Der Kalte Krieg begann, kaum dass der Zweite Weltkrieg zu Ende war. Er war Konsequenz der Rivalität jener Großmächte, die siegreich aus dem Krieg hervorgegangen waren und nach 1945 zu Supermächten aufstiegen: USA und UdSSR. Beide wollten ihre Einflusssphären absichern und ausdehnen. Die Staaten im Westen Europas gerieten unter US-amerikanischen Einfluss. Im Osten Europas, wo sowjetische Truppen standen, dominierte Moskau.
Konflikte und Auseinandersetzungen entzündeten sich insbesondere dort, wo die militärischen Verhältnisse nicht die strategische Orientierung präjudizierten. Länder wie Deutschland oder Österreich, in denen im Ergebnis des Krieges sowohl Truppen der Westmächte als auch der Sowjetunion standen, hatten zwei Möglichkeiten. Die erste bestand darin, dass sich der Landesteil, der sich unter westlicher Besatzung befand – die „Westzonen“ –, der von den USA angeführten „freien Welt“ anschlossen. Konrad Adenauer entschied sich aus nachvollziehbaren Gründen dafür. Dies war allerdings verbunden mit der jahrzehntelangen Teilung des Landes und der sowjetischen Besatzung im Ostteil, bis die DDR und die Sowjetunion zusammenbrachen.
Blockbildung oder Neutralität
Die zweite Option war, neutral bzw. blockfrei zu werden. Finnland verpflichtete sich aus ebenso nachvollziehbaren Motiven noch vor Kriegsende zur permanenten Neutralität und schloss im Jahre 1948 – als der Kalte Krieg seinem Höhepunkt zusteuerte – einen Freundschafts- und Kooperationsvertrag mit der Sowjetunion. Österreich entschied sich in einem Staatsvertrag im Jahr 1955 für die immerwährende Neutralität. Die ausländischen Truppen zogen ab, das Land wurde nicht geteilt, sondern erhielt seine Souveränität. Jugoslawien lehnte es (wie seit jeher die Schweiz) ab, sich einem der Blöcke anzuschließen, um außenpolitisch unabhängig zu bleiben und sich aus strategischen Rivalitäten heraushalten zu können.
Vor einer ähnlichen Situation steht heute die Ukraine. Der Hintergrund ist wieder die Rivalität Washingtons und Moskaus. In Europa wird an die Adresse Moskaus postuliert, die Zeit der Einflusssphären sei vorbei. An der Realität militärischer Gegebenheiten geht diese Aussage indes vorbei. Selbstverständlich sichern die USA nicht in erster Linie aus altruistischen Motiven, sondern aufgrund definierter strategischer Interessen ihre als solche begriffenen Einflusssphären militärisch ab – sei es in Japan, in Süd- korea oder in Europa. Und selbstverständlich sieht man sich in Konkurrenz mit Dritten, deren Einfluss begrenzt oder zurückgedrängt werden soll. Die Nato wird aus US-amerikanischer Sicht als wesentliches Instrument wahrgenommen, das der Umsetzung dieses Interesses in Europa dienlich ist.
Spiegelbildlich wird die Nato-Erweiterungspolitik in Moskau perzipiert, als Bedrohung der eigenen Identität und Sicherheitsinteressen gedeutet und dementsprechend abgelehnt. Russland war nach der Auflösung der Sowjet- union lange Zeit zu schwach, um dieser Politik mehr als verbale Ablehnung entgegenzusetzen. Im Fall der Ukraine (und Belarus) ist Moskau aber in der Lage, sich zu widersetzen und selbst eine Einflusszone zu schaffen – möglicherweise mit militärischen Mitteln und unter Ausnutzung prorussischer separatistischer Kräfte, die sich mit russischer Hilfe im Osten der Ukraine ein eigenes Herrschaftsgebiet geschaffen haben.
