Thorbjørn Jagland ist norwegischer Sozialdemokrat, war 1996/1997 Ministerpräsident, 2000/2001 Außenminister Norwegens, 2009 bis 2019 war er Generalsekretär des Europarates. Er begrüßt die Waffenstillstandsinitiative der USA und hat dazu – anhand seiner Erfahrungen zur Vorgeschichte des «Normandie-Formats» und des Minsk-II-Abkommens – einen Kommentar veröffentlicht, der auch uns in Deutschland zur Nachdenklichkeit anregen sollte: Jaglands Schlussfolgerung aus den Versäumnissen der europäischen Außenpolitik: “Hätte man rechtzeitig Friedensverhandlungen geführt, hätte all das vermieden werden können.”
Im folgenden der Wortlaut des Kommentars von Thorbjørn Jagland, für die Redaktion von Wolfgang Biermann aus dem Norwegischen übertragen:
“ALLE FREUEN SICH” meldet Aftenposten heute über den Vorschlag eines Waffenstillstands in der Ukraine.
Ich freue mich auch. Aber die meisten derjenigen, die sich heute freuen, waren zu Beginn des Krieges vor drei Jahren der Meinung, dass „er gewonnen werden müsse“. Mehrere Experten glaubten, dass dies im ersten Jahr möglich sei. Sie sind immer noch „Experten“.
Ein Waffenstillstand entlang der heutigen Frontlinie würde bedeuten, dass Russland fast 20 Prozent des ukrainischen Territoriums erobert hat.
Ich schrieb in meinen Memoiren „Zehn Jahre für Europa“, dass die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass wir in Europa eine weitere „eingefrorene Konfliktzone“ entlang einer vereinbarten „Linie der Kontrolle“ bekommen.
Davon gibt es bereits viele – zum Beispiel in Korea, wo sie seit 70 Jahren besteht. Der Unterschied ist, dass die in der Ukraine 1.000 Kilometer lang wäre.
Als in Korea ein Waffenstillstand vereinbart wurde, stellten die Amerikaner 260.000 Soldaten. In der Ukraine – keinen einzigen.
Hätte man rechtzeitig Friedensverhandlungen geführt, hätte all das vermieden werden können. Das Minsker Abkommen II von 2015 bot eine solche Gelegenheit. Heute wird behauptet, dass dieses Abkommen von den Staatschefs Frankreichs und Deutschlands nur akzeptiert wurde, um Zeit zu gewinnen, die Ukraine aufzurüsten und sie später einem Angriff standhalten zu lassen – eine Argumentation, die Stalin nachträglich auch über den Molotow-Ribbentrop-Pakt verwendete.
Die Fakten zum Minsker Abkommen sind jedenfalls folgende:
Als sich die Staatschefs aller alliierten Mächte des Zweiten Weltkriegs sowie der Führer des Verlierers Deutschland zum 70. Jahrestag der Landung vor 70 Jahren in der Normandie trafen, um die zu feiern, waren sie sich – 2014 – einig, dass über die Ukraine verhandelt werden müsse, wo damals bereits Kriegshandlungen stattfanden. Dies sollte im sogenannten Normandie-Format geschehen, das vorsah, dass die Staatschefs Frankreichs, Deutschlands, Russlands und der Ukraine in Minsk zusammenkamen. Großbritannien und die USA blieben entweder außen vor, weil sie nicht teilnehmen wollten, oder sie wurden ausgeschlossen. Das war merkwürdig, denn diese beiden Länder waren Garantiemächte des Budapester Memorandums, das die Grundlage für die Abspaltung der Ukraine vom neuen Russland bildete.
Das Minsker Abkommen hatte elf Punkte. Einer davon war, dass die Ukraine dezentralisiert werden sollte – möglicherweise in eine Föderation nach dem Vorbild von Deutschland, Österreich oder Spanien. Dies hätte bedeutet, dass die östlichen Provinzen Teil der Ukraine geblieben wären.
Doch dafür wären Verfassungsänderungen nötig gewesen, die im ukrainischen Parlament nie eine Mehrheit fanden. Stattdessen wurde in die Verfassung aufgenommen, dass die Ukraine NATO-Mitglied werden solle. Russland unternahm seinerseits ebenfalls nichts, um die Umsetzung von Minsk II zu ermöglichen.
Minsk II wurde sogar vom UN-Sicherheitsrat als Resolution angenommen – die höchste Autorität, die nach internationalem Recht erreicht werden kann. Eine Steuerungsgruppe wurde zur Umsetzung des Abkommens eingerichtet. Der Deutsche Wolfgang Ischinger wurde ihr Vorsitzender. Später leitete er die Münchner Sicherheitskonferenz – ein Beweis dafür, dass Deutschland hier keinen Leichtgewichtspolitiker einsetzte.
Da der Europarat, den ich leitete, sowohl Russland als auch die Ukraine als Mitglieder hatte, stand mir die Expertise der besten Juristen zur Verfügung. Die Deutschen und Franzosen fragten uns informell um Rat. Wir entsandten sogar einen eigenen Juristen ins ukrainische Parlament, um Reformen zu beraten.
Wenn alles, was damals geschah, nur eine „Täuschung“ gewesen sein soll, wie es die heutige Propaganda behauptet, übersteigt das meine Vorstellungskraft. Viele haben ein Bedürfnis, die Geschichte zu „schminken“.
Ich nehme dies als Beispiel dafür, dass wir eine Tragödie bekommen, wenn die Chance auf Verhandlungen und Kompromisse verspielt oder untergraben wird.
Leider steht Russland vor einer Tragödie, weil es einen Krieg begonnen hat, der vermeidbar gewesen wäre. Stattdessen besetzt es nun ein widerwilliges Volk und wird von seinen Nachbarn noch stärker abgelehnt werden.
Europa bekommt eine neue eingefrorene Konfliktzone und muss eine militärische Aufrüstung finanzieren, die es sich nicht leisten kann. Es gibt nur einen Gewinner: China.
Die Führer Russlands, Europas und der USA haben viel zu verantworten – für diese schreckliche Tragödie. Dafür, dass sie begonnen wurde oder dass man sie geschehen ließ.
Zur Person Thorbjørn Jagland weitere Info: Thorbjørn Jagland – Wikipedia und Biography – Secretary General – The Council of Europe