Kriegsende durch Diplomatie für das Bestehen der Ukraine und ihren Wiederaufbau zu sichern – das muss Hauptaufgabe der internationalen Politik sein. Zu diesem Ergebnis kommt Harald Kujat nach Auswertung der Debatten der letzten Wochen in Deutschland und den USA.
Dabei stieß er auch auf Präsident Bidens Leitartikel für die New York Times am 31. Mai unter dem Titel “Was Amerika in der Ukraine tun und was es unterlassen wird“, der zwar Ankündigung von massiven Waffenlieferungen enthielt, aber argumentativ eine Korrektur der seit Ende April propagierten militärischen “Siegstrategie” andeutete: “Wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij gesagt hat, wird dieser Krieg letztlich ‘nur durch Diplomatie endgültig beendet werden.’ ” Kujat sieht darin eine “Abkehr von der eindimensionalen Strategie, den Krieg ‘auf dem Schlachtfeld’ zu entscheiden” und keine Unterstützung derjenigen in Deutschland, die immer noch lautstark eine “Sieg-im-Krieg”-Politik propagieren. Wir danken Harald Kujat, dass er uns seinen Diskussionsbeitrag zur Verfügung gestellt hat, der demnächst auch im “Hauptstadtbrief” erscheinen soll.
Kriegsende durch Diplomatie für das Bestehen der Ukraine und ihren Wiederaufbau sichern – das sollte eigentlich Aufgabe der Politik sein. Aber…
…während der Ukrainekrieg nun schon fast vier Monate dauert und die Verluste an Menschen sowie die Zerstörung des Landes immer größere Ausmaße annehmen, wird in Deutschland – auch zur parteipolitischen Profilierung – über die Lieferung „schwerer Waffen“ gestritten. Diese Waffen sollen nicht nur der Verteidigung, sondern auch dem Sieg über Russland dienen. Der Bundeskanzler wird kategorisch aufgefordert zu erklären, dass die Ukraine siegen beziehungsweise gewinnen muss. Eine Aussage, die ohne Präzisierung was diesen Sieg ausmacht, zu dem deutsche Waffen beitragen sollen, keinen Sinn ergibt. Er hat jedoch wiederholt erklärt: „Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen. Die Ukraine muss bestehen.“ Das reicht seinen Kritikern nicht, obwohl er damit möglicherweise gar nicht so falsch liegt.
Auch in der Diskussion über die Lieferung „schwerer Waffen“ ist der Bundeskanzler maßloser Kritik und Beschuldigungen in einem bisher nicht bekannten Ausmaß ausgesetzt. Der nicht eindeutig definierte Begriff „schwere Waffen“ eignet sich vorzüglich für politische Kontroversen. Für die Entscheidung, welche Waffen der Ukraine für die Verteidigung geliefert werden sollten – vorausgesetzt, die nationalen Sicherheitsinteressen werden berücksichtigt und die Bundeswehr wird nicht noch weiter entwaffnet – ist er allerdings ungeeignet.
Ein wichtiges Kriterium ist der Einsatzwert eines Waffensystems für die spezifische Form der Operationsführung der ukrainischen Streitkräfte. Ein hoher Einsatzwert wird durch das funktionale Zusammenwirken verschiedener Waffensysteme erzielt, indem die Schwächen des einen durch die Stärken eines anderen Systems synergetisch ausgeglichen werden – Interoperabilität, ein modernes Führungs- Informationssystem sowie in Übungen ausgebildete Besatzungen und militärische Führer vorausgesetzt. Bei einem geringen Einsatzwert ist damit zu rechnen, dass das Waffensystem in kurzer Zeit zerstört wird oder in russische Hände fällt. Deshalb werden keine modernen westlichen Schützenpanzer (Infantry Fighting Vehicle/IFV) und Kampfpanzer (Main Battle Tank/MBT) von NATO-Staaten geliefert, auch um Russland keinen Zugang zu westlichen Technologien beziehungsweise Kenntnisse der Stärken und Schwächen dieser Systeme zu verschaffen.
Um einen militärischen Sieg zu erringen ist es nicht erforderlich, ein Land vollständig zu besetzen und zu beherrschen. Die russischen Streitkräfte gehen unter Einsatz ihrer überlegenen Kampfkraft systematisch und mit einer klaren operativen Zielsetzung vor. Die ukrainischen Streitkräfte verteidigen sich weiter taktisch geschickt in den Städten, mit der Folge zunehmender Verluste und Zerstörungen. Die russischen Geländegewinne werden dadurch verzögert. Aber mit der Einnahme des Donbass, weitgehend in den Grenzen der ehemaligen Verwaltungsbezirke Luhansk und Donezk sowie der andauernden Zerstörung der ukrainischen Versorgungseinrichtungen und Verbindungslinien erreicht Russland einen strategischen Kulminationspunkt. Russland könnte dann die begrenzte „militärische Sonderoperation“ als erfolgreich beendet erklären. Ein Waffenstillstand, nicht zuletzt aufgrund der Erschöpfung beider Seiten, wäre eine logische Folge.
Es liegt auf der Hand, dass dies auch ein geeigneter Zeitpunkt für Verhandlungen über die Beendigung des Krieges ist. Vorausgesetzt, beide Seiten sind bereit, für einen Verhandlungsfrieden Kompromisse einzugehen und zumindest einen Teil der politischen Ziele aufzugeben, die zu diesem Krieg geführt haben. Die Alternative wäre ein jahrelanger Abnutzungskrieg mit dem Risiko der Ausweitung und Eskalation zu einer Entwicklung, die unumkehrbar ist.