Kiew will sich der Nato anschließen und wird dabei von den USA unterstützt. Stimmt die Nato zu, ist ein Szenario wie in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre in Deutschland nicht ausgeschlossen: die Teilung der Ukraine und die militärische Absicherung der abtrünnigen Provinzen Luhansk und Donezk durch russische Streitkräfte. Der Truppenaufmarsch im Osten, Norden und Süden der Ukraine schafft dafür die Voraussetzung.
Kiew hat aber auch die Möglichkeit, sich neutral oder blockfrei zu erklären wie ehedem Österreich oder Finnland. Verhandlungen über den Abzug ausländischer Streitkräfte und die Einheit des Landes würden möglich, weil das übergeordnete Moskauer Interesse darin besteht, eine Einbeziehung der Ukraine in die Nato zu verhindern. An der im Vergleich zu früher weit nach Osten verschobenen Demarkationslinie zwischen dem Westen und Russland können eine militärische Entflechtung und zusammen mit der Ukraine die Bedingungen für ihren Status als blockfreies oder neutrales Land ausgehandelt werden.
Die Ohnmacht des Westens
Moskau hat eindeutig zu erkennen gegeben, dass es diese Lösung präferiert. Die russische Führung signalisiert aber auch unmissverständlich, dass bei einer Ablehnung die de facto bestehende Teilung der Ukraine fixiert wird. Wenig plausibel ist anzunehmen, die gewaltige Truppenkonzentration an den russisch-belarussisch-ukrainischen Grenzen sei nur darauf gerichtet, „auf Augenhöhe“ mit den USA an einem Tisch zu sitzen, Respektbezeugungen zu erzwingen sowie „vertrauensbildende Maßnahmen“ und Rüstungskontrollgespräche angeboten zu bekommen. Die übermittelte Forderung nach einem vertraglichen Ende der weiteren Ausdehnung der Nato an die russischen Grenzen scheint ernst gemeint.
In der Wahrnehmung Moskaus geht es offenkundig um existenzielle Sicherheitsfragen, und zwar sowohl nach innen als auch nach außen. Was 2014 in der Ukraine, was 2022 in Kasachstan passierte, ist für Moskau ein Menetekel. Nicht nur im Westen, auch im Kaukasus und in Zentralasien wird der russische Einfluss immer mehr in Frage gestellt. Nachdem das Polareis zwischen Barentsee und Kamtschatka und damit eine bisher bestehende Schutzdecke verschwunden ist, fürchtet Moskau zudem eine neue Einfallspforte in der Arktisregion.
Je näher und umfassender die Nato an den russischen Grenzen steht, desto größer ist der Einfluss der Nato nach Russland hinein, desto einfacher und nachhaltiger können in Russland Kräfte unterstützt werden, die eventuell auch dort eine „Farbenrevolution“ herbeiführen wollen, und desto einfacher wird es auch für die Nato im Fall militärischer Konflikte, ihre Logistik zu nutzen und den Nachschub zu gewährleisten.
Für den Westen gibt es ebenfalls zwei Möglichkeiten. Er kann die Moskauer Logik und die russischen Forderungen als haltlos, als Bruch von Vereinbarungen und völkerrechtlichen Prinzipien qualifizieren und sie ablehnen. Dann riskiert er das oben vorgestellte Szenario. Mehr als „die härtesten vorstellbaren Sanktionen“ wirtschaftlicher und politischer Natur sind in einem solchen Fall erklärtermaßen und sinnvoller Weise nicht vorgesehen. Der Westen riskiert wegen der Ukraine keinen Krieg mit Russland. Selbst wenn russische Streitkräfte Teile der Ukraine besetzen, wird an der Spitze der Sanktionsliste nicht viel mehr stehen als die Nichtinbetriebnahme von Nord Stream 2, der Ausschluss aus dem SWIFT-Zahlungssystem und einige andere wirtschaftliche und politische Strafmaßnahmen.
