Frank Elbe – 1971 bis 2005 Diplomat im Auswärtigen Amt, war 1987-1992 Büroleiter von Bundesaußenminister Genscher und war aktiver Teilnehmer bei den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen über die Einheit Deutschlands.
Am 16. November 2021 hielt er einen Vortrag vor Studenten in Bonn über Lehren aus der Entspannungspolitik für den Umgang mit Russland heute, über 30 Jahre der Vereinigung Deutschlands.
Wir danken Frank Elbe für seinen sehr informativen Beitrag über Geschichte, Fakten und Lehren aus der Entspannungspolitik als Mittel zur Überwindung auch der derzeitigen Konfrontation zwischen NATO und Russland.
…Kuba 1962 war die Geburtsstunde der Entspannungspolitik
1990 war Deutschland wieder ein vereinter, voll souveräner Staat geworden. Die ehemaligen europäischen Satellitenstaaten des Warschauer Paktes erhielten ihre Unabhängigkeit zurück. Das Sowjetreich löste sich auf. Es entstanden neue, wirtschaftlich starke und an Rohstoffen reiche Staaten in Eurasien – Kasachstan, Aserbeidschan. Die deutsche Einheit wurde erreicht, ohne dass ein einziger Schuss abgefeuert wurde.Sie war keine Laune der Geschichte. Sie war das Ergebnis beharrlicher, diplomatischer Kärrnerarbeit – ja sogar Knochenarbeit, wenn ich auf meine eigenen Flugstunden schaue. Die Erfolge einer jahrzehntelangen konsequenten Strategie zahlten sich aus.
1967 stellte der sogenannte „Harmel-Bericht“ der NATO die Beziehungen zur Sowjetunion auf eine einfache Formel: „Ausreichende militärische Sicherheit einerseits und eine Politik der Entspannung, Zusammenarbeit und Abrüstung andererseits“. Dabei galt, dass zwischen beiden Element ein „Und“, kein „Oder“ zu stehen habe.
Das Ende der Geschichte?
1990 hatte niemand ernsthaft angenommen, dass mit der deutschen Wiedervereinigung das Ende der Geschichte gekommen wäre. Anders allerdings der amerikanische Diplomat Francis Fukuyama. Er vertrat in seinem Buch „Das Ende der Geschichte“ die These, dass die Welt nunmehr in eine „liberale, konfliktfreie Entwicklung“ eintreten würde. Rückblickend wird seine Erwartung allerdings plausibel, wenn er sich diese liberale, konfliktfreie Welt unter der Führung der USA vorgestellt und angestrebt haben sollte. Das Auswärtige Amt war vom Ende der Geschichte nicht beeindruckt. Uns schien es allerdings schon so, dass wir – um mit Bertolt Brecht zu sprechen – die „Mühen der Berge hinter uns hatten, nun aber die Mühen der Ebenen vor uns lagen“. Wenige Wochen nach der deutschen Einheit vereinbarten alle KSZE-Staaten die „Charta von Paris“. Sie sollte die Entfeindung zwischen früheren Gegnern einleiten und die Tür zu einer breiten Kooperation im Gebiet von Vancouver bis Wladiwostok aufstoßen.
Das sollte sich leider so nicht erfüllen. Nach 30 Jahren erleben wir Enttäuschungen und verspielte Chancen. Reale Bedrohung und absurdes, gefährliches Theater liegen nahe beieinander. Wir scheinen guten Geistern verlassen worden zu sein. Wir haben den langen mühsamen, aber erfolgreichen Weg verlassen, aus der Konfrontation über eine Politik der Zusammenarbeit, der Vertrauensbildung, der Abrüstung und Entspannung zu mehr Sicherheit zu gelangen, ja vielleicht einen „Zustand des Friedens in Europa zu erreichen.“ Die Aufbruchsstimmung, als der Londoner NATO-Gipfel 1990 der Sowjetunion „die Hand der Freundschaft“reichte, ist verflogen. In dem von Gorbatschow beschworenen „europäischen Haus“ ist kein Zimmer für Russland frei. Es gilt, dass Russland von einer „dauerhaften und gerechten Friedensordnung in Europa“ besser ausgeschlossen wäre. Wir befinden uns sicher noch nicht in der Vorphase einer militärischen Auseinandersetzung. Wir sind kurz davor.