Ein militärischer Erfolg bedeutet jedoch keineswegs, dass Russland den Krieg gewonnen hat, denn einen Krieg gewinnt man nur, wenn die politischen Kriegsziele erreicht werden. Die Einnahme des Donbass bis zu den früheren Verwaltungsgrenzen, möglicherweise erweitert bis an die Grenze zu Transnistrien, wäre für Russland zweifellos ein Erfolg. Denn anders als der im Minsk II-Abkommen für einen Teil des Donbass vereinbarte Autonomiestatus innerhalb des ukrainischen Staatsverbandes, soll dieses Gebiet offensichtlich zu einer selbständigen staatlichen Einheit erklärt werden.
Andererseits ist der NATO-Beitritt der Ukraine so weit von der Realisierung entfernt wie zuvor. Aber die Erweiterung der NATO um Finnland und Schweden ist ein geostrategischer Zugewinn für die Allianz und ein schwerer Rückschlag für Russland. Zudem wurde die Verteidigung der NATO-Ostflanke signifikant verstärkt. Die Ukraine bleibt ein strategischer Partner der Vereinigten Staaten, ein machtpolitischer Vorposten gegenüber dem geopolitischen Rivalen, und die enge militärische Zusammenarbeit wird fortgesetzt. Auch die Befürchtungen Russlands, das ballistischen Raketenabwehrsystem der NATO in Polen und Rumänien könnte das nuklearstrategische Gleichgewicht mit den Vereinigten Staaten gefährden, bleiben ungelöst.
Die Einschätzung des Bundeskanzlers, Russland darf den Krieg nicht gewinnen und die Ukraine muss bestehen, käme somit der Realität sehr nahe.
Ob es zu Verhandlungen über die Beendigung des Krieges kommt, hängt von der Bereitschaft der Vereinigten Staaten und der Ukraine ab, vom Ziel eines militärischen Sieges und Kriegsgewinns Abstand zu nehmen. Die Vereinigten Staaten haben im Abkommen vom 10. November 2021 über eine strategische Partnerschaft mit der Ukraine die politischen Ziele des Ukrainekrieges definiert. Sie haben sich verpflichtet, die Ukraine bei der Bewahrung ihrer Souveränität, Unabhängigkeit und territorialen Integrität innerhalb ihrer international anerkannten Grenzen, einschließlich der Krim und des Donbass sowie ihrer Territorialgewässer zu unterstützen. Darüber hinaus sollen die russischen Streitkräfte in einem Abnutzungskrieg so weit geschwächt werden, dass sie nicht mehr zu einem Angriff auf andere Staaten fähig sind (US-Verteidigungsminister Austin), und schließlich soll Putin entmachtet werden (Präsident Biden).
Während der ukrainische Präsident Selenskyi die Kriegsziele erratisch, offensichtlich in Abhängigkeit vom jeweiligen Kriegsverlauf, definiert, hat Parlamentspräsident Stefantschuk kürzlich erklärt, dass die Ukraine unter einem Sieg „die Rückgabe der ukrainischen Territorien nach dem Stand vom 24. Februar“ versteht, sowie in einem zweiten Schritt auch der Krim und des Donbass. „Außerdem muss Russland Reparationen gezahlt und der Internationale Strafgerichtshof den verantwortlichen Russen der Prozess gemacht haben“. Es gibt jedoch keinen Anlass zu vermuten, die Ukraine könnte den Krieg gewinnen, indem sie ihre politischen Ziele erreicht.
In den Vereinigten Staaten wird der Ukrainekrieg schon seit einiger Zeit kontrovers diskutiert. Besonders kritisch hat sich am 19. Mai die einflussreiche New York Times geäußert. Es läge „nicht in Amerikas Interesse, sich in einen totalen Krieg mit Russland zu stürzen, auch wenn ein Verhandlungsfrieden der Ukraine einige harte Entscheidungen abverlangen könnte.“ Der Krieg könnte „eine unvorhersehbarere und potenziell eskalierende Richtung einschlagen“ und den „langfristigen Frieden und die Sicherheit auf dem europäischen Kontinent“ gefährden. Präsident Biden wird aufgefordert, Selenskyi die Grenzen westlicher Unterstützung aufzuzeigen.
Präsident Biden hat darauf am 31. Mai an gleicher Stelle in einem Namensartikel geantwortet: „Dieser Krieg wird nur durch Diplomatie endgültig enden…Wir wollen den Krieg nicht verlängern, nur um Russland Schmerzen zuzufügen“. Biden stellte auch klar, dass die Vereinigten Staaten nicht versuchen werden, Putins Sturz herbeizuführen. Und weiter: „Die Vereinigten Staaten werden weiterhin daran arbeiten, die Ukraine zu stärken und ihre Bemühungen um eine Verhandlungslösung für den Konflikt unterstützen.“
Das ist eine eindeutige Abkehr von der eindimensionalen Strategie, den Krieg „auf dem Schlachtfeld“ (Selenskyi) zu entscheiden. Sie beruht möglicherweise auch auf der Einsicht, dass Russland zu schwächen bedeutet, den gefährlicheren Rivalen China zu stärken. Vielleicht folgt diesem Schritt noch eine weitere Einsicht: Dass die Ukraine mit Russland zwar einen Waffenstillstand verhandeln, aber ein Verhandlungsfrieden nur durch einen Interessenausgleich der beiden geopolitischen Rivalen und Hauptakteure in diesem Krieg erzielt werden kann – den Vereinigten Staaten und Russland.
Diskussionsbeitrag von Harald Kujat.
General a. D. Harald Kujat war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des NATO-Militärausschusses, des Forums der Generalstabschefs des NATO-Russlandrats und der NATO-Ukraine-Kommission der Generalstabschefs.