Katrina vanden Heuvel hielt auf dem Internet-Workshop „Wie weiter mit dem Atomwaffenverbotsvertrag (AVV)?“ am 09. Juni 2022 das Grußwort als Herausgeberin der US-Wochenzeitung The Nation. Da die Konferenz der AVV-Vertragsstaaten rund 40. Jahre nach der Großdemonstration der US FREEZE Campaign erinnert sie in ihrem Beitrag für unsere Website daran, dass “heute, vierzig Jahre danach, die Atomkriegsgefahr so groß ist wie noch nie seit der Kubakrise 1962.”
Vor vierzig Jahren, am 12. Juni 1982, versammelten sich eine Million Menschen im Central Park in New York und demonstrierten für die Beendigung des atomaren Wettrüstens. So etwas hatte es noch nie gegeben – es war nicht nur die größte Demonstration gegen Atomwaffen, sondern auch die größte politische Demonstration in der Geschichte der USA.
Auch eine Delegation der Zeitschrift „The Nation” war dabei, zwar eine kleine Gruppe, aber mit einem großen Transparent!
Zu unserer Delegation gehörte ein ehemaliger Praktikant, der zwei Jahre zuvor einen kurzen Leitartikel für “The Nation” über eine lokale Initiative geschrieben hatte – eine Initiative zur lokalen Abstimmung der Bevölkerung für das Einfrieren der Atomwaffen (FREEZE). Sie war gerade in drei Bezirken im Westen der USA verabschiedet worden. Die Mehrheit der Wähler stimmte für den “Antrag 7” mit der Forderung nach einem beiderseitiges Einfrieren der Produktion von Atomwaffen durch die USA und die Sowjetunion.
Der an vielen Orten verabschiedete „Antrag 7“ war das Verdienst von zwei lokalen Friedensgruppen – Randy Kehler war Gründer einer Gruppe, des Traprock Centers, und er sagte nach der lokalen FREEZE-Abstimmung: “Die Abstimmung zeigt, dass das amerikanische Volk tatsächlich für Vorschläge zur Beendigung des Wettrüstens empfänglich ist. …. Die Frage der Atomwaffen geht über Parteigrenzen und liberale und konservative Meinungsverschiedenheiten hinweg…”
Dutzende von Friedens-, Religions-, Antirassismus- und Gewerkschaftsgruppen hatten Beschlüsse gefasst, die das Einfrieren der Atomwaffen auf beiden Seiten forderten.
Heute, vierzig Jahre danach, ist die Atomkriegsgefahr so groß wie noch nie seit der Kubakrise 1962. Wenn der brutale Krieg in der Ukraine nicht bald durch einen Waffenstillstand und eine politisch-diplomatische Lösung beendet wird, die die Sicherheit und Souveränität der Ukraine gewährleistet, kann die weitere Eskalation des Krieges zum Einsatz von Atomwaffen führen, sei es mit Absicht oder “versehentlich”, sei es durch uns oder durch Russland.
Trotz dieser akuten Gefahren leben wir mit verbreiteten Unwissen über die Atomkriegsgefahren. Das ständige Gerede, sozusagen ganz “normal” über den Einsatz von Atomwaffen zu denken, ist erschreckend und irrsinnig.
Ende April erklärte der ehemalige Direktor für europäische Angelegenheiten in Nationalen Sicherheitsrat, Oberst a.D. Aleksandr Vindman, gegenüber MSNBC, wir sollten keine Angst vor einer nuklearen Eskalation haben, weil “die nukleare Schwelle im Grunde genommen extrem hoch ist… die Russen werden keinen Atomkrieg gegen uns führen, weil sie dann selbst vernichtet würden.” Das ist Unsinn, den wir von Experten hören, die sich wie Kämpfer im Gefecht verhalten, oder von ehemaligen Militärs, die anscheinend in Rüstungsunternehmen investiert haben. Natürlich geht es in diesem Narrativ weniger um Deeskalation des Krieges als um die Eskalation der Waffenlieferungen.
Was wir nie vergessen sollten: “Ein Atomkrieg kann nie gewonnen werden und darf nie geführt werden“. Müssen wir einem Militär wie Oberst Vindman wirklich erklären, dass selbst ein kleiner regionaler Atomkrieg katastrophale Folgen für die ganze Welt haben würde? So ein Kommentar erinnert mich an das, was der Schöpfer von Dr. Strangelove, Terry Southern, vor Jahren eingestand – er hätte Schwierigkeiten beim Schreiben, weil die Realität die Satire überholen würde.]
Der Volksmund sagt: “In der Krise liegt oft auch eine Chance”.
Das von Medienkonzernen unablässig propagierte Narrativ lautet: “Die Welt ist gefährlich, dagegen müssen wir uns bewaffnen.” Aber Umfragen von AP-NORC zeigen, dass in den USA neun von zehn Menschen in den USA den Einsatz von Atomwaffen befürchten.
Dagegen gibt es ein starkez Gegen-Narrativ, dass wir von Medien oder Vertretern der politischen Elite selten hören: Atomwaffen machen uns nicht sicherer, sie bedrohen unsere Sicherheit. Diese Erkenntnis sollte vernünftigerweise zur Ablehnung höheren Ausgaben für Atomwaffen führen, zu internationaler Rüstungskontrolle und Abschaffung von Atomwaffen führen. Die Verpflichtung zur Abrüstung erfordert die Wiederherstellung der Infrastruktur zur Kontrolle der nuklearen Abrüstungverträge, die zerrissen wurden!