In den Kalten Krieg zurück
In jedem Fall sind wir in Riesenschritten in den Kalten Krieg zurückmarschiert. Es wäre fahrlässig, diese Entwicklung ausschließlich an der Annexion der Krim, an Nawalny oder anderen festgestellten oder behaupteten Fehlentwicklungen der russischen Politik festzumachen, ohne auch die Verantwortlichkeit des Westens für den gegenwärtigen Zustand zu untersuchen. Die Politik, auf Distanz zu Russland zu gehen, hat nämlich viele schon viele Jahre früher eingesetzt, als Russland keinerlei Anlass für einen westlichen Paradigmenwechsel des Westens gegeben hat. Auf diesen Punkt werde ich noch ausführlich eingehen.
Zunächst ein Exkurs in das sicherheitspolitische Grundverständnis, das zwischen den USA und Russland besteht. Beide Staaten wollen sich gegenseitig nicht vernichten. Wer zuerst schießt, stirbt als Zweiter. Es gilt die Strategie der gegenseitig gesicherten Vernichtung, oder englisch „mutually assured destruction“ – abgekürzt MAD wie mad. Ein Angreifer soll davon abgehalten werden, einen gezielten nuklearen Vernichtungsschlag zu führen, weil er befürchten muss, dass der Angeriffene immer noch genügend nukleare Mittel auf Unterseebooten, in der Luft, auf mobilen Lafetten oder in Betonsilos hat, um einen tödlichen Gegenschlag auszulösen. Dieser Grundgedanke ist schlicht, und scheinbar zwingend. Vielleicht etwas zu schlicht, um das über Jahrzehnte währende Vertrauen gegenseitig gesicherte Vernichtung zu rechtfertigen. Diese kann nämlich nur funktionieren, wenn alle Beteiligten sich zu jedem Zeitpunkt rational verhalten. Das kann nicht vorausgesetzt werden. Schon gar nicht für den gegenwärtigen Zeitpunkt.
Nukleares Vabanque in Kuba-Krise
Die Kubakrise von 1962 zeigte deutlich Anfälligkeiten, sich von rationalem Handeln zu entfernen zu wollen. Russen und Amerikaner spielten nukleares Vabanque. Die sowjetische Seite stationierte heimlich Mittelstreckenraketen auf Kuba. Diese hätten als großen Städte und die Industriegebiete der USA erreichen können.
In unserer Erinnerung ist die Vorstellung eingefroren, dass die Sowjets das nun wirklich nicht hätten tun dürfen.Das war auch die leidenschaftliche politische Überzeugung des Studenten Frank Elbe, der 1962 gegen diese sowjetische Politik demonstrierte – die erste von nur wenigen Demonstrationen in seinem Leben. Mir – und auch wohl der Mehrheit der Menschen im Westen – war damals nicht vertraut, dass sich die Sowjets zu dieser Aktion animiert fühlten, weil zuvor die USA Mittelstreckenraketen vom Typ Jupiter in der Türkei stationiert hatten. Diese hätten Moskau und Industriegebiete in der Sowjetunion erreichen können. Amerikanische Militärs bedrängten nun den amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy, die sowjetischen Mittelstreckenraketen auf Kuba mit nuklearen Mitteln anzugreifen.
Es schien zunächst so, als sei der amerikanische Präsident mit diesem Vorgehen einverstanden gewesen. Damals galt noch die Doktrin der massiven Vergeltung. Kennedy brach aber das Gespräch mit den Generälen abrupt ab, als er erfuhr, dass die Militärs bei einer eventuellen nuklearen Eskalation mit etwa 80 Millionen amerikanischen Opfer rechneten. Er und sein Bruder Robert verwarfen die Angriffspläne auf Kuba und entschieden sich für eine Seeblockade – sehr zum Missvergnügen der Vereinigten Staatschefs. Robert Kennedy stellte über den sowjetischen Botschafter Dobrynin bei den Vereinten Nationen eine Verbindung zu Nikita Chruschtschow her. So konnte Kennedy mit dem sowjetischen Führer gleichzeitig über das Ende der Blockade und den Rückzug der sowjetischen Raketen aus Kuba verhandeln und – so ganz nebenbei – in einem Geheimabkommen den Rückzug amerikanischer Jupiter-Raketen aus der Türkei regeln.