Der Westen kann aber auch, ohne die eigene Sicherheit zu gefährden – sie wäre eher in Gefahr, wenn in der Ukraine ein Krieg stattfände –, auf eine weitere Ausdehnung der Nato verzichten. Im Osten Europas sind mit Belarus, der Ukraine und Moldawien ohnehin nur mehr drei Länder nicht in der westlichen Allianz. Für die Nato ist das keine Bedrohung. Wenn die drei Länder souverän agieren können, ist das auch für sie besser als jede weitere Verschärfung der Konfliktlage mit möglicherweise gewaltsamen Konsequenzen. Weder aus westlicher Sicht noch aus der Perspektive der betroffenen Staaten macht es Sinn, den innerukrainischen Konflikt (mit den selbsternannten Volksrepubliken), den innermoldawischen Konflikt (mit Transnistrien) und die Überlegungen in Belarus über eine engere Anbindung an Russland durch eine externe Eskalation anzufachen.
Die Konsequenzen des Krieges
Wird Sicherheitspolitik also realistisch statt ideologisch (etwa von einem aus dem Souveränitätsrecht abgeleiteten Recht auf Nato-Mitgliedschaft her) gedacht, wäre eine militärische Blockfreiheit der Ukraine für alle Seiten positiv. Der Ukraine blieben nicht nur schlimmstenfalls neue militärische Auseinandersetzungen und neues massives Leid erspart, weil sie gegen die russische militärische Übermacht nur verlieren kann. Drohende territoriale und unter dem Aspekt der staatlichen Verfasstheit noch weitergehende Verluste könnten verhindert werden. Ein neutraler oder blockfreier Status würde simultan die Voraussetzungen für die Wiederherstellung der territorialen Integrität und der Einheit des Landes verbessern. Damit würden auch die Chancen steigen, sich auf die notwendige innere Entwicklung des Landes konzentrieren zu können. Das ist derzeit nicht gegeben und wäre es bei einer neuen militärischen Auseinandersetzung noch weniger.
Natürlich hätte Moskau damit sein Hauptziel erreicht. Gleichzeitig würde Russland die enormen negativen materiellen, wirtschaftlichen, politischen und psychologischen Folgen einer solchen militärischen Aktion gegen das Nachbarland vermeiden. Ein Krieg gegen die Ukraine wäre in Russland wenig populär und könnte die Legitimitätskrise und die Erosion der russischen Staatsmacht beschleunigen. Dies und die Konsequenz einer dramatischen Isolierung Russlands vom Westen würden ohnehin immer stärker werdende diktatorische Tendenzen intensivieren. Die russische Gesellschaft wäre einer der Hauptverlierer einer derartigen Eskalation. Das aber ist weder im europäischen noch im US-amerikanischen Interesse.
Tatsächlich hätte im Falle eines Krieges ganz Europa massive Nachteile zu gewärtigen. Eine russische Intervention in der Ukraine würde eine weitere gigantische Belastung für den Kontinent bedeuten – ökonomisch, sicherheitspolitisch, militärisch – und vermutlich eine stärkere als die Finanzkrise, die Migrationskrise oder die Covid-19-Pandemie.
Eine solche Entwicklung wäre aber auch für die USA alles andere als vorteilhaft. Eine Verschlechterung der Sicherheitsverhältnisse in Europa, eine verschärfte Konfrontation statt mehr Kooperation in den internationalen Beziehungen, ein verstärkter Schulterschluss autoritärer Systeme, eine neue Blockbildung und eine mit großer Wahrscheinlichkeit enorme Beschleunigung des Wettrüstens wären auch für die Vereinigten Staaten nachteilig. Zusätzlich würden Kooperationsnotwendigkeiten in regionalen und globalen Problemlagen erschwert.
