“Seit mehr als 25 Jahren hat der Vertrag über nukleare Mittelstreckenraketen (INF) landgestützte US-amerikanische und russische bodengestützte INF-Systeme verifizierbar verboten und das Risiko einer nuklearen Eskalation und eines Wettrüstens in Europa erfolgreich verringert.
Obwohl die NATO wiederholt erklärt hat, sie sei “uneingeschränkt zur Erhaltung dieses wegweisenden Rüstungskontrollvertrages verpflichtet“, hat US-Präsident Donald Trump angekündigt, er beabsichtige, den INF-Vertrag von 1987 als Antwort auf die von den USA festgestellten Vertragsverletzungen durch Russland zu beenden.
Die Auswirkungen eines Zusammenbruchs des INF-Vertrags wären enorm: Er könnte ein neues Wettrüsten auslösen, die Gefahr einer nuklearen Eskalation erheblich verstärken, die politischen Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten, Russland und Europa weiter untergraben und eine Entscheidung von Moskau und Washington gefährden, über die Verlängerung des Vertrages zur Begrenzung strategischer Waffen (New START) zu verhandeln, bevor Vertrag im Jahr 2021 ausläuft. Ohne INF oder New START gäbe es keine rechtsverbindlichen, nachprüfbaren Begrenzungen für die beiden größten Atomwaffenarsenale der Welt oder irgendwo sonst auf der Welt.
Seit 2013 hat die Deep Cuts Commission, ein unabhängiges trilaterales US- amerikanisches, russisches und deutsches Expertenprojekt, zahlreiche Artikel und Vorschläge zur Beilegung des INF-Streits veröffentlicht, um die verbleibende Rüstungskontrollagenda einschließlich der Verlängerung von New START zu sichern; sie rief wiederholt zu regelmäßigen strukturierten Gesprächen über die Verbesserung der strategischen Stabilität zwischen den Vereinigten Staaten, Russland und China auf.[1] Die US-amerikanischen Vorwürfe über eine nicht-vertragskonforme russische Rakete (9M729) sind ernst zu nehmen, ebenso wie russische Vorwürfe, die Startgeräte (Mk-41) für die NATO-Raketenabwehrraketen in Rumänien (und bald auch in Polen) könnten für den Einsatz von offensiven Raketen benutzt werden, die durch den INF-Vertrag verboten sind.
US-amerikanische und russische Beamte haben bisher die verfügbaren Optionen zur Aufrechterhaltung des INF-Vertrags keineswegs ausgeschöpft. Um die Sackgasse zu durchbrechen, haben wir vorgeschlagen, dass beide Seiten die Bedenken der jeweils anderen Seite anerkennen und dass Washington und Moskau gegenseitige Besuche von Experten zur Untersuchung der betreffenden Raketen und Stationierungsorte vereinbaren. Wenn festgestellt würde, dass der Flugkörper 9M729 eine Reichweite von mehr als 500 km besitzt, könnte Russland den Flugkörper modifizieren, um sicherzustellen, dass er nicht mehr gegen den Vertrag verstößt, oder könnte im Idealfall die Produktion einstellen und alle derartigen Flugkörper sowie zugehörige Startgeräte abbauen.
Die Vereinigten Staaten könnten ihrerseits ihre Raketenabwehrstartsystemen modifizieren, damit sie sich eindeutig von den Startgeräten unterscheiden, mit denen Angriffsraketen von US-Kriegsschiffen abgefeuert werden, oder sie könnten sich auf Transparenzmaßnahmen einigen, die Russland die Sicherheit geben, dass die Startgeräte keine Angriffsraketen abfeuern können. Eine solche Vereinbarung würde auf die Bedenken beider Seiten eingehen und eine gegenseitige Gesichtswahrung bieten, um die Einhaltung des Vertrags wiederherzustellen.
Bei einem Treffen im vergangenen Frühjahr hatten die Vertreter der Trump- Administration Russland offenbar vorgeschlagen, die 9M729-Rakete abzuschaffen. Es gab jedoch keine Folgediskussionen über die Optionen und kein Angebot für wechselseitige Maßnahmen zum Ausräumen der Bedenken Russlands.
