Das beschrieb Katrina vanden Heuvel mit ihrer Kolumne in der Washington Post unter dem Titel “Was führende Politiker im internationalen Krisenmanagement von Michail Gorbatschow lernen sollten…” :
“Was wir jetzt dringend brauchen, ist Neues Denken für das gesamte internationale Sicherheitskonzept,” schrieb Gorbatschow im vergangenen Jahr, kurz nach Beginn der weltweiten Pandid-19-Pandemie.” Anstatt wie üblich Sicherheit in militärischen Kategorien zu messen, “muss die menschliche Sicherheit das ausschlaggebende Ziel sein: Bereitstellung von Nahrungsmitteln, Wasser, Sicherung einer sauberen Umwelt sowie der Gesundheit der Menschen.”
Gorbatschow, der am 2. März seinen 90. Geburtstag feiert, war mit Sicherheit der radikalste Erneuerer des sicherheitspolitischen Denkens, der jemals eine große atomar bewaffnete Weltmacht geführt hat. Als sowjetischer Generalsekretär baute er in Generationen aufgebaute gefährliche Rüstung ab und demokratisierte die Sowjetunion, um dem Kalten Krieg ein Ende zu setzen – ein Kampf, der ihm 1990 den Friedensnobelpreis einbrachte.
Seit dem Ende seiner Amtszeit hat sich Gorbatschow weiterhin für die Erneuerung des Sicherheitsdenkens eingesetzt, und die jüngsten Entwicklungen haben seine Mahnungen bestätigt.
Angesichts der zunehmenden globalen Krisen sollten heutige Staats- und Regierungschefs drei zentrale Lehren von Gorbatschow befolgen, die er immer wieder hervorgehoben hat:
1.) “Militarisierung der Sicherheit macht uns nicht sicherer,”
sondern unsicherer, wie er als Chef der Sowjetunion selbst erlebte: Verschärfung der Unsicherheit durch Ausbau der militärischen Drohpotentiale auf beiden Seiten. Diese extrem teuren Investitionen lenken die Ressourcen ab von Investitionen in grundlegende Bedürfnisse wie Gesundheitsversorgung und Bildung, die die in Wirklichkeit die menschliche Sicherheit ausbauen können.
Gorbatschow war einer der engagiertesten Abrüster, die jemals die Atommächte geführt haben, und er war revolutionär, als er in den 1980er Jahren die vollständige Abschaffung der Atomwaffen forderte. Zum großen Teil durch seine Abrüstungsinitiativen war es waren bis 2015 gelungen, 85 Prozent der US-amerikanischen und russischen Atomarsenale aus der Zeit des Kalten Krieges stillzulegen.
Seine Vision der Entmilitarisierung wurde jedoch nicht verwirklicht, sondern wird zunehmend ganz in Frage gestellt. Wichtige Rüstungskontrollverträge sind abgelaufen oder wurden gekündigt, und einige Atomwaffenstaaten wie die Vereinigten Staaten, Russland und China modernisieren jetzt ihre Arsenale. Die Vereinigten Staaten planen beispielsweise, 600 neue landgestützte strategische Langstreckenraketen anzuschaffen, deren Sprengköpfe jeweils 20 Mal stärker sind als die Hiroshimabombe. Die Gesamtkosten sind mehr als 100 Milliarden US-Dollar, mit denen, wie Elisabeth Eaves vom Bulletin of the Atomic Scientists berechnete, „1,24 Millionen Gehältern für Grundschullehrer pro Jahr, 2,84 Millionen vierjährige Universitätsstipendien oder 3,3 Millionen Krankenhausaufenthalte für Covid-19 Patienten“ finanziert werden könnten. Wir gewinnen weitaus mehr für unsere Sicherheit, wenn wir in die Gesundheit und Entwicklung unserer Zivilisation anstatt in mehr als 600 neue Systeme für ihre Vernichtung zu investieren.
2.) Gemeinsame Sicherheit: “Sicherheit gibt es nur durch Zusammenarbeit — auch wenn sie unmöglich erscheint”!
Präsident Ronald Reagan nannte die Sowjetunion bekanntlich das “Reich des Bösen”. Diese Ausgangsposition würde auch heute viele in der Führungsposition von Gorbatschow davor abschrecken, überhaupt zu versuchen, einen Dialog zu eröffnen. Aber wie ich Gorbatschow im Laufe der Jahre sehr oft erklären hörte: “Wenn wir nicht das scheinbar Unmögliche versuchen, riskieren wir, dass wir uns dem Undenkbaren aussetzen.”