Realismus oder politische Rechthaberei
Für einen Kompromiss – Blockfreiheit unter der Bedingung von Souveränität, territorialer Integrität, Sicherheitsgarantien für das betreffende Land und militärische Entflechtung – gibt es allerdings viele Hindernisse. Kräfte, die zunehmend egozentriert denken und handeln und politische Rechthaberei statt Kompromissfindung zur Grundlage ihrer Entscheidungen machen, sind bei allen beteiligten Parteien in den vergangenen zwei Jahrzehnten stärker geworden. In Washington ist man überzeugt von einem Recht auf die Umsetzung dessen, was man als nationales Interesse der USA definiert, und das heißt europapolitisch unter anderem Ausdehnung der NATO. In Moskau ist man ebenso überzeugt von einem Anrecht darauf, dass die eigenen Sicherheitsbefindlichkeiten bei der institutionellen Ausgestaltung des europäischen Sicherheitssystems zu berücksichtigen sind. Kiew vertritt den Standpunkt, man habe ein Recht auf freie Bündniswahl und könne nur als Teil der Nato seine Sicherheit gewährleisten.
Wenn alle Seiten auf ihren Standpunkten beharren, steigen die Chancen, dass es einen großen Krieg gibt. Die Anzeichen dafür mehren sich. Moskau verlegt immer mehr Truppen an die ukrainischen Grenzen. Kiew verlangt immer lauter nach Waffenlieferungen und Unterstützung durch die Nato. Drohungen werden immer unverblümter ausgesprochen. Die Öffentlichkeit wird immer nachdrücklicher auf einen Krieg eingestimmt. Die Feindbildproduktion hat bei allen Beteiligten ein alarmierendes Niveau erreicht. Kritiker, die diese Einstellungen und Haltungen in Frage stellen, werden als ausländische Agenten, Verräter an (ukrainischen) nationalen Interessen oder Putinversteher und Appeasementpolitiker diskreditiert.
Es gibt zwar Gespräche und Versuche, die Eskalation zu stoppen. Aber simultan ist eine Verfestigung der jeweiligen Positionen und eine zunehmende Eskalationsbereitschaft zu beobachten. Eine selbstkritische Reflexion eigenen politischen Handelns ist kaum noch erkennbar. Umso heftiger werden die wechselseitigen Schuldzuweisungen. Und offenkundig sinkt die Hemmschwelle, sich selbst Schaden zuzufügen.
In Moskau wird allem Anschein nach zunehmend geringgeschätzt, auf welchen Abgrund das Land zusteuert, wenn es seine Anliegen mit militärischen Mitteln durchzusetzen versucht. In Washington wird negiert, in welch katastrophale Lage man Europa bringt, wenn man auf dem vermeintlichen Recht beharrt, die Ukraine in die Nato aufzunehmen.
Bewusst werden sollten sich alle Beteiligten auch der möglichen Konsequenz, dass fehlende Kompromissbereitschaft ihren Ländern nicht nur materiell erhebliche Verluste zufügen kann. Auch ihre Reputation im internationalen System nimmt bei einer weiteren Eskalation immer größeren Schaden. Die wenigsten Länder in der Welt zeigen Verständnis für das Anliegen der ukrainischen Führung, unbedingt der Nato beitreten und Russland herausfordern zu wollen. Russland wird, wenn es die militärische Option wählt, bei allen Nachbarn noch unbeliebter als dies teilweise bereits in einem beträchtlichen Maße der Fall ist. Der Abwehrreflex gegen Moskau wird nur verstärkt. Außerdem ist absehbar, dass sich die Abhängigkeit Moskaus von China in einer Weise steigert, die den eigenen innen- und außenpolitischen Entscheidungsspielraum einschränkt.
Zunehmender Realitäts-, Kompetenz- und Reputationsverlust
Die USA und die Nato werden in einem solchen Fall, wie auch immer das Ergebnis letztendlich aussieht, international ebenfalls verlieren. Nicht nur, weil deutlich wird, dass Washington bei der Verfolgung eigener nationaler Interessen Andere ermutigt, sich gegen Dritte zu stellen, sie aber dann nicht zu verteidigen bereit ist, wenn Gefahr droht. Sondern auch, weil kaum jemand in der Welt außerhalb der Nato versteht, dass die USA ihre Geostrategie so vorantreiben, dass es zu derartigen Konflikten kommt. Es ist ja keineswegs nur China, das sich an die Seite Moskaus stellt, sondern auch potentielle Verbündete wie Indien. Neu-Delhi lehnt es ab, im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen respektive Resolutionen zu unterstützen, die von der Ukraine und den USA eingebracht werden.
