Unter diesem Titel haben Peter Brandt, Hans-Joachim Giessmann und Götz Neuneck eine beeindruckende Gedenkschrift mit persönlichen Beiträgen von rund 50 Wegbegleiter*innen Egon Bahrs zusammengestellt. Auf der Frankfurter Buchmesse stellte Peter Brandt das Buch in einer Diskussion mit Klaus-Jürgen Scherer über Politik und Persönlichkeit Egon Bahrs vor.
Dieses Buch sollte eigentlich Pflichtlektüre und Lehrbuch zugleich sein – um aus dem Erfahrungsschatz von Egon Bahr Lehren für die Wissenschaft wie für die praktische Politik zu ziehen. Nicht ohne Grund bezeichnete der ehemalige norwegische Außenminister Bjørn Tore Godal Bahr als “Architekt und Baumeister der Entspannungspolitik”. Ob Entspannungspolitik, Kooperation und Rüstungskontrolle, Gemeinsame Sicherheit, die Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn oder die Überwindung der deutschen Teilung als Problem der europäischen Teilung – zu jedem dieser Politikfelder bieten die Egon Bahrs Wege zur Lösung von Krisen und Konflikten weiterhin gültige Lehren für die konfliktträchtige Gegenwart wie auch für die Zukunft.
Der Titel »… aber eine Chance haben wir« ist die Kurzfassung einer Antwort Egon Bahrs auf die ihm 2012 gestellte Frage »Ist die Welt noch zu retten?«: Der vollständige Satz kam erst am Ende einer längeren Erläuterung der Sorgen über die Entwicklung der internationalen Sicherheit seit dem Amtsantritt von Präsident Busch im Jahre 2001 und lautete: „Als Optimist, der ich immer war und bleibe, komme ich zu dem Fazit: Die Aussichten steht fifty fifty, dass die Welt überlebt. Mehr nicht, aber eine Chance haben wir.“[1]
Vier Jahre später, im Juni 2016, zitierte der Sonderbeauftragte für den OSZE-Vorsitz diesen Satz Egon Bahrs auf einer OSZE-Konferenz:
Egon Bahr… ist vor einigen Jahren gefragt worden, wie hoch er die Chance einschätze, dass die Menschheit angesichts der Vielzahl globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel, den gravierenden Wohlstandsunterschieden auf der Welt, aber auch der anhaltenden Hochrüstung eine Zukunft habe.
Und Egon Bahr hat – lakonisch und hintergründig wie er oft war – geantwortet, er sei ja ein unverbesserlicher Optimist und komme daher zu dem Fazit:
„Die Aussichten stehen fifty fifty, dass die Welt überlebt. Mehr nicht, aber eine Chance haben wir.“
Uns mag das heute vielleicht etwas pessimistisch erscheinen, aber wir sollten uns klarmachen, dass gerade die militärischen Bedrohungen unserer Sicherheit seitdem sogar noch zugenommen haben….”
Quelle: 2016-06-02.– (Auswärtiges Amt) — Rede vom Sonderbeauftragten für den OSZE-Vorsitz 2016 Gernot Erler zur Eröffnung der Konferenz zum OSZE-Verhaltenskodex zu Politisch-Militärischen Aspekten der Sicherheit
Heute, nach weiteren sechs Jahren, begleitet von der Auflösung der meisten Rüstungskontrollverträge bzw. Nichteinhaltung von Verträgen, wie z.B. des Minsk-II-Abkommens, ist diese Sorge Egon Bahrs umso brennender, seitdem Putins Russland seit Februar 2022 den Aggressionskrieg gegen die Ukraine führt.
Henry Kissinger, 1969 noch misstrauischer Sicherheitsberater von US-Präsident Nixon, aber seit dem Fall der Mauer persönlicher Freund Egon Bahrs geworden, erklärte: »Egons Beitrag zur Staatskunst war es, eine Vision für die Zukunft zu haben und die Willensstärke, einen harten und schwierigen Weg weiterzugehen«.
Der ehemalige schwedische Europa-Minister, Hans Dahlgren, langjähriger außenpolitischer Berater von Olof Palme und Wegbegleiter Egon Bahrs bei der Erarbeitung des 1982 der UNO übergebenen Berichts der Palme-Kommission über Gemeinsame Sicherheit, schreibt in seinem Beitrag:
»Heute wünsche ich mir, dass sich mehr Führungspersonen auf der ganzen Welt die Zeit nehmen, die Ideen von Palme und Bahr zu lesen und über ihre Anwendung nachzudenken, selbst wenn sie vor vierzig Jahren entwickelt wurden.»
