Am 03. Dezember 2024 veröffentlichte der Guardian folgenden Leitartikel über die Folgen der Kündigung des INF Vertrages zum Verbot von Mittelstreckenraketen unter dem Titel “Der Raketenwettlauf in Europa treibt uns in eine höchst gefährliche Eskalation!“. Im folgenden – von der Redaktion ins Deutsche übertragene – Auszüge aus dem Leitartikel mit seinen zahlreichen Hintergrundinformationen:
Der INF-Vertrag hatte Atomraketen vom europäischem Boden ferngehalten und war eine Bremse gegen eine gefährliche Aufrüstung. Jetzt ist der INF-Vertrag weg…. Vor fünf Jahren hat die Zerstörung dieses bahnbrechenden Rüstungskontrollvertrags aus der Zeit des Kalten Krieges die Büchse der Pandora geöffnet und Furien in Form von Raketen entfesselt, die nun die Ukraine heimgesucht haben.
Der Vertrag über das Verbot von Mittelstreckenraketen (INF) mit Reichweiten zwischen 500 und 5.500 km von 1987 endete, als die USA 2019 aus dem Vertrag ausstiegen mit Hinweis auf russische Vertragsverletzungen aus dem Jahre 2014.
Zwar entsprach der Ausstieg aus dem INF-Vertrag durchaus der grundsätzlichen Ablehnung von Rüstungskontrolle durch die erste Trump-Administration, doch es wäre klüger gewesen, weiterhin Druck auf Putin auszuüben, dass er den Vertrag einhält1. Beispielsweise sind die Streitkräfte Kiews Ziele für den Beschuss durch die Hyperschallrakete Oreshnik und die ballistische Rakete Iskander2 – die nach den Bestimmungen des dem INF-Vertrags verboten gewesen wären.
Beide Raketentypen können konventionelle wie auch nukleare Atomsprengköpfe tragen. Diese Waffen signalisieren eine beunruhigende Rückkehr zum Schlagabtausch im Stil des Kalten Krieges, bei dem die Großmächte ihre militärischen Fähigkeiten ausbauen.
Die Stationierung solcher Raketen verdeutlicht die Gefahren durch Abschaffung der Rüstungskontrolle: Der INF-Vertrag über das Verbot bodengestützter ballistischer Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 Kilometern hatte die Möglichkeit einer nuklearen Eskalation in Europa verhindert. Das Auslaufendes INF-Vertrages, so warnte die UNO, habe „eine unschätzbare Bremse gegen einen Atomkrieg“ zerstört.
Lehren aus der Geschichte ziehen
1983 hatten die US-Pläne, derartige Raketen in Europa – darunter auch in Großbritannien – zu stationieren, Massenproteste ausgelöst.
In jenem Jahr erreichten die Spannungen zwischen USA und UdSSR ihren Höhepunkt nicht wegen der Proteste, sondern während der „Able Archer“-Übung (mit der Simulation Nuklearer Einsätze), die von Moskau als Vorbereitung auf einen Atomkrieg missverstanden wurde.
Alarmiert von den Berichten der Geheimdienste über Diskussionen in der sowjetischen Führung über die Vorbereitung eines möglichen Gegenschlag gegen die angenommenen Angriffsvorbereitungen der USA und der NATO war Ronald Reagan äußerst besorgt und motivierte ihn zu den Verhandlungen, die 1987 zum INF-Vertrag und zu weiteren umfassenden Abrüstungsschritten führten.
Anders als Reagan hat der designierte US-Präsident Trump kein Interesse an einer derartigen Staatskunst. Putin, unsicherer als seine sowjetischen Vorgänger, befürwortet eine Politik der Konfrontation und senkte kürzlich Russlands Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen. Unter Barack Obama kam die Rüstungskontrolle voran, als er gemeinsam mit dem damaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew den New-START-Vertrag zur Begrenzung der stationierten strategischen Atomsprengköpfe. Doch Putins Rückkehr an die Macht im Jahr 2012 fror die Fortschritte bei Verhandlungen über ein Folgeabkommen ein.
Ein Grund für die Gleichgültigkeit der USA gegenüber der Aufrechterhaltung des INF-Vertrags war, dass er nur bilateral und nicht für China galt, das Mittelstreckenraketen entwickelt hatte. Dies könnte auch erklären, warum die Biden-Regierung Trumps Ansatz beibehielt und erheblich in neue Atomwaffen investierte.
Für Europa kündigten die USA außerdem Pläne an, ab 2026 Langstreckenwaffen in Deutschland zu stationieren, woraufhin die kontinentalen Mächte begannen Pläne für „Deep-Fire“-Fähigkeiten zu diskutieren.
Das drohende Ende des New-Start-Vertrags im Jahr 2026 erfordert eine dringende Zusammenarbeit zwischen Moskau und Washington, um ein Wettrüsten zu verhindern. Trotz des offensichtlichen guten Verhältnisses des designierten US-Präsidenten zu Putin stellt sein tief verwurzeltes Misstrauen erhebliche Hindernisse für neue Rüstungskontrollgespräche dar.
Um die Fehler der Geschichte nicht zu wiederholen, sollten die westlichen Staats- und Regierungschefs den Verhandlungen mit Russland und China Priorität einräumen. Der Ausbau von Atomwaffen ist eine existenzielle Bedrohung von beispiellosem Ausmaß.
Quelle: 2024-12-01.– The Guardian, Editorial — The Guardian view on a race for missile supremacy: competition fuels a dangerous escalation – Auszüge, von der Redaktion (W. Biermann) ins Deutsche übertragen .