Der Diskurs über den Konflikt in den beteiligten Ländern hat sich mehr und mehr auf die Rechtfertigung der je eigenen Position verengt. Damit einher geht ein zunehmender Verlust, die Realität adäquat wahrzunehmen. Und dies wiederum hat eine zunehmende Politikunfähigkeit zur Folge. Die Europäer stehen seit mehr als zwei Jahrzehnten beispielhaft für diese Tendenz. Statt sich selbst um eine stabile Sicherheitsordnung auf dem Kontinent zu bemühen, haben sie es versäumt, vor allem die sicherheitspolitische und militärische Organisation des Kontinents in Angriff zu nehmen und damit selbst zur Erosion der positiven Ansätze und Ausgangsbedingungen beigetragen, die sich mit dem Ende des Kalten Krieges eröffnet hatten.
Die meisten führenden Politiker und Theoretiker der Realistischen Schule gerade in den USA – von Henry Kissinger über Robert McNamara, Sam Nunn, Paul Nitze, George F. Kennan bis John Mearsheimer – haben sich gegen eine Aufnahme der Ukraine in die Nato ausgesprochen. Maßgeblich bei der US-amerikanischen Nato-Erweiterungspolitik waren aber von Beginn der Administration unter George W. Bush an jene neokonservativen Kräfte, die den hegemonialen Traum eines „New American Century“ verfolgten und bereits 2002 neben der möglichst schnellen Integration praktisch aller osteuropäischen Staaten auch die Ukraine ins Auge fassten.
Das Risiko einer solchen Strategie war nicht nur den Realisten in den Ver- einigten Staaten bewusst, sondern auch dem Großteil der politischen Eliten in Deutschland und Frankreich quer durch die Parteien. Ihnen war klar, dass der Versuch, die Ukraine in die Nato zu bringen, eine Konfrontation mit Russland implizierte. Auf dem Nato-Gipfel in Bukarest im Jahr 2008 unternahm die US-Administration zusammen mit führenden politischen Persönlichkeiten in Kiew (im Übrigen gegen die Mehrheitsmeinung im ukrainischen Parlament und gegen die Mehrheitsmeinung in der dortigen Bevölkerung) einen Vorstoß, der Ukraine ein konkretes Aufnahmeprozedere qua Membership Action Plan anzutragen. Deutschland und Frankreich stellten sich dagegen.
»Tu nicht den ersten Schritt, ohne den letzten zu bedenken« (Clausewitz)
Seit dem politischen Umbruch in der Ukraine 2014 unterhalten die USA Ausbildungsprogramme, trainieren das ukrainische Militär nach Nato-Standards und beliefern die Ukraine mit Waffen – ebenfalls gegen die Sicherheitsbedenken westeuropäischer Verbündeter. Diese Aktivitäten wurden im Jahr 2021 massiv verstärkt. Von Washington gelieferte panzerbrechende Lenkraketen werden mittlerweile an der Front gegen die Kräfte der beiden abtrünnigen „Volksrepubliken“ eingesetzt. Die Türkei lieferte Kampfdrohnen, mit denen im Oktober eine Artilleriestellung der Separatisten zerstört wurde. Washington stellte zwei Marineschiffe für die Küstenpatrouille, die in der zweiten Novemberhälfte eintrafen. Die USA arbeiten mit Intensität daran, dass derartige Rüstungsaktivitäten nicht nur bilateral erfolgen, sondern die Beschaffungsagentur der Nato einbezogen wird.