Wir leben heute in einer Welt mit mehr Fingern am nuklearen Abzug als je zuvor. Ein Krieg mit Atomwaffen kann nicht mehr ausgeschlossen werden, zumal viele Atomwaffenstaaten dabei sind, ihre Atombombenarsenale zu »modernisieren«. Und das Konzept der Gemeinsamen Sicherheit lässt sich auch auf die andere existenzielle Bedrohung anwenden, mit der wir alle heute konfrontiert sind – auf die Klimakrise.
In ihrem Vorwort beschreiben die Herausgeber die Hintergründe und Wege bei der Entstehung des einzigartigen Buches zum 100. Geburtstag Egon Bahrs:
Am 18. März 2022 wäre Egon Bahr 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass widmete der Willy-Brandt-Kreis zusammen mit der Friedrich-Ebert-Stiftung das jährliche Egon-Bahr-Symposium diesmal seinem 2015 verstorbenen Gründer und langjährigen Vorsitzenden. Das Symposium galt nicht allein der Würdigung der Person, sondern im Sinne Bahrs seinem politischen Werk, der Relevanz des Denkens und der Methodik dieses ungewöhnlichen Mannes. Die Wertschätzung, die Bahr weiterhin genießt, drückte sich in der Teilnahme und den Redebeiträgen von Bundeskanzler Olaf Scholz, des ehemaligen österreichischen Bundespräsidenten Heinz Fischer und der früheren Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit Heidemarie Wieczorek-Zeul, seit 2016 in der Nachfolge von Egon Bahr und Friedrich Schorlemmer Vorsitzende des Willy-Brandt-Kreises, aus. Die drei Genannten haben dankenswerterweise ihre Redetexte zur Verfügung gestellt, in denen sie persönliche Erinnerungen und Bewertungen mit aktuellen politischen Analysen und programmatischen Äußerungen verbinden.
Ursprünglich war vorgesehen, diese Gedenkschrift zum Symposium am 18. März der Öffentlichkeit zu präsentieren. Die Arbeiten an dem Band waren soweit gediehen, dass dem nichts entgegenstand, als am 24. Februar 2022 Truppen der Russischen Föderation unprovoziert die souveräne Ukraine angriffen.
Dass dieser Vorgang insbesondere für Europa einen historischen Einschnitt darstellt, ist weitgehend unstrittig. Es ist in diesem Vorwort nicht der Platz, den vor unseren Augen stattfindenden brutalen, völkerrechtswidrigen und durch Kriegsverbrechen zusätzlich belasteten Angriffskrieg zu analysieren. Dieses ist das Anliegen und der Anspruch unter anderem einer hier veröffentlichten Stellungnahme des Willy-Brandt-Kreises, die auch am 24. Juli 2022 in der Berliner Zeitung abgedruckt worden ist. Bei allen gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten der Mitglieder des Kreises geht es in diesem Papier einvernehmlich um die nachdrückliche Verteidigung der – insbesondere bundesdeutschen – Entspannungspolitik seit den 1960er-Jahren. Die Verfasser weisen die seit dem Beginn des russischen Aggressionskrieges zunehmende Tendenz zurück, jene für das derzeitige Geschehen verantwortlich oder mitverantwortlich zu machen. Selbstverständlich sind auch dieses historische Erbe und seine Protagonisten nicht sakrosankt – für die professionelle Geschichtsforschung ohnehin nicht; nichts und niemand ist der kritischen Nachfrage enthoben. …
Egon Bahr bemühte sich um einen nüchternen, gewissermaßen »kalten« Blick auf die gegebenen Verhältnisse und die objektiven und subjektiven Interessen aller jeweils Beteiligten. Zugleich war er ein leidenschaftlicher Politiker: als gesamtdeutscher Patriot, Anhänger europäischer Souveränität, unermüdlicher Friedenssucher weltweit auf einem soliden realistischen Boden, überzeugter Anhänger und Verteidiger einer freiheitlichen, rechtsstaatlichen und sozialen Demokratie. Dieses Buch erinnert an das bewegte Leben eines großen Sozialdemokraten, eines – wie es an verschiedenen Stellen in den Beiträgen heißt – »glasklaren Analytikers«, »gewieften Strategen«, »durchsetzungsstarken Politikers«, »Architekten«, »Strippenziehers«, »Stellwerkers«, »aufmerksamen Zuhörers«, jedenfalls brillanten Meisters der Sprache in Wort und Schrift, eines nachdenklichen und vorausdenkenden Zeitgenossen, eines geachteten und verlässlichen Partners und nicht zuletzt klugen, treuen, humorvollen Freundes und Weggefährten. …
Das vollständige Vorwort und das Inhaltsverzeichnis des Buches finden Sie hier