Von Militärs über den Tisch gezogen
Bemerkenswert an diesen Gesprächen war folgendes:
1.) Kennedy und Chruschtschow fühlten sich von ihren Militärs über den Tisch gezogen.
2.) Kennedy führte ein von politischer Empathie geprägtes Gespräch.
3.) Sie erkannten die Notwendigkeit, die “Nacktheit” der Strategie der gegenseitig gesicherten Vernichtung aufzubrechen.
Was ist mit „Empathie“ und „Nacktheit“ gemeint? Kennedy hatte vor dem Gespräch mit Chruschtschow Rat bei dem englischen Militäranalysten Liddell Hart gesucht.
Dieser riet ihm: „Sei stark, wenn möglich. Sei in jedem Fall beherrscht. Habe unbegrenzte Geduld. Treibe den Gegner nicht in die Ecke, hilf ihm immer, sein Gesicht zu wahren. Stell Dich in seine Schuhe, um die Dinge durch seine Augen zu sehen. Vermeide wie den Teufel Selbstgerechtigkeit – nichts kann Dich mehr blenden.“
So einfach ist politische Empathie
Die “Nacktheit” der Beziehung von „Kopf und Daumen“, wir sprechen vom Knopf, der den nuklearen Abschuss auslöst, und vom Daumen, der ihn drückt, wurde als kritisch erkannt und man wurde sich rasch einig, ein unmittelbares Kommunikationssystem einzuführen, das im Volksmund als “rotes Telefon“ bekannt war, aber in Wirklichkeit ein Fernschreiber war.
Geburtsstunde der Entspannungspolitik
Das war die Geburtsstunde der Entspannungspolitik. Die nächsten Schritte, die erfolgten, galten folgerichtig dem weiteren Abbau des Spannungsfeldes im Umgang mit nuklearen Waffen.Es folgten die Vereinbarungen über SALT, also die Reduzierung bestehender Nuklearwaffen, über START, die Reduzierung strategischer Waffen.
Es folgten politische Schritte, wie die Philosophie der NATO im Umgang mit Russland, sich von den Prinzipien einer ausreichenden militärischen Sicherheit einerseits und einer Politik der Zusammenarbeit, Entspannung und Abrüstung andererseits, leiten zu lassen.Der KSZE-Prozess wurde initiiert, die deutsche Ostpolitik hob den Alleinvertretungsanspruch gegenüber der DDR auf und erkannte im Warschauer Vertrag von 1970 die Ansprüche der Polen auf die nach Kriegsschluss erworbenen ostdeutschen Provinzen an.
Ein entscheidendes deutsches Industrieprojekt fand schließlich die Zustimmung der Amerikaner, nämlich die Lieferung von Stahlröhren an die Sowjetunion zum Bau einer Gasleitung nach Deutschland, wobei die Bezahlung im Wege eines Barter-Geschäftes durch die Lieferung von Gas erfolgen sollte.Alle Beteiligten waren sich über das Problem einer eventuellen Abhängigkeit von der Liefer- als auch von der Abnehmerseiten im Klaren, aber alle Beteiligten akzeptierten, dass eine solche wechselseitige Abhängigkeit eher stabilisierend wirken würde und die Grundlagen für eine wirtschaftliche Kooperation verstärken würde- wie es dann auch gekommen ist.
Wenn man diese Entwicklung bildlich sieht, so haben Ost und West nicht nur einen Puffer zwischen Daumen und Abzug geschoben, sondern ein Matratzenlager. Heute erleben wir, das eine Matratze nach der anderen weggezogen wird. Wir stehen etwas fassungslos vor der sich wiederum präsentierenden Nacktheit des Verhältnisses von Daumen und Abzug.