Dies alles ist keine Rechtfertigung für die russische Einmischung in ukrainische Angelegenheiten und schon gar nicht für eine russische Intervention. Im Ergebnis bewirkt die Politik der US-Administration aber eine Eskalation nicht nur mit politischen, sondern auch mit militärischen Mitteln. Letztlich müssen die europäischen Nato-Mitglieder entscheiden, ob sie der Nato-Strategie der USA und der Führung in Kiew folgen, sie unterstützen oder vielleicht auch nur hinnehmen wollen – oder ob sie selbst aktiv werden und, zusammen mit den USA und Kiew, einen Kompromiss mit Moskau aushandeln. Freilich haben die Europäer das Problem, dass sie selbst nicht einig sind: Unter anderem Großbritannien und Polen stellen sich hinter die Strategie der USA. Andererseits kann keine Nato-Aufnahmepolitik gegen den Willen Deutschlands und Frankreichs betrieben werden. Gleichzeitig wollen weder Berlin noch Paris die USA, die Ukraine, Polen und die baltischen Nato-Mitglieder brüskieren.
Dazu kommt, dass Moskau sich mit der Annexion der Krim selbst ein schweres Hindernis für eine diplomatische Lösung in den Weg gelegt hat. Ohne eine Vereinbarung über die Krim ist eine Verständigung mit Kiew kaum denkbar, genau wie eine Rückgabe der Halbinsel an die Ukraine aus russischer Sicht schwer vorstellbar ist. Die Ukraine hat mit der Festschreibung des Ziels einer Nato-Aufnahme in ihrer Verfassung 2019 gleichfalls eine massive Hürde errichtet.
Analoges gilt für die USA, wobei dort innenpolitische Wahrnehmungen und die eigene Rollendefinition als Weltmacht, die sich gegen den Widerstand anderer Akteure durchsetzt und nicht einknickt, den außenpolitischen Entscheidungsprozess determiniert. Unter dem Aspekt der öffentlichen Meinung ist Washington vermutlich noch der flexibelste Akteur: Die Amerikaner sind kriegsmüde und haben wenig Lust auf eine Auseinandersetzung wegen eines europäischen Landes, das den meisten völlig fremd und egal ist. Das muss allerdings für den Entscheidungsprozess nicht maßgeblich sein. Republikanische wie auch demokratische Politiker werfen dem Präsidenten vor, die Ukraine nicht entschieden genug zu unterstützen und Russland gegenüber zu nachgiebig zu sein. Das Argument, man dürfe sich von Moskau nicht militärisch erpressen lassen, zeitigt Wirkung.
Mit seiner Ukraine-Politik hat sich auch der Westen in ein Dilemma manövriert, aus dem ein Ausweg nicht leicht zu finden ist. Wie aus dieser Gemengelage eine gemeinsame diplomatische Initiative der EU- und der Nato-Mitglieder zusammen mit der Ukraine resultieren soll, die alle Beteiligten vertreten und dann erfolgreich mit Russland verhandeln, ist offen.
Die Grenzen der Nato
Die Nato ist zweifelsfrei ein wesentlicher Faktor der europäischen Sicherheit. Aber spätestens jetzt ist es an der Zeit, sich klarzumachen, dass das bisherige Denken über europäische Sicherheit, die einseitige Fokussierung auf die Nato und der ständige Drang nach Akquise neuer Länder, im wahrsten Sinne des Wortes an seine Grenzen gekommen ist. Das gleiche gilt auf absehbare Zeit für die Idee einer eigenständigen europäischen Verteidigung. Sie ist in den vergangenen dreißig Jahren kaum weitergekommen, eine substanzielle Veränderung ist nicht zu erwarten.