Wir glauben, dass die Vereinigten Staaten und Russland alle kooperativen Optionen zur Lösung der INF-Vertragskrise ausschöpfen sollten, anstatt den Vertrag außer Kraft zu setzen. Wenn sich die Präsidenten Trump und Putin auf dem bevorstehenden G-20-Gipfel in Argentinien treffen, sollten sie die INF-Bedenken der jeweils anderen Seite anerkennen und ihre Experten anweisen, eine Lösung zu finden, die die Vorwürfe der Vertragsverletzung ausräumen. Sie sollten sich einverstanden erklären, unverzüglich den ernstgemeinten und regelmäßigen Dialog über strategische Stabilität wieder aufzunehmen, und sich zu verpflichten, Gespräche über die Verlängerung des New-START-Vertrages um weitere fünf Jahre zu beginnen, wie im Artikel XIV des Vertrags vorgesehen ist.
Christoph Bertram, ehemaliger Direktor des Internationalen Instituts für Strategische Studien (IISS) und ehemaliger Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politk (SWP);
Thomas Countryman, Vorsitzender der Arms Control Association und ehemaliger US-Staatssekretär für Rüstungskontrolle und internationale Sicherheit;
Anatoli Diakov, Professor an der Moskauer Universität für Physik und Technologie und Senior Fellow am Zentrum für Internationale Sicherheit beim Primakov-Forschungsinstitut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen (IMEMO) der Russischen Akademie der Wissenschaften;
Victor Ezin, ehemaliger Stabschef und stellvertretender Oberbefehlshaber der russischen strategischen Raketenstreitkräfte;
Steve Fetter, Professor an der School of Public Policy, ehemaliger Direktor der Abteilung für nationale Sicherheit und internationale Angelegenheiten im Büro für Wissenschafts- und Technologiepolitik (OSTP) im Weißen Haus;
Erwin Häckel, Professor am Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik;
Catherine M. Kelleher, Senior Fellow am Watson Institute for International Studies an der Brown University und Professorin für Public Policy an der University of Maryland, College Park,, und ehemalige Verteidigungsberaterin der US-NATO- Mission, Deputy Assistant Secretary for Defense für Russland und die Ukraine sowie Eurasien;
Daryl Kimball, Exekutivdirektor der Arms Control Association;
Ulrich Kühn, stellvertretender Leiter der interdisziplinären Forschungsgruppe für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien (IFAR2), Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg und außerplanmäßiger Wissenschaftler am Programm für Nuklearpolitik beim Carnegie Endowment for International Peace;
Oliver Meier, stellvertretender Leiter der Forschungsabteilung Internationale Sicherheit am Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Berlin;
Eugene Miasnikov, unabhängiger Experte, Mitherausgeber der Zeitschrift Science and Global Security und Mitglied des Beirats des PIR-Zentrums;
Victor Mizin, Senior Research Fellow am Zentrum für Internationale Sicherheit, Primakov-Forschungsinstitut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen (IMEMO) der Russischen Akademie der Wissenschaften;
Götz Neuneck, Leiter der Interdisziplinären Forschungsgruppe für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Risikotechnologien (IFAR2) und stellvertretender Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg;
Sergey Oznobishchev, Abteilungsleiter am Zentrum für Internationale Sicherheit, Primakov-Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen (IMEMO), Russische Akademie der Wissenschaften, und Professor am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen;
Steven Pifer, William J. Perry Fellow an der Stanford University und externer Senior Fellow der Brookings Institution;
Sergey Rogov, Akademischer Direktor des Institute of USA and Canada. Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften;
Walter J. Schmid, ehemaliger deutscher Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Russland und ehemaliger Beauftragter der Bundesregierung für Rüstungskontrolle;
Andy Weber, Council on Strategic Risks, ehemaliger stellv. US-Assistant Secretary of Defense für nukleare, chemische und biologische Verteidigungsprogramme;
Andrei Zagorski, Direktor der Abteilung für Abrüstung und Konfliktregulierung, Nationales Forschungsinstitut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen (IMEMO) der Russischen Akademie der Wissenschaften
Wolfgang Zellner, Leiter des Zentrums für OSZE-Forschung und stellvertretender Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg.
[1] Über 40 Experten unterzeichneten die Stellungnahme “Urgent Steps to Avoid a New Nuclear Arms Race and Dangerous Miscalculation” vom 18 April 2018 Siehe: https://www.armscontrol.org/sites/default/files/files/documents/DCC_1804018_FINAL.pdf
Die Institutionen sind nur zu Identifikationszwecken aufgeführt. Die Unterzeichner vertreten nicht notwendigerweise die Ansicht der mit ihnen verbundenen Institutionen.“
Inoffizielle Übersetzung der Redaktion -wb-. Quelle des übersetzten Orginals:
http://deepcuts.org/files/pdf/Statement_of_the_Deep_Cuts_Commission_on_the_INF_Treaty_final.pdf
Weitere Arbeitspapiere und Informationen des Deep Cuts Projekts finden sich unter: http://deepcuts.org/