Also beharrte er und gab nie auf – und schließlich kamen Gorbatschow und Reagan zur Erkenntnis, dass niemand den Kalten Krieg gewinnen konnte. Wie Gorbatschow es ausdrückte: “Wir haben erst gewonnen, als der Kalte Krieg endete.” Dies unglaubliche Partnerschaft mit Reagan hatte die ganze Welt sicherer gemacht.
Natürlich ist diese Zusammenarbeit heute noch wichtiger, da das „Undenkbare“ nicht nur den Atomkrieg, sondern auch grenzenlose Krankheiten und eine Umweltkrise umfasst, die den ganzen Planeten bedrohen.
Der Wiedereintritt der Biden-Administration in die Weltgesundheitsorganisation und in das Pariser Klimaabkommen — und hoffentlich bald die Unterzeichnung des Atomabkommens mit dem Iran — sind wichtige Fortschritte.
3.) “Demokratische Institutionen erhalten und ausbauen!”
Schließlich erinnert Gorbatschow immer wieder daran, dass eine der wirksamsten Wege zur Wahrung der internationalen Sicherheit darin besteht, demokratische Institutionen zu erhalten und auszubauen. Gorbatschow zeigte, wie selbst Führer, die aus autoritären Systemen hervorgehen, wichtige Reformen durchsetzen können, die die Demokratie vorantreiben.
Seit er 1985 als KPdSU-Generalsekretär an die Macht kam, gewann Gorbatschow Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die die freiesten und fairsten Wahlen in der Geschichte Russlands waren. Seine entschiedene Glasnostpolitik – oder Politik der Offenheit – hatte sieben Jahrzehnte staatlicher Zensur zurückgedrängt. Er investierte auch in unabhängigen Journalismus und stellte einen Teil seines Nobelpreisgeldes an die Novaya Gazeta, das führende Pressseorgan der demokratischen Opposition des Landes zur Verfügung.
Aber auch hier bleibt Gorbatschows Vision auf tragische Weise unerfüllt. Die russischen Führungspersonen, die ihm folgten – auch Boris Jelzin, der 1993 Panzer einsetzte, um das in den freiesten Wahlen gewählte Parlament Russlands aufzulösen und zu zerstören, schaffte viele seiner Reformen wieder ab. Diese Entdemokratisierung setzte sich unter Wladimir Putin weiter fort, wie das Beispiel des Antikorruptionskritikers Alexei Navalny zeigt. Und in den letzten Jahren haben antidemokratische und autoritäre Praktiken in Ländern auf der ganzen Welt, einschließlich in den Vereinigten Staaten, zugenommen.
Es ist 30 Jahre her, seit Gorbatschow die Macht verlassen hat. Seine grundlegende Erkenntnis, dass echte Sicherheit besser durch Entmilitarisierung, Zusammenarbeit und Demokratisierung erreicht werden kann, gilt heute noch mehr, wenn die Bedrohungen für unsere Sicherheit mehr denn je auftreten. Das Verständnis dieser neuen Sicherheitsrealität ist kein Idealismus. Es ist Realismus.
Quelle: 23.02.2021 — (Washington Post, Katrina vanden Heuvel) — Here’s what leaders facing global crises can learn from Mikhail Gorbachev — deutsche Übersetzung für die Redaktion (W.Biermann) in Absprache mit der Autorin
Weitere Informationen:
- 2015-01-05.– (Project-Syndicate.org) — Mikhail Gorbachev: Droht eine Neuauflage des Kalten Krieges?
- 2021-03-02. – (The Nation, Archie Brown: “Künftige Generationen Russlands werden Gorbatschows historische Leistungen ehren”
- 2021-03-02. — (Berliner Zeitung) — Steinmeier: „In Deutschland unvergessen“ / Der letzte Staatschef der UdSSR wird 90. Er richtet mahnende Worte an den Westen.
- 2011-02-26. – (WP, Katrina vanden Heuvel) – Gorbatschow wird 80 / Katrina vanden Heuvel: Gorbachev at 80
- 2018-12-04. – (WP, Michail Gorbatschow und George Schultz) – Die Abschaffung des INF-Vertrages bedroht unsere eigene Existenz / Mikhail Gorbachev and George P. Shultz: We participated in INF negotiations. Abandoning it threatens our very existence.
- 2021-02-08. – (WP, Max Boot) – Der Tod von George Schultz erinnert uns daran, dass die Grand Old Party der Republikaner nicht immer verrückt war – Max Boot: George Shultz’s death reminds us that the GOP hasn’t always been this crazy
- 2021-02-15. – (WP, Katrina vanden Heuvel) – Wie die Republikaner im Senat zur Verantwortung ziehen / Katrina vanden Heuvel – How to hold Senate Republicans accountable