Entwicklungsmöglichkeiten europäischer Sicherheit liegen in der produktiven Ordnungsfunktion neutraler und blockfreier Länder. Sie haben nach 1945 eine wesentliche Rolle bei der lokalen und regionalen Befriedung geopolitischer und territorialer Konflikte auf dem Kontinent gespielt. Während des Kalten Krieges haben sie eine beruhigende und moderierende Funktion gerade in Zeiten verschärfter Spannungen ausgeübt. Wien, Genf und Stockholm waren Treffpunkte für Dialoge und Verhandlungen, die dem Abbau von Spannungen und der Etablierung kooperativer Beziehungen dienten. Die finnische Hauptstadt Helsinki war 1975 Schauplatz jener Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die ein zentraler institutioneller Baustein für die Beendigung des Kalten Krieges wurde.
Die neutralen und blockfreien Staaten stellten Gegengewichte zu geopolitischen Ringkämpfen und militärischem Wettrüsten dar, das nach 1945 in diversen Teilen der Welt extreme Formen annahm. Die Ukraine wäre aufgrund ihrer spezifischen Geschichte, den ethnischen Gegebenheiten, mit einer relativ großen Bevölkerung von mehr als 40 Mio. Menschen, einem Territorium, das größer ist als jedes andere europäische Land, und vor allem wegen ihrer strategischen Lage zwischen Russland und dem Westen prädestiniert für eine solche Rolle. Sie könnte, wenn sie diese Identität annähme, einen besonderen Status im europäischen wie im internationalen System erlangen, sicherer und auch prestigeträchtiger als die östlichste Peripherie der Nato und gleichzeitig ein Frontstaat zu sein, der in seiner sicherheitspolitischen Befindlichkeit immer abhängig wäre vom jeweiligen Stand der Beziehungen zwischen der Allianz und Russland.
Die Entscheidung, in welcher Form die eigene Sicherheit zu gewährleisten ist, trifft jedes Land für sich. Aber es ist selbstredend eine Frage der politischen Klugheit, die Auswirkungen eigener Entscheidungen auf Andere, insbesondere auf die Nachbarn, und die möglichen Rückwirkungen auf das eigene Land zu berücksichtigen.
Die Ukraine ist nach den historischen Umbrüchen vor drei Jahrzehnten sowie im Zuge der Neuordnung des europäischen und des internationalen Systems ein zentraler Konfliktfall geworden. Was auch immer passiert, ob die Teilung der Ukraine andauert, der Westteil in die Nato kommt und ein Teil im Osten sich nach Russland orientiert, die Nato-Mitgliedschaft in der Schwebe und der Status quo aufrecht erhalten bleibt, ob russische Truppen weitere Gebiete besetzen oder gar ein Regimewechsel in Kiew inszeniert wird: Die Ukraine bliebe ein europäischer Konfliktfall und ein sicherheitspolitisches Risiko ersten Ranges an der Bruchstelle zwischen der Nato und Russland. In einer neutralen oder blockfreien Position kann sie umgekehrt zu einem zentralen Baustein einer europäischen Friedensordnung werden und den seit drei Jahrzehnten andauernden Prozess der sicherheitspolitischen Neuordnung des Kontinents in eine neue, produktive Phase führen. Eine militärische Entflechtung auf beiden Seiten der Tausende Kilometer langen russischen Grenze von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer wäre einem neuen Eisernen Vorhang vorzuziehen und würde auch den baltischen Staaten, Polen und der Nato insgesamt mehr Sicherheit bieten.
Nein, das ist kein „neues Jalta“, wo Großmächte die Grenzen nach Macht und Gusto ziehen. Hier geht es nicht um Entmündigung, sondern um die Wahrung von Souveränität und um eine für alle Beteiligten akzeptable sicherheitspolitische Balance auf dem Kontinent.
Was also verlieren die Europäer – und an erster Stelle die Ukrainerinnen und Ukrainer –, was verliert der Westen, wenn die Ukraine einen Status wie Finnland oder Österreich hat, das heißt territoriale Integrität, Demokratie und eventuell auch eine Mitgliedschaft in der EU? Alle haben nur zu gewinnen. Oder haben in den vergangenen Jahrzehnten Schweden, Finnland, die Schweiz, Irland und Österreich ihrer eigenen oder der europäischen Sicherheit geschadet?