In diesem Jahr begehen wir einen weiteren Jahrestag. Vor 40 Jahre – im April 1982 – hatte der schwedische Ministerpräsident Olof Palme den Bericht der von ihm einberufenen „unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheitsfragen” vorgelegt: „Gemeinsame Sicherheit – ein Programm für die Abrüstung – Bericht der unabhängigen Kommission für Abrüstung und Sicherheitsfragen”.
Die Vorschläge im Bericht der Palme-Kommission spielten eine wichtige Rolle bei der Beendigung des Kalten Krieges..
In diesem Frühjahr wurde der Bericht über die Gemeinsame Sicherheit 2022 neu aufgelegt – und er ist ein Lehrbuch für den Frieden.
Er macht deutlich, dass in Zeiten sich häufender Krisen internationale Zusammenarbeit zwingend erforderlich ist, um Kriege zu beenden und zu verhindern.
Er ist auch ein Leitfaden für die Bewältigung der existenziellen Klimakrise, der Pandemien, des weltweiten Hungers, der Ungleichheit und der Migration. Er bestärkt die Forderung nach einer zwingenden Wiederaufnahme strategischer und wissenschaftlicher Gespräche zwischen den USA und Russland: meines Wissens wurden alle Gespräche ausgesetzt, nicht einmal auf den Höhepunkten des Kalten Krieges gab es einen derartigen Abbruch der Kommunikation. Und er fordert mehr Anstrengungen zur Schaffung einer neuen globalen und regionalen Sicherheitsarchitektur und die drastische Senkung der geradezu obszön hohen jährlichen Militärausgaben zugunsten ihrer Umwidmung für Investitionen un die Schaffung von Arbeitsplätzen, Gesundheitsversorgung und menschlicher Sicherheit.
Manche sagen, es sei naiv, überhaupt von Frieden, Abrüstung und gemeinsamer Sicherheit zu sprechen, wenn sich die Welt in einem neuen Kalten Krieg – oder besser gesagt, in einem heißen Krieg, befindet. Aber gerade deshalb brauchen wir jetzt mehr denn je die Botschaft für die Dynamik von Frieden und Abrüstung auf der ganzen Welt verstärken. Militärische Macht bietet keine Sicherheit vor Pandemien, vor Ausplünderung des Planeten, vor der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, vor Hunger und Armut.
Eine bemerkenswerte Führungspersönlichkeit, die diese Zusammenhänge herstellt, ist Reverend William Barber, Ko-Vorsitzender der Kampagne für die Armen. Im Sinne von Martin Luther King beschwört die moralische Notwendigkeit des Widerstands gegen Militarismus, Kriegswirtschaft, Atomwaffen und andere Waffen. Auch viele junge Menschen sehen ihr Engagement als Verbindung zwischen den Bewegungen der Zivilgesellschaft gegen Waffengewalt, Angriffe auf Frauen, Immigranten, Afroamerikaner usw. mit der Notwendigkeit, gegen die ultimativste Form der Gewalt vorzugehen – Atomwaffen.
Ich möchte den Erfolg der internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen / ICAN hervorheben, die für ihre Mobilisierung für den Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) 2017 den Friedensnobelpreis erhielt:
Am 7. Juli 2017 hatten 122 Staaten in der UN Generalversammlung für die Annahme des Atomwaffenverbotsvertrages (AVV) gestimmt. Sechs Monate nachdem mehr als 50 Staaten den AVV ratifiziert hatten, wurde er am 22. Januar 2021 gültiges Völkerrecht. Inzwischen haben 61 Staaten ratifiziert und treffen sich zur ersten Konferenz AVV-Staaten vom 20. Bis 23. Juni 2022 in Wien. Es ist beschämend, dass noch kein Atomwaffenstaat seine Unterstützung zum Ausdruck gebracht hat, aber der Vertrag ist ein moralisches Dokument, das die Friedensbewegungen in vielen Ländern beflügelt.
Im Jahr 2002 hatten The Nation Jonathan Schell, ein visionärer Autor zu Fragen der Atomwaffen und ihrer Abschaffung, gemeinsam den Global Green Award für unsere Berichterstattung über Atomwaffen.
Ich erhielt den Preis persönlich überreicht von Michail Gorbatschow, dem Vorsitzenden der Gruppe. Gorbatschow war der radikalste und engagierteste Politiker für die Abschaffung der Atomwaffen, der jemals einen Atomwaffenstaat geführt hat. Er ist nun 91 Jahre alt, lebt außerhalb von Moskau und ist entsetzt über die aktuellen Entwicklungen.
Während viele in unserem Sicherheitsestablishment immer noch darauf beharren, die Abschaffung von Atomwaffen sei ein unerreichbares und utopisches Ziel ist, stehe ich fest hinter dem Grundsatz, den Präsident Gorbatschow mehrfach geäußert hat: “Wenn wir nicht versuchen, das angeblich Unmögliche durchzusetzen, vergrößern wir die Gefahr, dass uns das Undenkbare umbringt.”
Dieser Beitrag wurde von der Redaktion ins Deutsche übertragen. -Zur Person:
Katrina vanden Heuvel ist Chefredakteurin und Herausgeberin von The Nation und schreibt eine wöchentliche Kolumne für die Washington Post.
Sie kommentiert häufig die US-amerikanische und internationale Politik für ABC, MSNBC, CNN und PBS. Sie ist Autorin mehrerer Bücher, darunter ‘The Change I Believe In: Fighting for Progress in The Age of Obama’, und Co-Autorin (mit Stephen F. Cohen) von Voices of Glasnost: ‘Interviews with Gorbachev’s Reformers‘.
Sie ist Vorstandsmitglied u.a. des Progressive Caucus Center, des Institute for Policy Studies, der Sidney Hillman Media Foundation oder des American Committee for US-Russian Accord.
Katrina vanden Heuvel ist Mitglied des Council on Foreign Relations der USA.