastrophe” (2019).
Quelle: 2024-07-11.— Quincy Institute, Responsible Statecraft — George Beebe: We need a rational discussion about the Russian threat – Is Moscow about to ‘move on to Poland’ after Ukraine like Biden says? Not exactly.
Weitere Info des Quincy Instituts:
2024-09-24.— Anatol Lieven: Germans uneasy about stationing new US missiles
2024-07-08.– Quincy Brief #60: Right-Sizing the Russian Threat to Europe, by George Beebe, Mark Episkopos and Anatol Lieven, July 8, 2024 /
2024-02-26.– Quincy Paper 13 — George Beebe und Anatol Lieven: Der diplomatische Weg zu einer sicheren Ukraine —