Als ehemaliger Verhandler in Fragen der Sicherheit, Abrüstung und der deutschen Wiedervereinigung verblüfft mich am meisten der Mangel der Einsicht in die Zwänge des nuklearen Komplexes. Ich habe den ‚Eindruck, als ob aktuelle Politiker in Deutschland – und ich nenne hier mal Norbert Röttgen, Annegret Kramp-Karrenbauer, Alexander Graf Lambsdorff, Annalena Baerbock und Heiko Maas – die Übersicht über die Komplexität des Umgangs mit der nuklearen Bedrohung verloren haben.Es wäre schon schlimm genug, wenn diese es einfach nicht begriffen hätten. Noch schlimmer wäre es allerdings, wenn sie auf der Basis ihrer Unkenntnis oder ihres bösen Willens eine vernünftige Außenpolitik torpedieren würden.
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Die globalisierte Welt beruht auf Arbeitsteilung, wechselseitiger Abhängigkeit, Zusammenarbeit und gegenseitiger Anerkennung. Wenn Entwicklung, Wohlstand und Sicherheit nachhaltig Bestand haben sollen, muss das Prinzip gelten, dass wir Probleme nur gemeinsam lösen können und kein Staat sich anmaßen darf, es alleine schaffen zu wollen und anderen mitzuteilen, was für sie gut ist….
Stunde der Verantwortungsethiker
Dies ist längst nicht mehr die Stunde der „Gesinnungsethiker“, sondern der „Verantwortungsethiker“, wie Max Weber feststellen würde. Es geht darum, im Interesse unserer Sicherheit den politischen Dialog wieder aufzunehmen und die Stützpfeiler für die Beziehungen zu Russland wieder zu verstärken. Es besteht kein Anlass, im Umgang mit Russland neue Parameter zu definieren. Wem nützt es, wenn die Ausrichtung der amerikanischen Diplomatie nicht mehr verständlich ist, wenn infolgedessen die Krise in der Ukraine – der erste Stellvertreterkrieg auf europäischem Boden – keine Aussicht auf ein Ende hat, wenn sich Europa spaltet, der Zusammenhalt des nordatlantischen Bündnisses zerbrechen würde, wenn tiefe Risse zwischen Europa und Amerika entstehen und wir Europäer Russland und seine Menschen als Partner verlieren?
Wir haben Anspruch auf eine berechenbare US-Außenpolitik. …. Eine Politik die nicht auf Zusammenarbeit mit Russland, sondern auf Ausgrenzung abstellt, kollidiert mit unseren Wertvorstellungen. Sie wäre auch verfassungsfeindlich. Das Grundgesetz hat in Artikel 26 eine Verpflichtung verankert, das friedliche Zusammenleben der Völker zu fördern. Dies ist eine unmittelbar bindende Vorschrift unserer Verfassung; sie verpflichtet jedermann – staatliche Organe wie auch jeden Bürger.
Um es im Klartext zu sagen: Im internationalen Umgang unter Staaten ist Respekt, Berechenbarkeit und Klarheit erforderlich. Daran fehlt es in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen.
Der Vollständige Text erschien am 09. Januar 2022 im Blog der Republik. Zur Person: Botschafter a. D. Frank Elbe ist Rechtsanwalt und Publizist. 1971 bis 2005 war er im diplomatischen Dienst überwiegend mit Ost-West Beziehungen, Sicherheits- und Abrüstungspolitik befasst. 1987 bis 1992 arbeitete er als Redenschreiber für Außenminister Genscher und als Leiter des Ministerbüros im Auswärtigen Amt. Er war Teilnehmer bei den Zwei-plus-Vier- Verhandlungen über die Einheit Deutschlands, Botschafter zur besonderen Verwendung, Leiter des politischen Leitungsstabes und Leiter des Planungsstabes. 1993 bis 2005 Botschafter in Indien, Japan, Polen und der Schweiz. Seit 2006 ist Frank Elbe Rechtsanwalt in Bonn – in Zusammenarbeit mit der Kanzlei Kubicki (Kiel).